- Kapitel Achtunddreißig -

Ein nicht in diese friedvolle Umgebung passendes Geräusch weckte mich. Alarmiert fuhr ich hoch und wurde von einem starken Arm zurück in die Kissen gezogen. Eine Hand schob sich über meinen Mund, und Darians Gesicht erschien über mir. Mit amüsiert blitzenden Augen legte er einen Finger an seine Lippen, wies mit dem Kopf auf den angrenzenden Raum und ließ mich los.

Da sah auch ich die Umrisse der beiden im vorderen Raum befindlichen Personen, die sich als flackerndes Schattenspiel deutlich auf dem Vorhang abzeichneten. Ein wiederholt erklingendes leises Keuchen war es gewesen, was mich geweckt hatte.

Steven trainiert Kimberly?

Darian nickte. Gemeinsam pirschten wir bis an den Rand der Vorhänge und lugten vorsichtig darunter hindurch.

Kerzenschein erhellte den Raum. Inmitten dieser Kerzen befand sich Kimberly, die sich hoch konzentriert umsah und mit ausgestreckten Armen um sich tastete. Ich bemerkte Steven, der verhüllt langsam von hinten an sie heranpirschte. Sie stob herum und streckte ihre Hand nach ihm aus. Er wich lautlos zurück, umrundete sie und trat wieder an sie heran. Abermals fand sie ihn auf Anhieb. Da ließ er seine Tarnung fallen und blickte sie zufrieden an.

Erinnert dich das an etwas?, vernahm ich Darians Stimme in meinem Kopf.

Ja, an meine ersten Versuche, dich zu erwischen, erwiderte ich erheitert. Ich war damals kläglich daran gescheitert. Kimberly wirkte da weitaus geschickter als ich.

Plötzlich war Darian verschwunden. Wie er den Raum betreten hatte, ohne dabei die Vorhänge zu bewegen, war mir absolut schleierhaft. Er tauchte direkt hinter Kimberly auf, gab Steven lautlos ein Signal, als Kim bereits zu ihm herumfuhr und ihm ans Shirt griff.

Sofort gab Darian sich zu erkennen, woraufhin Kimberly sich sichtlich entspannte. »Mann, hast du mich erschreckt. Der war echt mies, Darian.«

»Du bist gut«, erwiderte er voll Respekt. »Seit wann übt ihr miteinander?«

Sie senkte verlegen den Kopf und sah in meine Richtung. »Seit Letavian mich eiskalt erwischt hat. Ich habe seitdem echt Schiss, dass das wieder passiert. Und nachdem Faye Daddy zusammenschnauzt hat, warum ich nicht trainiert werde, habe ich Steven gefragt, ob er mir dabei hilft.«

Ich trat durch die Vorhänge in den Raum. »Du hast uns damals belauscht?«

»Du warst ja laut genug. Das war kaum zu überhören.«

Leise knirschte ich mit den Zähnen. Das war nicht meine Absicht gewesen, aber wenn es diesen Effekt hatte, war es wohl in Ordnung.

»Wie nimmst du uns wahr?«, stellte Darian die nächste Frage und verschwand vor unserer aller Augen. Ich sah, wie er neben Kim trat und wie sie sich zeitgleich mit ihm drehte. »Ich sehe euch. Allerdings nur, wenn ihr nahe genug seid oder euch bewegt. Und wenn ich gezielt suche.«

»Dann hat Letavian dich erwischt, weil du nicht damit gerechnet hast?«

»Ja. Und das will ich nie wieder zulassen.«

»Sehr gute Einstellung, junge Dame.« Abrupt stand Darian hinter ihr, streckte die Hand aus und gab Kim einen Schubs. Sie stolperte gegen Steven, der sie wieder hinstellte. Sie drehte sich um. »Hey!«

Ein weiterer Schubs folgte, sie stolperte auf mich zu. Mein Blick drückte Missbilligung aus. Die galt aber mehr meinem Mann als Kim.

»Kannst du das bitte lassen?« Ein weiterer Stoß. Sie stolperte in die Mitte des Raumes. »Verdammt! Hör auf!«

»Hindere mich daran, Kimberly.«

Ihr Blick streifte mich, fragend und ein wenig ängstlich. Ich lächelte ihr zu. »Mach dir keine Sorgen. Er kann schon ordentlich etwas ab.«

Sekunden später bekam Darian einen saftigen Tritt gegen das Schienbein. Lachend rieb er sich die schmerzende Stelle. Kimberly triumphierte.

»Weiß Alistair, dass du mit Steven trainierst?«, fragte ich und wunderte mich über Stevens plötzlich gehetzt wirkende Miene.

