- Kapitel Siebzehn -
Hochzeitsvorbereitungen im herbstlichen New York waren vermutlich genauso stressig wie im verregneten London. Selbst Paris wäre da keine Ausnahme, würde man von einem Brautgeschäft ins nächste geschleppt. Und was interessierte das Wetter, wenn man es ohnehin nur durch die Schaufenster wahrnahm?
Es regnete junge Hunde, als Ernestine mich nun den dritten Tag in Folge in die heiligen Hallen eines weiteren Brautausstatters schleppte, der sich in der 8th Street befand. Die übrigen Läden in Manhattan hatten wir bereits durch, und inzwischen keimte in mir Unwillen auf. Ich hatte unzählige Kleider diverser namhafter Designer gesehen, die gefühlte doppelte Menge davon anprobiert und als ungeeignet befunden. Entweder waren sie zu pompös oder sie zwängten mich ein wie eine Presswurst im Kunstdarm. Fast schon war ich geneigt, Kimberlys Vorschlag ernsthaft in Erwägung zu ziehen: ein schwarzes Spitzenkleid als Protest gegen das weiße Diktat vorgetäuschter Jungfräulichkeit auf dem Weg in den Ehehafen. Das war mir dann doch etwas zu morbid.
Vorbei an Jason, der uns zuvorkommend die Glastür aufhielt, betraten Ernestine und ich den ausschweifend romantisch ausstaffierten Verkaufsraum des Geschäfts, bei dem wir uns vor einer guten Stunde telefonisch angekündigt hatten. Das war in dieser Branche so üblich.
»Sie wirken etwas ermüdet, Miss McNamara«, raunte Jason mir zu. »Möchten Sie, dass ich Ihnen einen Kaffee besorge?«
»Ich brauche keinen Kaffee, Jason. Ich brauche ein verdammtes Brautkleid, mit dem auch Ernestine einverstanden ist, und das zügig-« »Ah, ich ahnte es bereits. Haben Sie es ihr gesagt, Miss McNamara?«
Ertappt senkte ich den Blick. »Bislang nicht. Sie ist begeistert bei der Sache und gleichzeitig wie eine Mutter zu mir. Ich möchte sie nicht verletzen.«
»Ah ja, deswegen verletzen Sie sich lieber selbst. Nun denn ...« Er lächelte spröde und wandte sich um. »Ernestine, meine Liebe, wenn Sie einen Moment erübrigen könnten, bitte.«
»Jason ...« Zu spät, er hatte sie bereits untergehakt und zog sie am Arm in eine hintere Ecke des Geschäfts.
Eine violett gewandete, ältere Verkäuferin trat auf mich zu. Ihr graues Haar war modisch kurz, und blaue Augen funkelten mich freundlich an. »Einen guten Tag, mein Name ist Emma Rupert. Was kann ich für Sie tun?«
»Faye McNamara. Wir hatten miteinander telefoniert, Mrs. Rupert. Ich suche ein Brautkleid, Größe S oder M, je nachdem. Nichts in Weiß, eher Elfenbein, naturfarben oder farbig. Nichts übermäßig Pompöses, also ohne Rüschen, Tüll und das ganze dekorative Gedöns«, leierte ich meine Beschreibung wie in den Geschäften und am Telefon zuvor herunter. Und wie zuvor nickte die Verkäuferin verstehend. »Natürlich, ich erinnere mich, Miss McNamara. Bitte folgen Sie mir. Ich habe schon etwas nach Ihren Wünschen vorbereitet.«
Doch anders als in den Geschäften zuvor führte sie mich nicht an langen Kleiderständern vorbei, sondern zu einem Bildschirm. Sie tippte meine Angaben in eine Tastatur, und kurz darauf spuckte der Computer Vorschläge aus, die er mir in dreidimensionalen Bildern auf dem Screen präsentierte. Hätte ich das gewusst, wäre ich gleich hierher gekommen.
