- Kapitel Zwei -

Sir, ich möchte ungern zur Eile antreiben, doch in zwei Stunden spätestens sollten wir in Heathrow sein, damit wir anschließend nicht in unnötige Hektik verfallen müssen.«

»Danke, Jason.« Darian nickte knapp und steckte den Ordner in eine lederne Mappe. »Ist alles im Wagen verstaut?«

Er hatte sich mittlerweile auch umgezogen. Anstelle der kurzen Shorts trug er eine Jeans und hatte ein kurzärmeliges, grünweiß kariertes Hemd offen über das weiße T-Shirt gezogen. Die schulterlangen, blonden Haare hatte er wie gewöhnlich zu einem Zopf gebunden, wobei einige Strähnen seitlich regelmäßig herausrutschten, die er dann hinter die Ohren schob.

Jason war wie stets akkurat mit schwarzem Anzug und weißen Handschuhen bekleidet. Sein silbergraues Haar lag tadellos frisiert an seinem Kopf, und nicht der leiseste Bartschatten war auf seinem Gesicht zu erkennen. »Jawohl, Sir. Wobei ich Ihnen mitteilen möchte, dass meine Frau darum bittet, hierbleiben zu dürfen.«

»Warum das?«, fragte ich erstaunt und blickte von der Schriftrolle auf, die ich zurück in die Schutzhülle schob.

»Sie hat extreme Flugangst, Miss McNamara.«

»Oh.« Mein Blick suchte Darians, er lächelte Jason verstehend an. »Schon gut, Jason. Eileen kann bleiben oder mit dem Schiff nachkommen, wenn ihr das angenehmer ist.«

»Ich werde ihr das Angebot einer Schiffsreise gern unterbreiten«, antwortete Jason mit sichtlicher Erleichterung und verließ mit festen Schritten die Bibliothek.

Nachdenklich blickte ich ihm nach. Und wenn Eileen nicht schwimmen kann? Dann zuckte ich mit den Schultern und verschloss die Hülle. »Thalion hat übrigens abgelehnt und wird das Haus während unserer Abwesenheit beaufsichtigen«, ließ ich wie nebenbei fallen.

»Ich ging davon aus, dass er das tun möchte«, erwiderte Darian ruhig, legte die Mappe beiseite und trat auf mich zu. »Ich hätte dir sagen können, dass Thalion uns nicht begleiten wird. Er hat diesen Ort seit vielen Jahren nicht mehr freiwillig verlassen.«

»Etwas Ähnliches hat er auch gesagt. Meinst du, eine solche Bewachung wird nötig sein?«

Für einen Augenblick wirkte er nachdenklich, dann überspielte er es mit einem Lachen und gab mir einen Kuss. »Mach dir deswegen keine Gedanken, Liebes. Hier wird nichts Unerwartetes geschehen.«

Vor Monaten noch hätte diese Aussage mich geängstigt, inzwischen aber kannte ich Darian und seine vampirischen Fähigkeiten gut genug, um zu ahnen, was sein kurzes Zögern zu bedeuten hatte. »Wen hast du gerade kontaktiert, um das Unerwartete gegebenenfalls abzuwenden, Schatz?«

Sein Lachen war herzlich, und der Blick seiner graublauen Augen wärmte meine Seele, als er sich zu mir beugte und flüsterte: »Gibt es irgendetwas, was diese wunderschöne Frau an meiner Seite nicht mitbekommt?«

»Nur noch sehr wenig«, gab ich ebenso leise zurück und erhielt einen weiteren Kuss. Mir war danach, mich in seine Arme zu schmiegen, doch ließ sein herumirrender Blick erahnen, dass er mit dem Zusammenpacken noch nicht ganz fertig war.

»Was fehlt denn noch?«

»Das hier«, sagte er, als er bereits einen Mechanismus an der Bücherwand betätigte, von dessen Existenz ich keinerlei Ahnung gehabt hatte. Ein schmaler Teil des bis zur Decke reichenden Regals schwang beiseite, und ich pfiff anerkennend, als sich dahinter eine schmale Einkerbung offenbarte. Darian griff hinein und holte einen in Öltücher eingeschlagenen, langen Gegenstand hervor. Das alte japanische Schwert. Hier also hatte er es versteckt.