»Ich habe es ihm nicht gesagt«, murmelte Kim. »Daddy reagiert momentan leicht komisch, wenn die Sprache auf mich und Steven kommt. Inzwischen möchte er sogar, dass Steven in ein anderes Zimmer umzieht. Als wenn das was bringen würde. Ich bin doch tagsüber sowieso in der Schule. Aber egal. Weiß einer von euch, wie spät es ist?«

Mein Mann blickte auf den Wecker neben unserem Bett. »Kurz nach sechs Uhr.«

»Oh, nicht mehr allzu viel Zeit. Und für die Schule muss ich mich auch noch fertig machen. Wir sehen uns heute Nachmittag.«

»Ich gehe dann auch mal ins Bett. Warte auf mich, Kim. Macht ihr die Kerzen aus?« Damit waren beide verschwunden, und Darian und ich blieben mit einigen Fragen allein zurück. Lief da vielleicht ...

»Nein.« Sein Finger stand warnend vor mir. »Denk gar nicht erst weiter. Es geht uns nichts an.«

Schweigend zuckte ich mit den Achseln und trollte mich zurück ins Bett. Nein, es ging uns wirklich nichts an. Außerdem war ich müde. Von daher sollte es mir ohnehin egal sein.

»Wann bist du eigentlich zurückgekommen?«, fragte ich, als er sich wieder neben mir niederließ.

»Vor ein paar Stunden.« Sein Arm umschlang mich, und er zog mich an sich.

»Bist du fündig geworden?«

»Nicht ganz, aber ich habe eine Spur gefunden, der wir nachgehen sollten. Ich erzähle es dir später. Mach die Augen zu, Liebes. Wir haben Zeit.«

Die hatten wir. Und die nutzte ich, bis Darian mich endgültig weckte – mit einem Tablett voller Frühstücksleckereien. Ganz wie im Hotel setzte er sich mir gegenüber und sah mir beim Essen zu.

Ich war gerade fertig geworden und eilte ins Bad, als Jason mir auf dem Flur entgegenkam. Nachdem ich mich für den Tag zurechtgemacht hatte, fand ich beide Männer zusammen über ein Pergament gebeugt vor. Jason hielt die Lupe in der Hand und diktierte einzelne Zeichen, die Darian auf einem Zettel notierte. Bei meinem Eintreten sahen beide auf.

»Noch immer diese Übersetzungen aus dem Buch?«, fragte ich, wagte aber nicht näher zu treten, weil ich wieder diese Übelkeit befürchtete.

»Ja.« Darian nahm das Blatt in die Hand und hielt es weiter ins Licht. Wie schon einmal fing es sogleich an zu schwelen. Anscheinend hatte dieser kurze Moment gereicht, um das Gesuchte zu finden, denn er wedelte es aus und kritzelte eilig etwas auf seinen Notizblock. »Ich glaube, jetzt haben wir das meiste zusammen.«

Neugierig geworden trat ich so weit näher, bis der Druck auf meinen Magen zu unangenehm wurde. »Was genau hast du gesucht?«

»Einen Zugang, Faye. Diese alten Symbole sind der Schlüssel. Jetzt benötigen wir nur noch das Schloss.«

»Ist es denn nicht dabei?«

»Bedauerlicherweise nicht, Mrs. Knight«, räumte Jason diesmal ein. »Der Verfasser dieses Schriftstücks bevorzugte offensichtlich die gängige Variante der Schnitzeljagd, um weniger hartnäckige Sucher abzuschrecken.«

»Oder bei oberflächlichem Lesen erst gar keine Spuren erkennen zu lassen, Jason«, warf Darian ein. Er klappte den Block zu und legte das Blatt zurück in die Kiste. Nachdem er den Deckel sorgfältig verschlossen hatte, platzierte er die Kiste in der Kommode. »Ich werde nicht drum herumkommen. Ich muss noch einmal zurück.«

»Wohin?« Die Frage stammte von mir, und endlich konnte ich an meinen Mann herantreten.

»Zu Benedicts Kirche. Ich weiß, er wollte mir etwas übergeben, kam jedoch nicht mehr dazu. Wenn es noch da ist, wird es sich in der Kirche befinden.«

Meine Augen leuchteten unternehmungslustig auf. »Wann wollen wir los?«

»Faye.« Schwer legten sich seine Hände auf meine Schultern. »Ich möchte, dass du hierbleibst. Versteh mich, wenn ich nicht möchte, dass du in Gefahr gerätst.«

Genervt rollte ich mit den Augen. Behütet zu werden war ja schön und gut. Aber das grenzte fast an eine Unmündigkeitserklärung.