Sie tippte auf das enge lange Kleid eines kubanischen Designers mit unaufdringlichem Spitzenbesatz, das hinten durch Ösen verschlossen wurde. »Ich möchte Ihnen dieses Kleid im Mermaid-Style empfehlen. Bei Ihrer Größe können Sie die Korsagenform gut tragen. Und der weiche Cremeton des Kleides harmoniert hervorragend mit Ihrem Haar.«
Es war sehr schön, nur die lange Schleppe störte. Dennoch notierten wir es und suchten weiter. Als in der Vorschau ein rotes Kleid erschien, rief ich automatisch: »Halt!«
»Das ist eine sehr ungewöhnliche Wahl«, ließ die Verkäuferin wissen, und ich nickte bestätigend. »Es wird auch eine ungewöhnliche Hochzeit mit einem sehr ungewöhnlichen Mann. Haben Sie es in meiner Größe vorrätig?«
Sie gab die Daten des Kleides in eine Liste ein und blickte mich anschließend lächelnd an. »Größe M ist vorhanden. Sie haben sogar die Wahl zwischen dem Kleid im Farbton Elfenbein oder in diesem dunklen Kupfer.«
»Kupfer«, lautete meine knappe Antwort, und gespannt wartete ich, bis sie es aus den hinteren Räumen geholt hatte und mich zu den Umkleidekabinen bat.
»Ich vermute, Sie haben etwas gefunden«, schlussfolgerte Jason, als ich zusammen mit der Verkäuferin an ihm vorbeieilte.
»Mein Traumkleid, Jason. Drücken Sie mir die Daumen, dass es passt.«
»Wir drücken alles, was zum Drücken vorhanden ist, Kind«, rief Ernestine mir nach und lachte, als ich einen kleinen Luftsprung machte.
Es war ein Traum aus anschmiegsamer Seide. Den Oberkörper betonte eine perfekt sitzende Korsage, gehalten von hauchdünnen Spaghetti-Trägern. Ein langer Schal stellte das einzige Zugeständnis an Dekor dar. Der Rock, auf Hüfthöhe angesetzt, fiel in mehreren Lagen weich nach unten. Bei jeder Bewegung wurde ich von zartem Rauschen begleitet. Ein Kleid, schnörkellos, schlicht -genau so, wie ich es haben wollte. Und es passte, als sei es für mich gemacht.
»Was haltet ihr davon?« Mit erhobenen Armen drehte ich eine Pirouette vor Jason und Ernestine.
»Es ist in der Tat gewöhnungsbedürftig ... rot«, brachte Jason erstaunt heraus, während seine Begleitung den Mund erst einmal nicht zubekam. Nach einem leichten Schubs von Jason hatte sie sich jedoch wieder gefangen. »Ja, es ist irgendwie außergewöhnlich.«
Enttäuscht ließ ich die Arme sinken. »Ihr findet es blöd, richtig?«
»Nein. Nein, überhaupt nicht, Miss McNamara. Es ist lediglich etwas anders als das Weiß oder Creme, das zu solcherlei Anlässen den allgemeinen Konventionen und Erwartungen entsprechend für gewöhnlich gewählt wird.«
Ernestine hatte sich erhoben und ging langsam um mich herum. »Also, ich mag es. Der Stil ist von zeitloser Eleganz und passt hervorragend zur Haarfarbe der Trägerin. Und in der Tat: etwas ganz anderes. Wie ohnehin alles etwas anders ist als bei gewöhnlichen Hochzeiten. Ich glaube, es wird dem künftigen Gatten gefallen. Was meinen Sie, Jason?«
»Wenn es Miss McNamara gefällt, wird es auch Mr. Knight gefallen.« Lächelnd wandte er sich an die Verkäuferin, die sich dezent im Hintergrund gehalten hatte. »Haben Sie das passende Schuhwerk zu diesem Kleid?«
»Selbstverständlich.« Sie eilte abermals nach hinten und kehrte kurz darauf mit mehreren Kartons zurück.