»Du nimmst es mit?«

»Selbstverständlich.«

»Und der Zoll?«, erinnerte ich ihn unnötigerweise an die Einreisebestimmungen. »Wie willst du ein so auffälliges Schwert durch die Kontrollen bekommen?«

»Darüber mach dir keine Gedanken. Wer sagt denn, dass sie mich kontrollieren werden?«

Nun wurden meine Augen kugelrund. »Hast du einen Diplomatenpass?«

»Falls der schwedische Diplomatenausweis eines Eric Lindström von 1928 noch gültig ist, dann schon.« Darian zwinkerte mir zu. »Sei unbesorgt, ich habe Mittel und Wege, gewisse Unannehmlichkeiten zu umgehen.«

Ich nickte nur. Mit einer solchen Antwort hatte ich gerechnet. Dennoch war mir nicht klar, wie er es fertig bringen wollte, vollkommen unsichtbar einen ganzen Atlantikflug hinter sich zu bringen, der mehrere Stunden dauern würde. Ich wusste, dass er sich so verhüllen konnte, dass kein normales menschliches Auge ihn bemerkte. Aber über Stunden? In einer vielleicht sogar vollbesetzten Linienmaschine? Stehend? Oder in der Gepäckabteilung?

»Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie sehr du dein hübsches Köpfchen wegen meiner Angelegenheiten bemühst«, vernahm ich Darians amüsierte Stimme und fühlte, wie er seinen Arm um meine Taille legte. Sachte drehte er mich zu sich herum, blickte auf mich herab und fuhr mir mit einem Finger sanft über die gefurchte Stirn, um meine Denkfalten zu glätten. »Sei versichert, mein Augenstern, dass ich dich nicht eine Sekunde aus den Augen lassen werde.«

Ich erschauderte leicht unter seinem Blick und rang mir ein leicht zittriges Lächeln ab. »Versprechen oder Drohung?«

Er erwiderte mein Lächeln, doch war es keineswegs so zärtlich gemeint, wie ein Außenstehender es vermutlich empfunden hätte. Nur ich sah das leichte Aufblitzen seiner scharfen Reißzähne und das zeitgleiche Flackern seiner Augen, als er sagte: »Beides, Liebes.«

Natürlich hatte ich mit dieser Antwort gerechnet, hatte er sie mir doch in einer ähnlichen Situation schon einmal gegeben. Eigentlich hätte ich mir die Frage auch verkneifen können – wäre da nicht die innere Hoffnung, dass sich etwas geändert haben könnte.

Ich war mir nicht sicher, ob mir diese Aussichten wirklich gefielen. Allein der Gedanke, nicht einmal ungestört eine geflieste Abteilung frequentieren zu können, war wenig erquickend. Ich hörte ihn leise lachen und legte den Kopf schief, sah ihn zweifelnd an. »Lässt die Wirkung der Dattel etwa nach?«

»Die Wirkung dieser hier nicht«, meinte er mit amüsiertem Unterton und hielt sie in ausgestreckter Hand unter meine Nase. Ein leichtes Lächeln zuckte um seine Mundwinkel und wurde wegen meiner finsteren Miene noch eine Spur breiter. Jetzt erst ging mir auf, dass auch Thalion in aller Ruhe meine Gedanken hatte lesen können. Diese Art der Gesprächsführung war mir inzwischen dermaßen vertraut, dass ich kaum mehr darüber nachdachte. Doch mir wurde bewusst, dass es so normalerweise gar nicht hätte funktionieren dürfen.

Ich spürte, wie es sehr langsam in mir hochkochte. Da beugte Darian sich zu mir herunter, küsste mich und legte mir die richtige Dattel in die Hand. »Entschuldige, ich konnte nicht anders.«

Verärgert starrte ich auf das Trockenobst. »Du Lump hast die Dattel ausgetauscht?«

»Vor längerem schon, ja.« Er sah meinem Ärger gelassen entgegen und lächelte besänftigend. »In diesem Haus, Faye, und im Besonderen bei mir, ist dieser Schutz unnötig. Du hast sie getragen, weil du dein Geheimnis vor mir bewahren wolltest. Ein Geheimnis, das mich genauso betrifft wie dich und das ich längst kenne. Ich wollte dir die Chance einräumen, es mir zu erzählen, habe jeden Tag darauf gewartet und jeden Tag deinen inneren Zwist erlebt. Und ich habe mich immer wieder gefragt, warum du mir nicht vertraust.«

Mein Ärger war wie eine Seifenblase zerplatzt und tiefer Verlegenheit gewichen. Ich blickte zu Boden und kämpfte mit den Tränen, die langsam in mir aufstiegen. Schließlich brachte ich heraus: »Ich war zu feige, Darian.«

»Ich weiß.«

»Trotzdem ist es ziemlich unfair, dass du die Dattel ausgetauscht hast«, begehrte ich auf, verletzt und zudem etwas eingeschnappt.