»Ich verstehe deine Motive, Darian. Aber ich bin kein Kleinkind. Inzwischen weiß ich, wie weit ich gehen kann. Und ich dürfte es bereits bewiesen haben. Auch dir.« Mein Blick huschte zu Jason und er nickte mir deutlich zu. »Darian, du bist inzwischen der Einzige, der an mir zweifelt.«

»Nein.« Seine Stimme erstarb zu einem Flüstern. »Nein, Faye. Ich zweifle nicht an dir. Ich liebe dich so sehr, dass ich an mir zweifle. Ich weiß nicht, ob ich meine Gefühle für dich so weit unterdrücken kann, dass ich in der Lage bin, rational zu handeln und zu urteilen.«

Ich umfasste den Kragen seines offenen, beigefarbenen Hemdes und zog ihn zu mir herunter, um ihm einen zärtlich verständnisvollen Kuss zu geben. Dann schob ich ihn resolut wieder von mir. »Du wirst mich mitnehmen. Basta. Du wirst lernen mir zu vertrauen. Abgesehen davon fahren wir am Tag hin, da ist es ohnehin ungefährlicher. Das dürfte auch deine Nerven schonen. Abgemacht?«

Zweifelnd sah Darian sich nach Jason um. »Hat eine Ehe etwas mit weiblicher Tyrannei gemein? Habe ich etwas verpasst, Jason?«

»Aye, Sir. Sie haben das Kleingedruckte nicht gelesen. Und wenn ich Ihnen aufgrund meiner langjährigen Erfahrung etwas raten darf: Widersprechen Sie nicht, und sagen Sie einfach Ja. Das hilft in den meisten Fällen.«

Er seufzte. »Also gut. Überredet, aber nicht überzeugt.«

»Das kommt noch.« Siegesgewiss drehte ich mich um und ging mich umziehen. Ernestine wollte wieder Kuchen backen, und ich hatte versprochen, ihr dabei zur Hand zu gehen.

Die Fahrt zu besagter Kirche musste warten, denn siedend heiß war mir eingefallen, dass mein Untersuchungstermin anstand. So machten Darian und ich uns am späten Nachmittag auf den Weg ins Krankenhaus.

Maja wirkte überrascht, als wir bei ihr auftauchten. »War das nicht erst für nächste Woche eingeplant?« Dann winkte sie ab. »Ach, egal. Wenn ihr schon einmal hier seid, können wir auch nachsehen, ob alles okay ist. Folgt mir bitte.«

Wir gingen den uns schon bekannten Gang entlang und betraten das Labor, wo Maja mich einem großen, breitschultrigen Krankenpfleger namens Mike übergab, der ständig irgendwie zu lachen schien. Während er mit mir herumflachste, nahm er mir Blut ab. Es wurde sogleich untersucht. Dann wurde der Blutdruck gemessen, und anschließend durfte ich mit dem berüchtigten Töpfchen zum Örtchen gehen. Danach brachte mich Mike in den Untersuchungsraum, in dem Maja und Darian mich erwarteten. Diesmal blieb mein Mann während der kompletten Untersuchung an meiner Seite. Maja tastete mich ab und schien zufrieden. Dann sahen wir gemeinsam voller Spannung auf den Monitor des Ultraschallgeräts.

»Allmählich wundere ich mich bei dir über gar nichts mehr«, äußerte Maja grübelnd und tippte auf der Tastatur herum. Ein Standbild erschien. Sie fuhr mit dem Cursor über das Bild, mehrere Daten erschienen.

»Ist alles okay?«, erkundigte ich mich zögernd, und der feste Griff um meine Finger zeugte von der versteckten Nervosität meines Mannes.

»Ja. Ja, sicher. Alles dran und gesund. Wie es sein sollte«, gab sie in einem Tonfall wieder, der mich aufmerken ließ: »Aber?«

Ihre Augen spiegelten leichte Verwunderung wider. »Was bekommt der Wurm als Nahrung? Zusätze von Futterkalk?«

Ich richtete mich ein wenig auf. »Wie meinst du das?«

»Laut Tabelle bist du inzwischen in der zweiundzwanzigsten Woche. Das ist aber nach der letzten Messung völlig unmöglich.«

»Und das bedeutet?«, fragte Darian nun sichtlich angespannt.

»Dass deine Frau irgendwann platzt, wenn das so weitergeht und sie das Kind über die reguläre Zeit von vierzig Wochen austrägt«, erwiderte Maja wenig rücksichtsvoll und fügte dann hinzu: »Was ich bei der Geschwindigkeit allerdings ausschließen möchte, denn das macht kein Körper mit. So jedenfalls lässt sich kein Geburtstermin sicher berechnen.« Ihr ernster Blick erfasste mich. »Rechne mit einem Kaiserschnitt, Faye. Deine Tochter liegt weit außerhalb der Norm und wird sich, wie du selbst siehst, an keine Regeln halten.«

»Ganz die Mutter«, murmelte es neben mir. Ich erhielt auf meinen erbosten Blick ein liebevolles Lächeln.