Wie es laut Murphys Gesetz nun einmal ist, waren es natürlich die letzten Schuhe, die das Rennen machten. Flach, vorne geschlossen, mit Riemchen über dem Knöchel und recht breitem Absatz. Selbst die Farbe entsprach fast der des Kleides, sie war nur eine Nuance dunkler. Nachdem auch das geklärt war, suchte Ernestine den passenden Kopfschmuck für mich aus. Er bestand aus einem Haarreif und einigen Bändern, die ins Haar geflochten werden sollten.
»Schmuck«, ordnete sie an, da bremste ich ihren Elan: »Darian hat mir vor drei Tagen Diamantenohrstecker geschenkt. Die werde ich tragen.«
»Keine Kette?« Ich schüttelte den Kopf, sie seufzte. »Also gut, dann sehr schlicht.« Ich lächelte.
Nachdem ich den Traum eines Kleides wieder gegen den Albtraum einer zu engen Jeans eingetauscht hatte, erwischte ich Ernestine und Jason vor dem Verkaufstresen in einer hitzigen Diskussion. Entgegen meiner guten Erziehung blieb ich in einiger Entfernung stehen, um den Grund ihres Zwistes zu erfahren.
»... und ich verlange, dass Sie in diesem Fall von dem üblichen Recht zurücktreten und mich diese Summe begleichen lassen, Mrs. Morningdale. Mr. Knight gab mir diesbezüglich genaue Anweisungen.«
»Wissen Sie was, Jason? Das ist mir völlig schnurz.« Ihre kleine Hand landete auf seiner Schulter, und sie schob den zwei Köpfe größeren Mann resolut beiseite. Dabei legte sie eine Plastikkarte auf den Tisch und drückte Jason dessen eigene wieder in die Hand. »Es ist sowohl das Privileg als auch die Pflicht der Brauteltern, die Braut auszustatten. Duncan ist der Brautvater, dementsprechend kann mir Darian samt seinen Anweisungen den Buckel runterrutschen. Nun packen Sie die Sachen schon ein, und sehen mich nicht so geschockt an, Jason.«
Amüsiert, aber die Ahnungslose mimend, trat ich auf die beiden zu. »Alles schon verpackt?«
»Und beglichen«, fügte Ernestine knapp hinzu, unterschrieb und steckte die Karte wieder ein. »Dann können wir ja endlich etwas essen. Wie steht es mit euch?«
Die Pizzeria ein paar Straßenecken weiter kam da wie gerufen.
Diesmal war es Jason, der die Rechnung – diesmal ohne Ernestines Gegenwehr – begleichen durfte.
«Bilde dir nicht ein, dass ich mir das weiter gefallen lasse, du Schlampe. Das Maß ist endgültig voll!«, dröhnte es uns quer über die Straße entgegen, als wir vor der Werkstatt dem Taxi entstiegen.
»Dann hau doch ab«, kreischte es, begleitet von aufgeregtem Bellen.
»Das werde ich auch tun. Vorher erschlage ich aber deinen kläffenden Köter!«
Ein Quieken, ein Klirren und der panische Schrei: »Nimm deine dreckigen Hände von Cha-Cha, du Mistkerl!«
»Manche Leute wären gut beraten, bei Streitigkeiten die Fenster zu schließen«, murmelte Jason und bezahlte den Fahrer des Taxis.
»In diesem Fall, mein Guter, handelt sich eher um die Haustür«, meinte Ernestine leichthin.