Sichtlich erstaunt wanderte eine Braue in die Höhe. »Du misstraust mir und vertraust gleichzeitig darauf, dass ich dir vertraue?«

Na toll, so betrachtet war das ein Widerspruch in sich. Abermals senkte ich ertappt den Kopf. Nicht sehr geschickt von dir, Faye!

»Fürwahr nicht«, sagte er leise, legte einen Finger unter mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen. »Frieden?«

»Waffenstillstand«, gab ich mürrisch zurück und erntete ein leises Lachen. Ihm war klar, dass ich mir eine geeignete Retourkutsche überlegen würde.

»Hast du alles gepackt, was du mitnehmen möchtest?«, wechselte Darian das Thema und brachte mich zurück zu unserem Anliegen. So nickte ich.

Da ich es mir in meiner Zeit als freie Fotografin angewöhnt hatte, nur mit kleinem Gepäck zu reisen, falls es mich in den Dschungel oder ein Kriegsgebiet verschlagen würde, hatte ich auch heute lediglich eine Sporttasche voll mit dem Nötigsten an Unterwäsche, Ober- und Unterbekleidung, einer Kombination für elegantere Anlässe sowie festem Schuhwerk gepackt. Einzig und allein mein geliebter hellgrauer Jogginganzug nebst Laufschuhen durfte nicht fehlen. Wobei ich mir inzwischen ernsthaft die Frage stellte, wie lange ich ihn noch nutzen konnte und ab wann ich mich, einer dicken Murmel gleich, darin einrollen und der Unbeweglichkeit frönen würde. Allein der Gedanke daran verursachte mir Sodbrennen.

»Woran denkst du?«, vernahm ich Darians Frage.

Erstaunt zog ich eine Braue hoch. »Warum fragst du, wenn du Gedanken lesen kannst?«

»Dass ich es kann, Liebes, ist nicht gleichbedeutend damit, dass ich es ständig tue. Es sei denn, du drängst es regelrecht auf, indem du ...«

»... schreist. Schon klar«, schnitt ich ihm abwinkend das Wort ab. »Ich habe gerade überlegt, ab wann unser Untermieter so viel Platz einnehmen wird, dass ich mich kaum mehr bewegen kann. Inzwischen kneifen die Hosen doch schon etwas.«

Für einen Augenblick wirkte Darian irritiert, dann aber strahlte er über das ganze Gesicht und legte eine Hand sanft auf meinen Bauch. »Dieses kleine Wunder wird dir genug Spielraum lassen, dass du es jederzeit vom Bett zum Kühlschrank und wieder zurück schaffen wirst.«

»Sehr umsichtig«, brummte ich missmutig und musste dennoch lachen. »Du bist unmöglich, weißt du das?«

»Weil ich dir deinen schlimmsten Albtraum aufzeige?«

»Weil du mir bestätigst, dass ich kugelrund sein werde.«

»Was durchaus natürlich ist und dich nicht weniger liebenswert macht«, erwiderte er ungerührt und schob mich mit einem Klaps zur Tür. »Und nun beweg dich, bevor wir unseren Flug verpassen und du tatsächlich nicht mehr vorankommst, weil du auf wundersame Weise aus dem Leim gegangen bist.«

Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr! Grimmig verließ ich die Bibliothek. Sein amüsiertes Lachen folgte mir in den Gang hinaus.

Wer kennt nicht das Gefühl von Wehmut, das einen beim Rückblick auf einen Lebensabschnitt befällt, egal wie kurz dieser auch gewesen sein mag? Da zieht sich das Herz ein wenig zusammen, der Mund wird trocken, und die Augen im Gegenzug leicht feucht.

Zeitgleich rauschen Erinnerungen durch den Sinn, die man fast schon vergessen geglaubt hat.

So genau erging es mir, als ich aus dem Fenster des Bentley blickte und einen letzten Blick die Allee entlang auf das stattliche, alte Herrenhaus erhaschte, in dem ich die letzten Monate verbracht hatte und das mir wie eine uneinnehmbare Festung erschienen war. Nur noch kurz sah ich Eileen uns von der obersten Stufe der Steintreppe aus nachwinken, dann bog der Wagen in das Waldstück ein, das das ganze Anwesen umgab, und das Haus verschwand hinter den Bäumen.