»Wann wäre denn der reguläre Termin?«

»Von jetzt aus gesehen Mitte März, Faye. Wächst dein Kind aber weiter mit dieser Geschwindigkeit und den derzeitigen Abweichungen, bist du vermutlich irgendwann im Januar mit der Entbindung dran.« Sie tippte erneut etwas in die Tastatur, eine neue Berechnung erfolgte, und sie sah wieder auf. »Wir sollten die Termine enger legen. Wie geht es dir überhaupt dabei, Faye? Übelkeiten? Spannungsgefühl in Brust und Bauch? Wassereinlagerungen?«

»Die Brust spannt, und der Bauch etappenweise. Sonst ist alles okay«, antwortete ich. Sie nickte und drückte nebenbei ihren Pieper aus. »Ich schreibe dir ein Öl auf, mit dem du dich regelmäßig einmassieren solltest. Es hält die Haut elastisch, damit sie nicht so schnell reißt. Vielleicht bringt es was. Schaden kann es jedenfalls nicht.« Sie reichte mir ein paar Papiertücher, damit ich das Gel entfernen konnte. Eilig kritzelte sie etwas auf einen Notizzettel, gab diesen Darian und erhob sich. »In zwei Wochen möchte ich dich hier wieder sehen, Faye. Dann machen wir ein CTG und überprüfen die Herztöne. Ihr seid in zwei Wochen doch noch hier?«

Ein kurzer Blickwechsel, dann nickten Darian und ich zeitgleich.

»Dann entschuldigt mich bitte. Ich muss.« Ihr Blick fiel auf ihren Pieper, und sie eilte zur Tür. »Wir sehen uns.«

»Sie hat die Geschehnisse der letzten Tage offensichtlich sehr gut verdaut«, überlegte ich laut, als Darian mir auf dem Parkdeck die Wagentür öffnete.

»Ich vermute, es liegt auch an der Anwesenheit deines Bruders.« Er schloss meine Tür, umrundete den Van und stieg ein. Der Zündschlüssel fand seinen Weg ins Schloss, Darians vielsagender Blick fand zu mir. »Emotionen können eine Menge verändern. In diesem Fall sind es sehr positive.«

»Du meinst, sie und Alistair haben sich verliebt?« Ich kicherte triumphierend, als er ein Nicken andeutete. »Ich habe es mir doch gedacht.«

»Es ist offensichtlich, dass -« Er brach ab und starrte aufmerksam in den Rückspiegel. »Verdammt!«

»Was ist?«

Wortlos wies er auf den Außenspiegel an meiner Seite. Ich spähte hinein und erkannte erst einmal nichts Besonderes. »Was meinst du?«

»Hinter dem grünen Rover. Linke Seite.«

Surrend richtete ich den Spiegel auf den Rover aus. Dann sah auch ich die beiden Halbwüchsigen, die sich hinter dem Fahrzeug im Schatten herumdrückten. Sie blickten in unsere Richtung, unterhielten sich leise und gestikulierten heftig. Zwar wunderte es mich schon ein wenig, dass sich hier auf dem Parkdeck zwei etwas abgerissen wirkende Jungs herumtrieben, doch es war nicht allzu ungewöhnlich. Möglicherweise waren sie auf einem Beutezug, durchsuchten unabgeschlossene Wagen nach Wertgegenständen, und unsere Anwesenheit hatte sie dabei gestört.

»Sollten wir nicht die Cops rufen?«, stellte ich erst mal die naheliegendste Frage.

Darian schüttelte milde den Kopf. »Nein, die können da kaum etwas ausrichten. Bleib bitte im Wagen, Faye.« Er öffnete die Tür, sprang heraus und warf sie schwungvoll hinter sich zu.

Die Jungs schraken immerhin zusammen, liefen sich aber nicht fort, als Darian mit energischen Schritten auf sie zuging. Im Gegenteil, sie ließen die Muskeln spielen, meinten sich dem Älteren gegenüber aufspielen zu müssen. Oh. Jetzt verstand ich. Das waren keine Muskeln, es waren mehr ihre Zähne. Gefletschte Reißer leuchteten kurz im künstlichen Licht der Parkdeckbeleuchtung auf. Ungeachtet ihrer deutlichen Kampfansagen schritt Darian weiter auf sie zu.