Da flog ein Seesack durch die Luft und landete auf der Straße. Eine Tasche folgte, dann stürmte ein großer, schlanker Mann um die dreißig aus dem Gebäude rechts von uns. Sein kurzes, schwarzes Haar war zerzaust, seine linke Gesichtshälfte gerötet, und seine rechte Hand blutete. »Ich lasse dein bissiges Scheißvieh einschläfern, verdammt!«
Der buntblonde Schopf von Lucinda Pester tauchte kurz in der Tür auf. »Vorher bringe ich dich um, Arschloch !« Dann verschwand er wieder. Krachend fiel die Tür ins Schloss.
»Hättest du Bauerntrampel wohl gerne, was? Und den hier kannst du dir sonst wohin schieben!« Wutentbrannt zerrte er einen Schlüssel von seinem Bund und warf ihn neben den Blumentopf auf der Treppe. Dann schulterte er seine Taschen und verharrte einen Moment lang reglos, als wüsste er nicht wohin.
»Fürwahr entzückend, diese Dame«, ließ Jason verlauten. »Benötigen Sie ein Taxi, junger Mann? Dieses hier ist gerade frei geworden.«
»Ich glaube, ein Scotch und ein Verband sind sinnvoller«, erklang Alistairs Bariton hinter uns. »Komm rüber, Jeff, ich werf' mal ein Auge drauf.«
»Elendes Drecksvieh«, murmelte der Mann und folgte Alistairs Einladung mit sichtbarer Entspannung. »Entschuldige, dass ich dich da wieder mit reinziehe, Al.«
Mein Bruder winkte knapp ab. »Spielt schon keine Rolle mehr. Komm ins Büro, da habe ich Jod und Verbandszeug. Kennst du meine Schwester eigentlich schon?«
Nacheinander wurden Ernestine, Jason und ich Jeffrey Wittacker vorgestellt und schüttelten seine unverletzte Hand. Obwohl er sichtlich Schmerzen hatte, lächelte er mit blitzenden blauen Augen, und sein Gesicht wirkte dadurch um ein Vielfaches jünger. Dann überließ er Alistair den Seesack und eilte mit der anderen Tasche über der Schulter meinem Bruder hinterher.
»Ich möchte vermuten, dass dies einer der Gründe für das gespannte nachbarschaftliche Verhältnis ist«, meinte Jason schließlich, nahm Ernestine die Tüte mit dem Kleid ab und bat uns mit einer einladenden Geste, voranzugehen.
Die Tür wurde uns von Kimberly geöffnet, die insbesondere mich breit anstrahlte. Dann sah ich den Grund und lachte ihr vergnügt zu. Ihre Arme landeten um meinen Hals und ihr »Danke« klang irgendwie leicht erstickt. Zögernd ließ sie mich los, trat zurück und drehte sich einmal im Kreis. Jason zwinkerte mir zu, während er den Glencheck-Minirock gebührend bewunderte, den er vom gemeinsamen Einkauf her wiedererkannte. Ich hatte ihn heute in Seidenpapier gehüllt und mit einem Kärtchen darauf auf dem Küchentisch deponiert. Kimberly hatte ihn mit einem schwarzen, ärmellosen Pulli und einer schwarzen Leggins kombiniert und zudem einen breiten, silbernen Gürtel um ihre Hüften geschlungen.
»Freut mich, dass er dir gefällt, Kim.« Ich legte ihr einen Arm um die Schultern und gemeinsam gingen wir in die Küche, aus der mir schon frischer Kaffeeduft in die Nase stieg. Wie umsichtig von dieser jungen Dame, uns ältere Semester nach einer ermüdenden Shopping-Tour mit diesem belebenden Elixier zu beglücken.