Als ich das erste Mal meinen Fuß auf diesen Boden gesetzt hatte, war es Frühling gewesen. Die Natur hatte gerade erst ihr neues Kleid angelegt, frische Farben aufgetragen und sich mit allerlei Blumen, Blüten und Knospen geschmückt. Der Geruch der Erneuerung hatte in der Luft gelegen. Nun hatten sich die ersten Blätter verfärbt, und aus dem hellen und satten Grün war abermals eine Farbenpracht entstanden, die ich erst jetzt richtig wahrnahm. Somit auch die Zeit, die verstrichen war.

So viel hatte sich verändert, nicht nur die Natur. Auch ich war nicht mehr dieselbe. War ich anfangs nur auf meinen Job fixiert gewesen und recht blind durch das Weltgeschehen gestolpert, wurden mir dann die Augen auf eine Weise geöffnet, die ich nie für möglich gehalten hätte. Für die Vorstellung, es gäbe Vampire, hätte ich vor Monaten nur ein müdes Lächeln übrig gehabt. Ich hatte sie für Hirngespinste und übersteigerte Fantasien gehalten und ihre Existenz vehement abgestritten. Dann durfte ich feststellen, dass mein Vater sich in dieser für mich anfangs irrealen Welt so natürlich bewegte wie jemand, der in einer Snack-Bar einen Hot Dog mit Cola kauft. Ich hatte eine Einführung in diese Welt bekommen, die an ein militärisches Ausbildungslager erinnerte, hatte mich mit Wesen jener Schattenwelt angelegt und gut Federn lassen müssen – und ich hatte es überlebt.

Inzwischen saß ich zusammen mit meinem Dad und einem durch und durch britischen Butler, dessen trockene Art selbst das Amazonasgebiet in eine Wüste verwandeln könnte, neben zweien von diesen Hirngespinsten in einem Bentley mit abgedunkelten Scheiben. Ich liebte eines von ihnen so sehr, dass ich mein Leben für es riskieren würde, und trug zudem unser gemeinsames Kind unter meinem Herzen. Und ganz nebenbei fuhr ich einer Zukunft entgegen, von der ich ahnte, dass sie mich vermutlich mit mehr Übernatürlichkeiten konfrontieren würde, als ich mir derzeit ausmalen konnte. Doch inzwischen bewegte ich mich in dieser für viele Menschen surrealen Welt mit absoluter Selbstverständlichkeit und war gerade auf dem Weg, meinen in diese schrägen Geschehnisse irgendwie verwickelten Bruder zu retten, als wollte ich nun ebenfalls einen Hot Dog mit Cola bestellen. Und das im Big Apple.

Ich war mir nicht sicher, ob ich mich auf das Zusammentreffen mit meinem Bruder freuen oder es fürchten sollte. Dad zumindest schien nichts eiliger zu haben, als nach New York zu kommen. Obwohl er vor mir saß und schweigend Darians rasanten Fahrstil über sich ergehen ließ, was an ein Wunder grenzte, ließ der Blick auf seinen Hinterkopf erahnen, unter welcher Spannung er stand. Auch ich kam nicht umhin, meinen aufsteigenden Sorgen Beachtung zu schenken.

Es lag erst wenige Monate zurück, dass wir meine Schwester Julie durch einen Vampir verloren hatten. Er hatte sie verwandelt, und uns war nichts anderes übrig geblieben als das, was aus Julie geworden war, zu vernichten. Später hatte ich erfahren, dass Dads erste Frau auf die gleiche Weise ums Leben gekommen war und er uns vor dieser Wahrheit hatte schützen wollen, indem er vorgab, sie hätte ihn verlassen und wäre irgendwann verstorben. Ich trug ihm diese Lüge nicht nach, denn vermutlich hätte ich ebenso gehandelt. So war es nur die logische Konsequenz, dass wir Julies Ableben verschleierten und mit einem fiktiven Autounfall kaschierten, damit ihre plötzliche Abwesenheit keinerlei weitere Fragen aufwarf. Inzwischen waren die Akten geschlossen worden, da sich natürlich kein Schuldiger hatte finden lassen.

Dad sprach nicht weiter über Julies Tod, und auch ich mied das Thema. Wir waren stillschweigend übereingekommen, ihn als gegeben hinzunehmen und nicht weiter in dieser Wunde zu stochern, zumal wir ihn nicht hatten verhindern können. Vielleicht wäre es gelungen, wenn ich zu dem Zeitpunkt schon den Wissensstand von heute gehabt hätte. Doch die Zeit ließ sich nicht anhalten oder zurückdrehen. Julie würde nicht zurückkommen. Sie war tot. Und nun hatte ich meinen Bruder gesehen. Er hatte etwas mit diesem unschönen Kapitel unserer Familiengeschichte zu tun. Wenn wir schon nicht die Toten zurückholen konnten, dann sollten wir zumindest die Lebenden schützen.

