Eadulf sah sie erstaunt an. Scherzte sie, oder war es ihr ernst? »Bestimmt irrst du dich«, meinte er. »Alle schwarzen Katzen sehen gleich aus.«
Fidelma schüttelte energisch den Kopf. »Wenn sich einer irrt, dann bist du es. Jede Katze hat ihr eigenes Aussehen und ist eine Persönlichkeit für sich. Das war Luchtigern. Da bin ich sicher. Nur, wie kam der Kater hierher?«
So schnell war Eadulf nicht zu überzeugen. »Du willst doch nicht behaupten, er ist über Bord gesprungen und hergeschwommen?«
Sie mühte sich, ihre Verärgerung nicht zu zeigen. »Du brauchst mich nicht zu veralbern, Eadulf! Ich bleibe dabei, das war Luchtigern. In seinem Nackenfell klebt ein Klumpen Teer. Ich habe ihn deutlich gefühlt, wie schon auf dem Schiff. Wenbrit wusste davon und wollte den Teerklecks herausschneiden, doch dann wurden wir überfallen.«
Eadulf schwieg. Er wusste, es war zwecklos, sich mit Fidelma zu streiten, wenn sie sich einer Sache völlig sicher war. Und gegen den Beweis mit dem Klumpen Teer war ohnehin nicht anzukommen.
»Aber wie …?«, fing er nach einer Weile trotzdem an.
»Frag mich nicht, wie er hierhergekommen ist«, bremste sie ihn. »Kann ja sein, dass die Ringelgans in den Hafen geschleppt wurde und der Kater dann entwischt ist.«
»Hier in der Nähe gibt es keinen Hafen«, wandte Eadulf ein. »Du hast doch gesehen, die Strände sind lang und flach. Ein Schiff könnte nur weit draußen im Meer ankern, und keine Katze könnte über so eine Entfernung ans Ufer schwimmen.«
»Dann müssen wir eben die ganze Küste ringsherum absuchen. Wenn Luchtigern hier ist, sind vielleicht auch die in der Nähe, die den Überfall überlebt haben. Allzu weit dürfte sich der Kater nicht von ihnen entfernt haben.«
»Streunen Kater mitunter nicht stundenlang umher?« Eadulf suchte nach einer Erklärung. »Das Schiff kann ja sonst wo liegen.«
Fidelmas Miene ließ erkennen, was sie von seinen Überlegungen hielt. Argwöhnisch schaute sie sich um. »Wir müssen Vorsicht walten lassen, bei allem, was wir sagen. Noch wissen wir nicht, wem wir trauen können und wem nicht.«
»Bruder Metellus doch aber bestimmt, schließlich hat er uns gerettet.«
»Gerettet schon«, stimmte sie ihm zu, »aber als du die Taube am Schiffsrumpf erwähnt hast, wurde er hellhörig. Er schien auch nicht erbaut davon, dass wir den Gaugrafen aufsuchen wollen.«
Zu weiteren Überlegungen kamen sie nicht, denn Bruder Metellus erschien im Gefolge eines älteren Herrn. Der war von gedrungener Statur und hatte ein aufgeschwemmtes Mondgesicht mit roten Wangen. Das volle Haar war silbergrau und gelockt. Die Tonsur hatte er sich nach der Art des heiligen Petrus scheren lassen. Die Augen waren dunkel und wirkten unergründlich, waren mehr Maske als Persönlichkeitsmerkmal. Er war in das dunkle Gewand eines Geistlichen gekleidet; die goldene Kette mit dem Kruzifix, die er um den Hals trug, bezeugte seinen Rang als Abt. Bei seinem kühlen Begrüßungslächeln verzog er kaum die Lippen.
»Pax vobiscum, meine Kinder. Seid willkommen in unserer kleinen Gemeinde«, redete er sie auf Latein an.
»Pax tecum«, erwiderten sie höflich, fast wie aus einem Munde.
»Bruder Metellus hat mir von eurem Abenteuer berichtet, das ihr, Deo iuvante, überlebt habt.«
»Mit Gottes Hilfe, fürwahr«, murmelte Eadulf.