»Ich dachte mir, dass du danach lechzt«, erklärte sie und nahm eine Tasse aus dem Schrank. »Außerdem wollte ich dir auf diese Weise danken, wenn ich dir schon kein Geschenk machen kann, Tante Faye.«
»Dieser Jeff, begann ich vorsichtig, doch Kim hob abwehrend die Hand. »Keine Bange, Tante Faye. Da ist kein Fettnäpfchen in Sicht. Jeff und Daddy kennen sich, seit wir hier wohnen. Er ist bereits der fünfte und wohl hartnäckigste Freund von Madame Pöbel. Diesmal scheint er es aber ernst zu meinen, er hat seine Sachen mitgenommen.«
»Dann ist er schon öfter getürmt?«, schaltete sich Ernestine ein, ließ sich neben mir nieder und griff wie selbstverständlich nach meiner Kaffeetasse. Während ich eine Grimasse schnitt, lachte sie mich über den Rand hinweg an.
»In schöner Regelmäßigkeit. Falls ich mich nicht verzählt habe, dann in den drei Jahren ihrer Beziehung mindestens sechsmal. Dreimal war es, weil er sie angeblich beim Fremdgehen erwischte. An Daddy hat sie sich aber die Zähne ausgebissen. Er mag keine tiefergelegten Mietwagen mit schwacher Beleuchtung. Jeff fährt zur See, und in der Zwischenzeit erliegt die dusslige Landpomeranze dem bestechenden Charme der Großstadt.« Kim lachte zynisch und hielt sich dann verlegen den Mund zu. »War ich jetzt gemein?«
»Man kann sich seine Nachbarn nicht immer aussuchen, Miss Kimberly. Miss McNamara, ich habe Ihre Kleidung nach oben gebracht. Ist eventuell ein Tee vorbereitet?«
»Danke, Jason. Sehr umsichtig.«
»Wasser kocht und muss nur noch aufgebrüht werden, Jason.« Kimberly nahm den Kessel von der Flamme und füllte eine weiße Keramikkanne, in der ein Sieb mit losem Tee steckte. Jason honorierte es mit einem anerkennenden Nicken.
»Wo sind Dad und Darian?«, erkundigte ich mich nach den beiden fehlenden Männern und nahm gleichzeitig eine neue Tasse Kaffee in Empfang.
»Sie wollten ein paar Dinge erledigen.« Kimberly kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Ein Handwerker ist vorhin hier gewesen, hat sich die leckende Heizung angesehen.«
So, wie ich den kompletten Zustand des Hauses einschätzte, war die Heizung nicht das einzige, was marode war. Ich konnte mir gut vorstellen, dass Dad dagegen etwas unternehmen wollte. Vermutlich hätte ich es auch getan, wenn ich über die nötigen Mittel verfügte. Daher nickte ich knapp, behielt meine Meinung jedoch für mich.
»Wie läuft es in der Schule?«, fragte Ernestine und rutschte etwas beiseite, als Jason die Zeitung vom Stuhl neben ihr nahm und sich setzte.
Kimberly zuckte leicht zusammen, entfernte das Teesieb und stellte eine Tasse vor Jason. Während sie ihm Tee einschenkte, sah sie bemüht gelangweilt auf. »Geht so. Der übliche Kram halt.«
»Und was wäre der übliche Kram?«, hakte die Ältere nach.
Ich hörte nur noch mit einem halben Ohr zu und ließ meinen Blick über die Rückseite der Zeitung streifen, die Jason aufgeschlagen vor sich hielt. Plötzlich sprang mir ein Artikel ins Auge, und ich rückte näher. Das konnte jetzt nicht wahr sein!
»Möchten Sie eventuell diesen Teil lesen, Miss McNamara?« Er hatte die Zeitung gesenkt und sah mich neugierig an, als ich mit schief gelegtem Kopf mehr zu erfahren suchte.
»Nur den einen Artikel, Jason.« Beinahe hektisch zog ich das Blatt hervor, breitete es auf dem Tisch aus, und hielt die Luft an. Ich hatte richtig gelesen. Und dann das Bild. Unmissverständlich und absolut eindeutig. Eine Person inmitten einer riesigen Blutlache, verdeckt von einem Tuch, unter dem ein Stück eines dunklen Mantels hervorlugte. Der umgekippte Einkaufswagen, die verstreuten Habseligkeiten, entleerte Tüten. Gelbes Band sperrte den Tatort ab, mehrere Cops standen drumherum. Darunter der Artikel über den Fund einer Frauenleiche in einer Gasse nahe der Brooklyn Bridge. Der vermutete Zeitpunkt des Todes wurde mit zwei Uhr nachts angegeben.