Mein Blick blieb an Darians Hinterkopf hängen. Noch immer war er mir in vielen Dingen ein Rätsel, obwohl ich inzwischen eine Menge von ihm wusste. Fest stand, dass er sehr alt war, aber wie ein Mittdreißiger wirkte, da er zum Zeitpunkt seiner Verwandlung in diesem Alter gewesen war. Wie alt er tatsächlich war, hatte ich bislang nicht in Erfahrung bringen können. Darian schwieg sich dazu aus. Doch hatte ich erfahren, dass er zur Zeit der Kreuzzüge einigen katholischen Priestern ins Netz gegangen war, die an ihm eine Art Teufelsaustreibung hatten vornehmen wollen, was irgendwie in die Hose gegangen war. Die Austreibung war nur zur Hälfte vollzogen worden, was zwar die lichte Seite seines Ichs zurückbrachte, die dunkle Seite jedoch nicht vernichtete. Soweit ich später herausgefunden hatte, war die »himmlische Fügung« daran nicht ganz unbeteiligt gewesen. Letzten Endes hatten die erwähnten Priester ein sonnenresistentes Wesen der Nacht mit einem Gewissen erschaffen. So ganz und gar nicht das, was sie bezweckt hatten. Diese Erkenntnis hatten sie mit ihrem Leben bezahlt. In dieser Zeit war Darian auf Thalion gestoßen, hatte viel von ihm gelernt und war zu einem Wesen geworden, dessen Vorstellungen von Moral und Anstand viel strikter waren als die der meisten Menschen. Dennoch besaß er weiterhin alle Fähigkeiten eines Vampirs seines Clans sowie jene, die er in all den Jahren seiner Existenz bereits absorbiert hatte. Er trug die Stärken beider Seiten in sich, hatte jedoch keine der Schwächen übernommen. Das ließ ihn einzigartig und gleichzeitig sehr kostbar für die helle als auch die dunkle Seite werden.

Darian beschützte mich, ließ mir inzwischen jedoch genug Freiraum, auch für mich zu sein. Obwohl ich mir gut vorstellen konnte, dass er sehr wohl ein permanentes Auge auf mich hatte, allein schon der Schwangerschaft wegen. Meine Hand fuhr unwillkürlich über meinen Unterbauch. Hormonelle Schwankungen bewirkten, dass ich oftmals etwas gereizt war. Und auch hier ging der Punkt an Darian. Er ertrug meine Launen mit stoischer Ruhe. Überhaupt schien er sehr selten die Fassung zu verlieren. Eigentlich hatte ich in unserer gemeinsamen Zeit erst einmal erlebt, dass seine Fassade brüchig geworden war. Damals hatte er entdeckt, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Er hatte regelrecht geschockt gewirkt, sich aber schnell wieder gefangen und war zu mir auf Distanz gegangen.

Verstohlen lächelte ich in mich hinein, als ich mich daran erinnerte, wie und auf welche Weise ich um seine Liebe gekämpft und am Ende gewonnen hatte. Dennoch wirkte er ab und an leicht erstaunt, dass ich ein solches Gefühl für ihn entwickelt hatte, obwohl ich grob wusste, was er einmal gewesen war und was davon noch in ihm schlummerte. Ja, manchmal fühlte ich die Bestie seiner Vergangenheit in ihm toben, kratzte sie an der Oberfläche seines Seins und verlangte ihre Freiheit und Entfesselung, ließ den reinen Vampir in ihm in seinem ganzen Ausmaß erahnen. Ich wusste, dass Darian sie in Schach hielt, auch wenn es Momente gab, in denen es ihm Mühe bereitete. Selbst diese wenigen Momente reichten vollkommen aus, um zu erahnen, was da in ihm wütete. Und sollte es eines Tages doch hervorbrechen, hoffte ich, dass es nicht mich treffen und ich sehr weit fort sein würde.