Ich musste den Spiegel neu ausrichten und griff mir dabei automatisch hinten an den Gürtel, um den Pflock herauszuziehen. Seit dem Erlebnis mit Letavian verließ ich niemals mehr das Haus ohne Stöckchen. Interessiert beobachtete ich das Geschehen. Hatten die Bengel denn überhaupt keine Ahnung, mit wem sie sich da gerade anlegten? Wohl nicht, denn ohne ersichtliche Vorwarnung sprang der Größere der beiden auf meinen Mann zu. Ungerührt trat Darian einen Schritt beiseite, griff blitzschnell zu und hatte den Angreifer direkt am Hals erwischt. Seine Füße baumelten eine Handbreit über dem Boden, fast alle Tritte und Schläge gingen ins Leere und die wenigen, die ihr Ziel fanden, richteten keinerlei Schaden an. Darian ließ den jungen Vampir toben, bis er ermüdete. Derweil hatte sein Begleiter Fersengeld gegeben und war überstürzt vom Parkdeck geflohen.

»Möchtest du oder soll ich?«, wandte Darian sich an mich und drückte den Bengel lieblos gegen die Motorhaube des Vans.

Geräuschvoll öffnete sich das Seitenfenster, und ich blickte hinaus. »Bist du sicher, Schatz?«

»Herrje. Du wolltest doch dabei sein. Also bitte. Deine Entscheidung, Liebes.«

Grinsend verschloss ich das Fenster, stieg aus und trat neben ihn. Und ich musste an mich halten, um nicht mit meinem Mittagessen den Asphalt zu dekorieren.

»Danke, Schatz, jetzt verstehe ich, warum du mir dieses großzügige Angebot unterbreitet hast.«

Darian lächelte müde, und ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Bengel zu. Er stank zum Gotterbarmen. Lebte er in der Kanalisation dieser Stadt? Er sah zudem so aus wie er roch.

Zerrissene Kleidung undefinierbarer Farbgebung, verschmiert und beklebt mit allerhand ekelhaft anmutenden Placken. Selbst sein Gesicht war bei näherer Betrachtung alles andere als sauber. Einzig seine Reißzähne, die er mit lautem Fauchen in meine Richtung bleckte, ließen eine gewisse Form der Mundhygiene erahnen. Sie waren strahlend weiß, scharf und wirkten überaus gesund. Allerdings war mir inzwischen bekannt, dass Vampire nicht unbedingt Aspiranten für Zahnprobleme waren.

»Musst du ihn unbedingt beißen, um Informationen zu erhalten?«, fragte ich meinen Mann, dessen Miene deutlich machte, dieses Vorgehen nicht unbedingt in Erwägung zu ziehen. Inzwischen war die Aggression des Jungen purer Angst gewichen.

»Nein, aber ich müsste ihm noch näher kommen«, antwortete Darian ruhig.

Ich seufzte. »Also gut, was willst du wissen?« Ich suchte nach einer halbwegs sauberen Stelle auf diesem Burschen und ärgerte mich gleichzeitig, keine Handschuhe dabeizuhaben.

»Wer er ist, woher er stammt, wer sein Erzeuger ist. Das ganze Repertoire, Faye.«

Bei der Erwähnung meines Namens flog der Kopf des Jungen herum, und wenn schon vorher Angst in seinen Augen gestanden hatte, trat nun reine Panik in sie. »Bitte, bitte nicht.«

»Möchtest du lieber sprechen?«, fragte ich freundlich und streckte gleichzeitig meine mentalen Fühler nach ihm aus, jedoch ohne ihn dabei physisch zu berühren. Leicht wie ein Messer durch weiche Butter glitt ich in seine Gedankenwelt, durchforschte sie und zog mich eilig zurück. Was ich in ihm gelesen hatte, schockierte mich erstaunlicherweise nicht im Geringsten, es überraschte mich lediglich.

»Er stammt irgendwo aus Harlem, er hat dort mit einigen anderen eine Unterkunft. Die genaue Ecke konnte ich nicht ausmachen, irgendein halb verfallenes Haus. Und er hat mit dem Tod der Obdachlosen vor ein paar Wochen zu tun. Hast du sie getötet?«

Vehement schüttelte der Junge den Kopf, traute sich aber nicht zu sprechen. Ängstlich huschte sein Blick zwischen meinem Mann und mir umher. Darians Griff an seinem Hals wurde stärker. »Wer genau war es?«

»Der Dunkle«, krächzte der Vampirjunge zitternd. »Er gab den Auftrag.«

»Wer ist der Dunkle?«, hakte ich verdutzt nach. Ich hatte nichts dergleichen in seinen Gedanken vorgefunden. Wobei ich gestehen muss, dass in seinem Kopf ein pubertäres Durcheinander vorherrschte: Kein Gedanke war wirklich gefestigt, und seine Erinnerungen irgendwie verwischt.