»Auch seid ihr jeglicher Mittel beraubt, wie ich hörte. Doch ihr könntet Glück im Unglück haben. In wenigen Tagen erwarten wir einen Kaufmann, Biscam mit Namen, der regelmäßig unsere Gemeinschaft besucht. Er gedenkt binnen kurzem nach Naoned weiterzureisen. Ich bin sicher, er wird euch seinen Schutz angedeihen lassen und euch in seinem Trupp unterbringen. Schiffe aus vielen Ländern legen in Naoned an, auch welche aus eurer Heimat, wie mir Bruder Metellus berichtet. Dort werdet ihr gewiss eine günstige Gelegenheit für eure Heimfahrt finden.«
Er äußerte sich mit einer Bestimmtheit, als erwartete er keinerlei Gegenfrage.
»Vielen Dank für den freundlichen Zuspruch«, begann Fidelma.
Aber der Abt hörte kaum hin und fiel ihr sofort ins Wort. »Bis jedoch der Kaufmann eintrifft, müssen wir euch eine Unterkunft verschaffen. Unweit der Abtei gibt es ein kleines Fischerdorf.«
Er schwieg und machte eine seltsame Handbewegung. »Versteht, bitte, wir sind eine Gemeinschaft von Mönchen, die das Gelübde der Keuschheit abgelegt haben, auf dass wir vom wahren Weg zu Gott nicht abkommen. Demzufolge haben wir bei uns keinerlei Möglichkeit, eine Frau zu beherbergen.«
»Ich habe gehört, hier in der Nähe hat der Gebietsherr seine Burg«, warf Fidelma ein. »Vielleicht würde der aus Ehrerbietung gegenüber meinem Bruder, dem König von Muman, uns seine Gastfreundschaft erweisen und dafür sorgen, dass wir sicher nach Hause gelangen.«
Eine Wolke des Unmuts zog über Abt Maelcars Gesicht. Offensichtlich behagte es ihm nicht, seine Pläne durchkreuzt zu sehen. »Der Herr auf Brilhag weilt gegenwärtig nicht auf seiner Burg. Soweit mir bekannt ist, hält er sich am königlichen Hof in Naoned auf. Es ist das Beste, ihr reist dorthin, sobald Biscam, der Kaufmann, aufbricht.«
»Nichts liegt mir ferner, als eurer Gemeinschaft Ungelegenheiten zu bereiten«, entgegnete Fidelma kühl.
»Dazu kommt es auch nicht«, sagte der Abt seelenruhig. »Bruder Metellus wird euch ins Dorf bringen und sich darum kümmern, dass ihr eine Schlafstelle und Mahlzeiten erhaltet. »Ihr könnt euch ganz nach Belieben frei bewegen, abgesehenvon der Abtei.« Er unterbrach sich und zuckte die Achseln. »Der Grund dafür liegt auf der Hand. Der einträchtige Frieden, der in unserer Gemeinschaft herrscht, soll nicht gestört werden. Bruder … äh … Eadulf«, der ungewohnte Name ging ihm schwer über die Lippen, »mag sich uns anschließen, falls er das wünscht, entweder bei den Mahlzeiten oder bei den Gottesdiensten. Doch dir, Schwester, können wir derartige Gastlichkeit nicht bieten. Unsere Regeln sind unerbittlich.«
»Ich möchte euch nicht zur Last fallen, Abt«, mischte sich Eadulf rasch ein, noch ehe Fidelma etwas erwidern konnte. Ihre Verärgerung war nicht zu übersehen, und aus Erfahrung wusste er, ihre Entgegnung würde scharf ausfallen. »Wir sind mit allen Anordnungen, die du triffst, zufrieden und sind dir dankbar für deine Großherzigkeit. Geht es uns doch wie dem Menschen auf dem Wege von Jerusalem nach Jericho, den Räuber niederschlugen, ausraubten und halbtot liegen ließen. Und handelst du nicht an uns wie der Samariter, der sich seiner annahm und ihn pflegte? Schon allein dessenthalben preisen wir deine Wohltätigkeit, Vater Abt.«
Fidelma wunderte sich zunächst, denn so salbungsvoll redete Eadulf sonst nicht. Dann begriff sie, dass sanfter Spott in seinen Worten mitschwang, die den Abt auf andere Gedanken bringen sollten. Abt Maelcar spürte offenbar nicht den ironischen Unterton, sondern nickte nur ernsthaft.