Ich sah auf das Datum. Es war die aktuelle Ausgabe. Mein Blick begegnete Jasons. Er sah auf den Artikel und dann wieder mich an. In seine Augen trat eine Frage, die ich ihm mit einem angedeuteten Nicken beantwortete. Kurzerhand faltete er die Zeitung zusammen. Später, formten seine Lippen lautlos, als er nach seiner Teetasse griff. Abermals nickte ich knapp.
Ernestine und Kimberly hatten von all dem nichts bemerkt und unterhielten sich weiter über die Notwendigkeiten von Schule und anschließender Ausbildung. Nach einer Weile entschuldigte ich mich und verließ die Küche. Ich zog das Handy aus meiner Hosentasche und wählte Darians Nummer. Es knackte in der Leitung, klingelte dreimal, dann nahm er ab.
»Ich muss dich sprechen. Wo bist du?«, kam ich ohne Umschweife zur Sache.
»In einer guten Stunde sind wir zurück. Was ist los?«
»Sie ist tot, Darian.«
Er klang sofort alarmiert. »Wer?«
»Die Frau, die uns vor dem drugstore begegnet ist.«
Es schien ihn nicht zu überraschen, denn seine Stimme klang entspannter: »Ja, ich habe es heute Morgen gelesen. An dem Tod dieser Frau ist nichts mehr zu ändern, Faye. Warum also sollte ich weiter darüber nachdenken?«
»Warum hast du es mir nicht gesagt?« Ich kroch fast in den Hörer, dämpfte meine Worte, damit sie in der Küche nicht gehört würden.
»Ich hielt es für nicht relevant, Faye.«
»Du ...« Ich riss mich zusammen, atmete tief durch. »Okay. Gut. Für mich ist es durchaus relevant. Egal. Wie du schon sagst, es ist nicht mehr zu ändern. Das nächste Mal wünsche ich allerdings einen Hinweis.«
Ihm war anzuhören, wie wenig es ihm behagte: »Wie du wünschst, Liebes. Wir reden später darüber, ich habe hier noch etwas zu erledigen. Nein, Duncan, den anderen. Warte ...« Es klickte, ein Besetztzeichen erklang, ich legte auf.
»Haben Sie ihn erreicht?«
Erschrocken drehte ich mich um. »Jason! Wollen Sie mich zu Tode erschrecken?«
»Verzeihung, Miss McNamara. Ich hatte keinesfalls vor, Ihre Herzfrequenz ungebührlich in die Höhe zu jagen.« Warum schmunzelte er bei diesen Worten?
Ich überging es. »Darian wusste bereits vom Tod dieser Frau. Er hat die Zeitung wohl vorher gelesen.«
»Das ist in diesem Fall zu vermuten. Möchten Sie sich etwas hinlegen, Miss McNamara? Sie wirken erschöpft.«
»Nicht wirklich. Aber ich werde das Kleid weghängen, bevor Darian zurück ist. Und mich umziehen.« Das Öffnen des oberen Jeansknopfs brachte merkliche Entspannung. Jason sah mich verständnisvoll an und begab sich zurück zu seiner Teetasse, ich ging ein Stockwerk höher.
Das Kleid auf den mitgebrachten Bügel zu hängen, war das geringere Problem. Aber wo sollte ich es verstecken, wenn kein Schrank vorhanden war? Es zusammengefaltet unter dem provisorischen Bett oder gar der Schlafcouch zu verstauen, kam nicht infrage. Mir blieb nur eine Möglichkeit.