Nachdenklich sah ich aus dem Fenster. Die Landschaft flog einem verwischten Ölbild gleich an mir vorbei. Für wenige Augenblicke konnte ich einen Baum, einen Strauch fokussieren, bis dieser meinem Blick wieder entschwand. Dann sah ich Jasons Gesicht im Spiegel der Scheibe. Ich wusste, dass Jason sich sehr ungern von seiner Frau Eileen trennte, die für das komplette Haus und das leibliche Wohl aller dort lebenden Personen – einschließlich derer, die nicht mehr lebten – verantwortlich war. Da ich jedoch Jasons Geschichte kannte – Darian hatte ihn als Baby in einer Gasse gefunden, neben sich die ermordete Mutter, hatte ihn mitgenommen und aufgezogen – war mir klar, dass Jason Darian stets begleiten würde, wohin auch immer. Und ich hoffte inständig für Jason, dass Eileen mit dem Schiff nachkommen würde, denn wer diese beiden Menschen miteinander gesehen hatte, dem war offensichtlich, dass sie zusammengehörten. Auch wenn ich mir Jason mit seiner Frau turtelnd so gar nicht vorstellen konnte.

Der letzte im Bunde war Steven, ein jüngerer Vampir, der vermutlich hauptsächlich aufgrund seiner Clansloyalität zu Darian lieber in einen sauren Apfel statt in die nächstbesten Lebenden biss. Steven Montgomery hatte keinerlei Skrupel, einen Menschen oder anderen Vampir zu töten, wenn dieser ihm und seinen Interessen im Weg stand. In ihm offenbarte sich die ursprüngliche Natur eines Vampirs – die perfekte Tötungsmaschine ohne Gewissen und Moral. Und doch bezwang er diesen Drang in sich, unterwarf sich Darians auferlegten Regeln und mäßigte seine Mordlust auf ein Minimum. Nur manchmal brach es hervor, konnte Steven sich nicht ganz beherrschen. So war es bereits vorgekommen, dass er sich gelegentlich verschluckte, wenn sich sein Happen als zu groß erwies. Ich würde ihn daher als durchaus verfressen bezeichnen.

Ich schaute an Jason vorbei zu ihm hinüber. Steven sah ebenfalls aus dem Fenster, und ich konnte seine ansteigenden Sorgen bezüglich des langsam anbrechenden Tages fast spüren. Wir hatten einander an dem Abend aufgegabelt, als Darian und mir eine Falle gestellt werden sollte. Darian war von mir fortgelockt worden, und Steven hatte mich im Auftrag des verfeindeten Clans gefangen nehmen sollen. Letztlich war es genau umgekehrt gelaufen. Stevens Mitgliedschaft in unserer recht illustren Truppe war eine logische Konsequenz, da er aufgrund seines Versagens auf der Todesliste einiger Clans gelandet war und es sich in einer Gemeinschaft bekanntlich eher überlebt. Ehrlich gesagt konnte ich mir Stevens Fehlen auch nicht mehr vorstellen. An wem sonst sollte mein Vater sich abreagieren, wenn er schlechte Laune hatte? Es stellte sich niemand anderes freiwillig zur Verfügung, und Steven schien es ein merkwürdiges Vergnügen zu bereiten, meinem Vater Paroli zu bieten.

Ich drehte den Kopf wieder nach vorn und sah in der Ferne schon die ersten Außenbezirke Londons im Dämmerlicht des Morgens auftauchen. Darians und mein Blick begegneten sich, als er über seine Schulter zurücksah. Ich schickte ihm ein Lächeln. Dann zuckte ich zusammen, als das Handy meines Vaters zu klingeln begann. Warum nur musste er diesen grässlichen Klingelton mit dem Sound eines vorbeirasenden Rennwagens so laut stellen? Und wer rief um diese Zeit bei ihm an?

Hektisch kramte er es aus seiner Hosentasche hervor und klappte es auf. »Ja? Wieso rufst du um diese Zeit an?« Kurze Pause, er lauschte. Ich ebenfalls. Dann lachte er gekünstelt. »Aber nein, meine Liebe. Mach dir bitte keine Sorgen, es ist alles in bester Ordnung. ... Was? ... Nein, im Wagen. ... Ja. ... Brauchst du wirklich nicht zu tun. ... Nein, vertraue mir. ... Bitte? ... Ja, sie ist dabei.«

Inzwischen berührten meine hochgezogenen Brauen fast meinen Haaransatz. Meine Liebe? Keine Sorgen machen? Mit wem telefonierte er um diese Zeit?

»Grüß sie bitte von mir, Duncan«, stachelte Darian unwissentlich meine Neugier weiter an, und Dad nickte. »Ich soll dir von meinem zukünftigen Schwiegersohn Grüße ausrichten. ... Ja, sie hat endlich angenommen. ... Warum meinst du, es wurde ja auch Zeit?«

Ich rückte weiter nach vorn, um unauffällig einen Blick auf die Nummer zu erhaschen. Doch Dad hatte den Hörer derart dicht am Ohr, dass weder etwas zu verstehen noch zu lesen war. Hatte er eine Freundin? In seinem Alter? Ich ertappte mich dabei, dass ich mir das nun gar nicht vorstellen konnte. Und ich schämte mich sofort deswegen.