»Er ist ein Schatten, er zeigt sich nicht. Ich weiß nicht, wer das ist«, jammerte der Junge gehetzt und fing sogar an zu weinen.

»Woher weißt du, wer meine Frau ist?« Darians scharfe Frage durchschnitt das leise Jammern wie ein Peitschenknall. Die Augen des Jungen drohten inzwischen aus seinem Gesicht zu fallen. »Er hat ihren Namen genannt. Sie ist gefährlich, hat er gesagt. Er hat uns Angst gemacht.«

Ich sah Darian ratlos an, und grimmig erwiderte er meinen Blick.

»Bist du gefährlich?«, klang es da kleinlaut von unten und der Junge sah mich groß an. »Du siehst nicht gefährlich aus.«

»Du auch nicht«, gab mein Mann statt meiner zurück. »Man darf sich davon nicht täuschen lassen. Hast du noch Fragen an ihn, Faye?«

Ich schüttelte den Kopf. Da knackte es leise, und rieselnde Asche verteilte sich quer über die Motorhaube. Ungerührt wischte Darian sie fort, klopfte seine Hände ab und öffnete die Fahrertür. »Komm, wir haben etwas zu erledigen.«

Ich stieg ein. »Ist es möglich, dass du den Burschen kanntest?«

»Ja. Er war einer unserer Besucher letzte Nacht.«

»Derjenige, den du verfolgt hast? Alistair meinte, du wärst verflixt schnell gewesen. Ich glaube kaum, dass der Bursche schneller war als du.«

»Nein, er war nicht schneller. Ich ließ ihn laufen. Das war ein Fehler, den ich nicht noch einmal machen werde.«

»Du hast ... Fein. Und warum durfte ich eben die Drecksarbeit leisten?«

»Du brauchst ab und an Übung. Abgesehen davon habe ich die Hände voll von Asche.« Damit drehte er den Schlüssel um, und wir fuhren los.

Eine Weile schwiegen wir. Darian fuhr, ich blickte aus dem Seitenfenster auf die vorbeifliegende Umgebung. Jeder hing seinen Gedanken nach. Nach einigen Minuten brach ich das Schweigen: »Wenn etwas so schnell ist, dass es einen alten Vampir abhängt, muss es logischerweise noch älter als der alte Vampir sein, richtig?«

Ein Seitenblick streifte mich. Und obwohl es offensichtlich war, fragte er: »Worauf möchtest du hinaus, Faye?«

Nun sah ich Darian direkt an. »Wenn es also nicht der Junge war und gleichzeitig Alistair nicht Schritt halten konnte – wen oder was hast du dann letzte Nacht verfolgt?«

»Etwas Altes«, gab er zurück, blickte dabei weiter auf die Straße. »Etwas sehr Altes, Faye.«

Die Straße, in der die Werkstatt lag, kam in Sicht. Daher beschloss ich, vorerst zu schweigen. Ich konnte später weiter nachfragen -wenn ich seine letzten Worte verdaut hatte.

Kimberly empfing uns Kuchen kauend und mit der Information, dass der Architekt angerufen hatte und mitteilen ließ, die Pläne seien fertig. Val spielte mit Jason Pferd und Reiter und ließ sich von seinem Pferd auf den Schultern über den Hof tragen. Dad und Ernestine hatten sich abgesetzt, um den restlichen Nachmittag allein zu genießen. Mein Bruder tobte lautstark durch die Werkstatt und trieb seine Angestellten an, und Thomas hockte irgendwo auf dem Dach und diskutierte vermutlich meditativ mit seinen Ahnen. Und Darian hing am Telefon.

Ich ging in die Küche und setzte frischen Kaffee auf. Dann trabte ich eine Etage höher und entschied mich für bequemere Kleidung. Aus meinem Rock wechselte in die Jeans, die ich glatt zwei Löcher weiterstellen musste, und die grüne Bluse ersetzte ich mit meinem derzeitigen Lieblingspullover. Eigentlich gehörte er Darian, ein schwarzer Rolli aus Baumwolle, unendlich bequem, herrlich weit geschnitten, und er verdeckte die sichtbare Wölbung des Bauches. Also hatte ich ihn mir einverleibt. Mit Turnschuhen an den Füßen ging ich zurück in die Küche, nahm mir einen Kaffee und ein großes Stück Kürbiskuchen.