Nachdem ich mir die neue Jeans angezogen hatte, die ohne die dazugehörige Fülle noch dezent an einen Sack erinnerte, aber immerhin nicht drückte, legte ich das Kleid über den Arm, schnappte die Schuhe und eilte hinunter. In Ernestines kargem Gästezimmer gegenüber der Toilette befand sich neben einem schmalen Holzbett ein zweitüriger Kleiderschrank. Was lag also näher, als sie zu fragen, ob ich das Kleid dort deponieren durfte?
Natürlich war Ernestine einverstanden. Auch wollte sie die Aufgabe übernehmen, mir an meinem Hochzeitstag beim Ankleiden zu helfen. Merkwürdig, eigentlich ein Job für meine Mutter. Ich vermisste sie jedoch nicht ein bisschen. Seit sie sich vor vielen Jahren nach Rom zurückgezogen und meine Schwester und mich bei meinem Vater gelassen hatte, war der Kontakt entsprechend sporadisch geworden. Wir telefonierten einmal im Monat miteinander, tauschten das absolut Notwendige aus, aber das war es dann auch schon. Gesehen hatte ich sie das letzte Mal im Alter von knapp zwanzig, als ich eine Studienreise nach Rom unternommen hatte. Nähergekommen waren wir uns in dieser Zeit nicht. Mein Verhältnis zu Ernestine hingegen war in nur wenigen Tagen wesentlich enger geworden. Wir verstanden uns ohne viele Worte. Oft schien sie vorauszuahnen, was ich dachte. So wie eben, als ich mit dem Kleid in der Küche erschienen war und sie es mir sogleich abgenommen und bei sich untergebracht hatte. Sollte das Verhältnis von Mutter und Tochter nicht genau so sein? Ich nahm mir vor, meinem Kind all das zu geben, was mir persönlich oft gefehlt hatte.
Ich stand am Küchenfenster, hielt meine Tasse in der Hand und sah nachdenklich in die einbrechende Dämmerung hinaus. Hinter mir hörte ich Kimberly und Ernestine miteinander scherzen, Jason blätterte in der Zeitung. Es klang alles so normal und familiär, als sei es schon immer so gewesen. Noch drei Tage, dann war Samstag. Der Samstag, an dem ich das Kleid tragen würde. Der Tag, an dem ich meine persönliche Freiheit aufgeben würde, auf die ich ohnehin nicht so viel Wert legte. Der Tag, der mich an diesen fantastischen und doch geheimnisvollen Mann binden würde. Also kein Grund, noch kurz vorher kalte Füße zu bekommen. Torschlusspanik? Kopfschüttelnd verbiss ich mir ein Lachen. Hätte ich abhauen wollen, wäre das vor Monaten sicherlich sinnvoller gewesen.
Regentropfen trommelten gegen die Scheibe und lenkten meine Aufmerksamkeit zurück auf den nassen Asphalt vor der Werkstatt. Jeff und mein Bruder traten in den Hof, ein Taxi hielt. Sie umarmten sich und klopften einander dabei kameradschaftlich auf die Schultern. Dann warf Jeff seine Taschen auf den Rücksitz, stieg ein und fuhr vom Hof. Alistair blickte ihm kurz nach, danach ging er zurück in die Werkstatt. Die Pfützen auf der Straße reflektierten die Scheinwerferkegel der vorbeifahrenden Wagen.
Ein näher kommendes Röhren, das wie das asthmatische Husten eines Esels kurz vor dem Verenden klang, zog meinen Blick die Straße entlang. Als ein offenes Cabriolet in Sicht kam, dessen Insassen wie halb ertrunkene Hunde wirkten, klappte mein Mund in wortlosem Erstaunen auf. Denn je näher der Wagen kam, desto genauer waren die durchweichten Gestalten darin zu erkennen. Die eine davon war blond, die andere rothaarig.