»Lass uns später reden. Ich rufe dich an. ... Ja, versprochen.« Damit legte er auf und steckte, ohne dass ich eine Nummer erkennen konnte, das Handy zurück in seine Tasche. Da bemerkte er meinen fragenden Blick und zog seinerseits die Brauen hoch. »Ist etwas?« »Nein.« Ich schützte Ahnungslosigkeit vor. »Was soll schon sein?«

»Sie will wissen, mit wem du gerade geturtelt hast«, übernahm Steven den erklärenden Part, ohne dabei den Blick vom Fenster zu nehmen.

»Ich habe nicht geturtelt, junger Mann«, erwiderte Dad brummig, fuhr sich mit einer Hand durchs rostrote Haar und fügte schließlich fester hinzu: »Außerdem geht es euch nichts an.«

Mein Mund öffnete sich bereits zu einer entsprechenden Erwiderung, als Darians nächste Worte mich innehalten ließen: »Dein Privatleben ist allein deine Sache, Duncan. Wenn du etwas mitteilen möchtest, dann tu es. Aber niemand von uns wird seine Nase in Dinge stecken, die ihn nicht das Geringste angehen.«

Diese Warnung war mehr als deutlich, und ich interpretierte sie als gezielten Schuss in meine Richtung. So kniff ich nur kurz die Lippen zusammen und blickte bemüht desinteressiert wieder aus dem Fenster. Und trotzdem kam ich nicht umhin, den Rest der Fahrt darüber nachzudenken, welches weibliche Wesen mein Vater da am Telefon gehabt hatte. Immerhin war er mein Dad, und da wollte ich schon gern wissen, mit wem er sich einließ. Würde nicht jeder so denken?

Daher verlief die weitere Fahrt zum Flughafen schweigend. Erst nachdem wir den Wagen auf einem privaten Parkplatz abgestellt und mitsamt unserem Gepäck einen abgetrennten Bereich des Flughafens betreten hatten, wuchs mein Argwohn erneut. Waren wir eben noch zu fünft gewesen, zogen Darian und Steven es nun vor, unerkannt sämtliche Kontrollen zu durchlaufen. So betraten lediglich Jason, Dad und ich sichtbar den Gebäudekomplex. Nun verstand ich, weshalb Darian so sorglos auf die Kontrollen reagiert hatte.

Ein großer, recht korpulent wirkender Mann in dunkelblauem Anzug erwartete uns bereits nach dem Passieren der obligatorischen Gepäckkontrollen im VIP-Bereich. Er trug einen hellgrauen Stoppelhaarschnitt, und freundliche dunkelbraune Augen blickten uns aus einem runden Gesicht entgegen, dessen Kinn eine Doppelrolle in diesem Leben spielte. Eine fleischige, aber sehr kraftvolle Hand wurde jedem einzelnen von uns gereicht, und während ich seinen Namen erfuhr, schüttelte ich verstohlen meine gequetschte Hand aus.

Das war also Donovan. Jason hatte seinen Namen einmal erwähnt, als Darian aufs Festland fliegen wollte, es sich aber wohl aufgrund meiner überzeugenden Argumentation anders überlegt hatte.

»Ich gehe davon aus, dass Mr. Knight schon an Bord ist«, sagte Donovan mit einer erstaunlich hellen Stimme, die im krassen Kontrast zu seiner immensen Körperfülle stand.

Jason nickte knapp. »Er und ein weiterer Passagier eilten voraus, Donovan. Das ist korrekt.«

»Gut. Winzer wird sie sicher in Empfang genommen haben. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«

So eilten wir vom internationalen VIP-Bereich einen langen Gang entlang bis hinunter aufs Gelände, wo wir von einer Limousine erwartet wurden. Während der kurzen Fahrt über das Rollfeld erfuhr ich von Jason, dass besagter Winzer der Copilot der Maschine sei und Donovan sehr selten ohne ihn flog.

Kurz darauf stiegen wir vor einem Privatjet aus. Ich hatte kaum Zeit zum Staunen, da schob mein Vater mich energisch an Bord. Und wie erwartet befanden sich Steven und Darian im abgedunkelten Inneren der Maschine. Donovan und er begrüßten einander wie alte Freunde, ehe der Mann im Cockpit verschwand und sogleich ein zweiter Mann daraus hervortrat.