»Wenn es dir recht ist, können wir noch heute die Umbaupläne begutachten, Faye.« Darian betrat die Küche, entnahm dem Kühlschrank eine Konserve und legte sie in die Mikrowelle. Dann sah er auf, mich verwundert an und lachte leise. »Du hast da die Hälfte deines Kuchens hängen.«

Mit dem Handrücken wischte ich mir übers Kinn und spülte den Rest mit Kaffee hinunter. »Können wir gerne machen. Ich bin gespannt, was der Architekt aus den Vorschlägen gemacht hat.«

»Ab morgen wird das Haus entkernt«, erklärte Darian auf dem Weg hinunter. »Mr. Riley hat eine Firma organisiert, die das übernimmt. Er meinte, es würde recht schnell geschehen. Aber sicherlich wird er es dir gegenüber nochmals erklären.«

Nach unendlich langer Zeit fuhr ich mal wieder mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Kimberly benötigte den Van, weil sie zusammen mit Jason einkaufen wollte: Dad war mit dem Pick-up unterwegs. Da das Architektenbüro auf der Fifth Avenue nahe der St. Patrick's Cathedral mit der U-Bahn bequem zu erreichen war, wählten wir diese Variante.

Das Büro des Architekten lag im fünfzehnten Stock eines großen Gebäudes. Mit dem Fahrstuhl ging es hinauf, dann durch eine große Glastür mit dem eingravierten Namen der Firma. Mr. Riley empfing uns persönlich im Foyer und führte uns zum Besucherraum. Die Pläne lagen auf dem Tisch, und wir machten und sogleich darüber her. Es ging recht flott. Er hatte meine Vorstellungen gut umgesetzt und bis auf ganz wenige Änderungen segneten wir die Entwürfe ab.

»Ich werde die Änderungen schnellstmöglich durchführen und Ihnen Bescheid geben. Vermutlich schon Anfang kommender Woche«, meinte er beim Abschied. »Mit etwas Glück können wir dann Ende der Woche die ersten Arbeiten vornehmen.«

Hocherfreut lächelte ich. »Das wäre wunderbar, Mr. Riley.«

Er brachte uns bis zum Fahrstuhl und empfahl sich.

»Möchtest du etwas essen, Faye?«

»Nach dem Kuchenstück bin ich noch ziemlich satt«, gab ich zurück und blickte die Straße entlang. Inzwischen war es dunkel geworden und zudem fing es leicht an zu nieseln. Und obgleich die Straßen mit Taxis verstopft schienen, war es erstaunlich schwierig, eines zu erwischen. So entschieden wir uns abermals für die U-Bahn.

Die Rush Hour in der Untergrundbahn war alles andere als angenehm. War es zuvor schon recht voll gewesen, schien der Bahnhof nun aus allen Nähten zu platzen.

»Blöde Idee«, brummte ich missmutig, als mich eine beleibte Dame fast umschubste. Darian hielt mich rechtzeitig fest und verschaffte mir mit einem erbosten Blick entsprechend Platz.

Wir gelangten schließlich bis an den Bahnsteig. Die richtige U-Bahn kam, die Türen schwangen auf, Passagiere strömten hinaus, andere wieder hinein. Die Türen schlossen sich, die Bahn fuhr ohne uns ab.

Mit versteinerter Miene hielt Darian eisern meine Hand fest. Verwirrt folgte ich seinem zornigen Blick, sah über das Gleis auf die gegenüberliegende Bahnsteigseite – und wurde blass. Instinktiv flog meine Hand schützend an meinen Hals.

Nein, ich sah keinen Geist. Dieser dunkelhaarige Mann im langen schwarzen Mantel war definitiv keine Einbildung. Und der silbern aufblitzende Tierkopf des Spazierstocks in seiner Hand ließ keinen Zweifel daran, wer uns mit stechendem Blick von der Gegenseite aus anstarrte. Letavian.

Ich fühlte deutlich Darians Zwiespalt; spürte seinen innigen Wunsch, augenblicklich diesen Mann zu stellen und mich gleichzeitig beschützen zu wollen.

Eine weitere Bahn rollte herein, verdeckte kurzzeitig die Sicht. Nachdem sie abgefahren war, konnte ich nur noch den Mantelaufschlag an der Treppe gegenüber entdeckten. Dann war er verschwunden.

»Worauf warten wir noch?« Schon zog ich Darian zum Aufgang. »Er entwischt uns.«

Eine Sekunde noch zögerte er, dann setzte er sich in Bewegung und Hand in Hand stürmten wir die Stufen hinauf. Kurze Orientierung im oberen Bereich, dann wies Darian an den diversen Kiosks und Fahrtautomaten vorbei Richtung Ausgang. Wir rannten hinaus und zurück auf die Straße. Abermals sah ich Letavian uns gegenüber auf der anderen Straßenseite stehen. Es war, als wolle er, dass wir ihm folgten. Was hatte er vor?