Meine Kaffeetasse landete schwungvoll auf dem Tisch, ich flitzte aus der Küche, griff im Bad ein Handtuch, im Flur einen Regenschirm und trat aus dem Haus.
»Das verflixte Dach klemmt«, rief Darian mir entgegen, als er den Wagen direkt vor der Werkstatt abstellte und über die geschlossene Tür sprang.
»Die Tür anscheinend auch. Handtuch gefällig?«, gab ich trok-ken zurück.
»Vergiss das Rohr und die Anschlüsse nicht«, rief Dad, während er sich aus dem Sitz schälte und ebenfalls über die Tür kletterte. Darian hatte indes mit dem Schloss des Kofferraums einen innigen Disput, den er nach einigen Minuten gewann, die Haube anhob und mehrere schmale Kartons nebst einem gebogenen Rohr hervorholte.
»Du solltest dieses Gefährt besser irgendwo unterstellen, bevor es zu einer Badewanne mutiert und dir so vollständig unter dem Hinterteil wegrostet, Schwager«, klang es da aus der Werkstatt. »Neben den alten Autoreifen hinten in der Halle ist noch Platz. Anschließend kannst du mir verraten, was du mit diesem Altmetallhaufen vorhast.«
»Restaurieren, Alistair.« Darian übergab meinem Vater die Schachteln, sprang in den Wagen und startete den Motor. Das heißt, er wollte ihn starten. Doch auch in diesem Fall waren sich Fahrer und Wagen uneins. Es ruckte, es kreischte, dann erstarb jedes weitere Geräusch.
»Super«, stöhnte Alistair und trat hinaus in den Regen. »Dad, leg die Kartons beiseite. Falls du eine Hand frei hast, Faye, wäre das wunderbar. Ich hasse solche Krücken, wirklich.«
Gemeinsam schoben wir den Wagen in die Werkstatt bis vor die besagten Autoreifen. Abermals stieg Darian über die klemmende Tür und hatte dabei ein Lächeln im Gesicht, als habe er den Jackpot geknackt.
»Ist er nicht fantastisch?« Beinahe zärtlich ließ er seine Hand über den stumpfen, mit diversen braunen Stellen übersäten silbernen Lack des Wagens gleiten.
Ich schnalzte missbilligend und zog die Nase kraus. »Was ist an dieser Rostlaube fantastisch?«
»Das ist ein Shelby Cobra 427 SC, Baujahr 1965, Faye! Einer von nur 348 weltweit produzierten Wagen, und keine Rostlaube! Stell ihn dir in voller Pracht vor. Er braucht nur etwas Politur -«
»- einen neuen Motor, eine komplette Runderneuerung und ein warmes Bettchen, schon klar«, unterbrach ich ihn abwinkend und lachte, als Darian mich leicht pikiert ansah.
»Du erwartest von einer Frau doch nicht wirklich, dass sie ein solches Schätzchen zu schätzen weiß, Schwager«, witzelte mein Bruder, legte seine Hände auf meine Schultern und schob mich zum Ausgang. »Lass das mal uns Männer machen. Benzingespräche sind unser Metier.«
»Das Handtuch lass hier und nimm dafür die Kartons mit«, meinte Dad, drückte sie mir in die Arme und schob mich zum Werkstatttor. »Sag Erni, es dauert etwas länger.« Und schon stand ich wieder im Regen, während Dad zurück zu dem neuen Schätzchen eilte. »Meinst du, du bekommst den Motor wieder hin, Alistair?«
Verwundert es, dass auf meinem Weg ins Haus Jason mit leicht geröteten Wangen im Stechschritt an mir vorbeieilte, um ebenfalls den Neuankömmling gebührend zu begrüßen? Kopfschüttelnd begab ich mich nach oben, stellte die Schachteln mitsamt Rohrteil neben dem Bad ab und gesellte mich zu Ernestine und Kimberly in die Küche.
Es wurde an diesem Abend sehr spät, ehe wir die Männer sahen.