Das war demnach der Copilot. Winzer war klein, klapperdürr, und die Uniform schlackerte an ihm herum wie ein übergestülpter Sack. Mit jedem Schritt schien seine Hose ein wenig tiefer zu rutschen, obwohl ich sah, dass sie von Hosenträgern gehalten wurde, als das Sakko ein wenig aufschlug. Sein Gesicht war schmal und wirkte leicht verkniffen. Imposant waren seine buschigen, grauen Augenbrauen, die mich entfernt an einen ehemaligen deutschen Finanzminister erinnerten. Unter diesen Brauen blitzen hellbraune Augen, die einen sehr wachen Geist verrieten. Als Winzer die schmalen Lippen zu einem Lächeln entblößte, zeigten sich zwei ebenmäßige Reihen strahlend weißer Zähne. Tiefe Falten zogen sich um seine Mundwinkel, und der Anschein von Verkniffenheit war wie weggeblasen.

Mit einer angenehm weichen, tiefen Stimme stelle er sich mir vor und begrüßte uns alle an Bord. Es sah so aus, als kannten alle einander schon länger, und entsprechend freundschaftlich fiel die Erwiderung aus. Dann wandte Winzer sich um und ging zurück ins Cockpit, meinen neugierigen Vater an seinen Fersen klebend.

Ehrfürchtig ließ ich meine Hand über das weiche Leder des breiten, bequemen Sitzes gleiten und sah Darian verwundert an. »Wieso hast du nicht gesagt, dass wir eine Privatmaschine nehmen werden?«

Er hatte seine Zeitung wieder aufgenommen und blickte nun knapp über den Rand hinweg. »Weil du nicht gefragt hast und davon ausgegangen bist, dass wir einen Linienflug nehmen, Liebes. Setz dich doch bitte.«

Zeitgleich hörte ich Jason dezent empört seufzen und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. Er verstaute zusammen mit Steven die letzte Tasche im Gepäckfach, räusperte sich vernehmlich und drehte sich mit hoheitsvoller Miene zu mir um. »Miss McNamara, Sie haben doch nicht allen Ernstes erwartet, dass wir in einer Linienmaschine reisen. Zudem wäre es unangebracht, fünf Plätze zu buchen, wenn nur drei Plätze benutzt würden. Ebenfalls wäre die Unterbringung Mr. Knights und Mr. Montgomerys in der Gepäckabteilung unverhältnismäßig.«

»Danke, Jason.«

»Nichts zu danken, Sir. Wünschen Sie noch etwas?«

Ich riss die Augen auf, als mir der Sinn von Jasons Aussage aufging. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Zu lange schon war ich mit diesen Dingen vertraut und nahm sie als zu gegeben hin, als dass ich mir über aufkommende Fragen Gedanken gemacht hätte. Mea culpa!

»Ich habe alles, was ich brauche, Jason«, erwiderte Darian und sah mich weiterhin über den Rand seiner Zeitung an. »Möglicherweise hat Faye einen Wunsch.«

Ich ließ mich neben ihm in den Sitz fallen. »Ein Doppelter wäre jetzt nicht schlecht.«

Schlagartig saß Darian gerade, doch Jason war es, der mich empört musterte. »In Ihrem Zustand, Miss McNamara, ist dieser Wunsch absolut unangebracht.«

»Woher...?«

»Meine Frau geruhte es mir heute früh zu verraten, da sie um Ihr Wohlergehen besorgt ist, Miss McNamara. Ich werde Ihnen einen Tee servieren, sobald wir in der Luft sind.«

»Was verraten?«, schaltete sich mein Vater nun ein, der aus dem vorderen Bereich der Maschine kam. Er steckte sein Handy in die Hosentasche, ließ sich mir gegenüber in den Sitz sinken und sah uns nacheinander an. »Habe ich irgendwas verpasst?«

Darian fing sich sofort. »Nein, Duncan, alles in Ordnung. Alles bereit?«

»Ja. Wir sollten uns anschnallen, gleich geht's los. Haben die Freigabe gerade erhalten. Wo steckt denn unsere wandelnde Sonnenallergie?«

»Hier«, klang es gedämpft durch eine Wand neben dem Eingang, und erst jetzt bemerkte ich die Toilettentür. »Beim Fliegen habe ich das Starten und Landen immer gehasst.«

Feixend griff Dad nach dem Gurt. »Na, falls dir wider Erwarten übel werden sollte, bist du da ja gleich richtig aufgehoben ...«

Da ruckte es, und die Maschine bewegte sich auf die Startbahn zu.