»Darian ...«

»Ich weiß, Faye. Du schreist.« Mein Mann ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen. »Ich weiß auch nicht, was genau er vorhat.«

»Folgen oder nicht folgen ... Au!« Aus dem Augenwinkel heraus hatte ich ihn wahrgenommen, den flinken Schatten, doch meine Reaktion war zu langsam. Ein brennender Schmerz breitete sich blitzartig an meiner rechten Seite aus, jagte meine Nervenbahnen entlang und wollte in ihnen einen Kurzschluss verursachen. Instinktiv kämpfte ich dagegen an und legte meine Hand an diese Stelle. Da knickte ich leicht ein und rang um Atem. Sofort schlang Darian seine Arme wie einen undurchdringlichen Schutzmantel um mich. Er hob mich hoch und trug mich in das nächste Diner.

Im hinteren Bereich setzte er mich auf der verschlissenen, roten Kunstlederbank ab, ging in die Knie und schob vorsichtig meine Hand beiseite. Ich sog erschrocken die Luft ein, als ich etwas Blut an meiner Hand entdeckte. Ängstlich sah ich meinen Mann an, der sogleich meine Jacke beiseiteschob und den Pullover anhob, um sich die Verletzung anzusehen. Ich hörte ihn leise fluchen.

Der Mann nebenan dürfte sich gewundert haben, wieso die Servietten auf dem Tisch vor ihm wie von Geisterhand verschwunden waren. Und die Frau schräg gegenüber würde vermutlich gleich ihre Wasserflasche vermissen. Zudem würde der Betreiber Gespenster vermuten, wenn ihm auffiel, dass im Regal hinter seinem Tresen nun eine Flasche hochprozentiger Alkohol fehlte. Unsicht-barkeit hatte so seine Vorteile, insbesondere, wenn man sie auf Personen und Gegenstände in seiner ummittelbaren Umgebung ausdehnen konnte. Vielleicht sollte ich Darian doch einmal fragen, wie er zu seinem finanziellen Wohlstand gekommen war.

Behutsam tupfte Darian das Blut ab, wusch mit dem Wasser die Hautabschürfung aus, tränkte die Servietten mit dem Schnaps und presste sie auf die Verwundung. Sie hatte wie einer oder mehrere breite Kratzer ausgesehen, nicht tief, nur die oberen Hautschichten betreffend. Doch der Alkohol brannte höllisch. Nach einigen Minuten hob ich vorsichtig einen Arm und streckte mich. Es tat noch übel weh, war inzwischen aber auszuhalten.

Echte Sorge stand in Darians Blick. »Das hätte nicht passieren dürfen, Faye.«

»Ich war auch abgelenkt«, gab ich betreten zurück, knotete mein Haar zusammen und schlüpfte aus dem Ärmel. Dabei drehte ich ihm den Rücken zu. »Nimm das Pflaster vom Kratzer an der Schulter und pack es auf diesen hier. Damit sollte es gehen. Und dann will ich dieser feigen Ratte persönlich in den Arsch treten.«

»Bist du sicher?« Er zog es ab und befestigte es auf der neuen Abschürfung.

Der Mann vom Tisch nebenan hatte derweil den Verlust der Servietten bemerkt und blickte sich suchend um. Im gleichen Moment hielt die Frau eine Kellnerin auf und erkundigte sich nach ihrem Wasser.

»Wir sollten besser gehen, Darian.« Ich schlüpfte in den Pullover, warf die Jacke über und erhob mich.

Genauso unbemerkt, wie wir hineingelangt waren, gelangten wir auch wieder hinaus. Durchs Fenster sah ich gerade noch das ungläubige Gesicht der Kellnerin, die vor unserem Tisch stand und auf die vermisste Wasserflasche, zerknüllte und verschmutzte Servietten sowie einer Flasche Alkohol starrte, neben der eine Fünf-Dollar-Note und ein Zettel mit dem Wort Sorry lagen.

Von Letavian war nichts mehr zu sehen, was mich nicht wirklich verwunderte. Dafür schien mein Mann recht genau zu wissen, in welcher Richtung er suchen musste. Er blickte die Straße entlang, nahm anscheinend Witterung auf und zog mich fort. Wir eilten die Fifth Avenue Richtung Central Park entlang und legten einen kurzen Stopp auf Höhe des Grand Army Plaza ein. Darian zückte sein Handy und klappte es auf. Ich bekam kaum mit, was er sagte, denn mein Atem meinte zu laut rasseln zu müssen. Verdammt, ich hätte in den letzten Tagen mehr joggen sollen, meine Kondition war im Keller.

»Taxi?«, fragte er kurz darauf, und ich nickte japsend. »Taxi!«