»Wenngleich ich nicht den Pfad gutheißen kann, den du, Bruder Eadulf, eingeschlagen hast« – dabei wanderte sein Blick von Eadulf zu Fidelma –, »so sind wir doch allesamt Christen und müssen den Grundsätzen unseres Glaubens dienen, nämlich Mitleid fühlen und Barmherzigkeit üben. Es ist Gottes Wille, dass bald alle Kirchen in diesen westlichen Landen eines Sinnes mit Rom werden und jede Abtei und jedes Kloster die Regula des heiligen Benedikt befolgt. Vor wenigen Tagen erst habe ich Nachricht von den Beschlüssen des Konzils von Autun erhalten, die besagen, diese Regula Benedicti ist fortan in jeder klösterlichen Gemeinschaft zu verwirklichen. Jede andere Lebensweise führt zu Zügellosigkeit und Verderbtheit. Wenn unsere Kirchen hier nicht von ihren althergebrachten Bräuchen ablassen, wird ihnen kein Lohn im Himmel zuteil.«
Fidelma musste heftig schlucken, doch Eadulf lenkte rasch ein. »Jedes Schaf findet den Weg zum Hirten auf seine Weise«, meinte er leichthin und lächelte. »Es dürfte von Interesse sein, dass wir zu den Delegierten zum Konzil von Autun gehörten«, ergänzte er und überging dabei Fidelmas warnendes Stirnrunzeln.
»Ihr wart unter den Delegierten?« Der Abt machte große Augen. »Das war doch ein Konzil der Bischöfe und Äbte. Wie konntet ihr dazugehören?«
»Schwester Fidelma hatte den Auftrag, dem Abt von Imleach, dem ranghöchsten Bischof im Königreich ihres Bruders, als Rechtsberaterin zur Seite zu stehen«, erläuterte Eadulf.
Zum ersten Mal während dieser Unterredung räusperte sich Bruder Metellus, verneigte sich ehrerbietig vor dem Abt und erklärte: »Schwester Fidelma ist Anwältin bei den hohen Gerichten ihres Landes.«
»Wann wird Biscam, der Kaufmann, hier eintreffen?«, fragte Fidelma laut und unvermittelt, denn ihr lag daran, das Gespräch wieder auf das vordringliche Problem zu bringen.
»Biscam? Morgen oder übermorgen müsste er hier sein. Er und seine Söhne treiben schon seit Jahren mit uns Handel.«
»Ich denke, wir sollten deine Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Abt Maelcar.« Fidelma schaute sich um und tat, als bemerkte sie ihre Umgebung erst jetzt. »Prächtig sieht es hier aus.«
Der Abt zog die Brauen hoch, verwundert, wie rasch sie das Thema wechselte. »Diesen Flecken Erde hat der heilige Gildas selbst gewählt.«
»Euer Kräutergarten duftet herrlich, und alles ist so wunderbar gepflegt.«
»Gott segnet die Hände unserer Brüder, die sich ums Gedeihen der Pflanzen mühen.«
»Vorhin ist eine Katze hier herumgestrichen. Ich nehme an, ihr haltet sie euch, um Schädlinge zu vertreiben, die oft genug einen Garten befallen.«
Es war offensichtlich, dass Abt Maelcar mit der Bemerkung nichts anzufangen wusste. »In der Abtei gibt es keine Katze«, entgegnete er knapp.
Fidelma tat überrascht. »Nein? Wirklich nicht? Ihr habt hier keinen großen schwarzen Kater?«
»In der Abtei gibt es weder Kater noch Katzen.«
»Aber ich habe doch eine durch den Garten streifen sehen.«
»Dann muss es eine aus dem Dorf sein. Und jetzt …« Der Abt beendete den Satz nicht und deutete damit an, dass er sie entließ.
»Natürlich. Verzeih. Wir haben dich schon zu lange von deinen Pflichten abgehalten.«
»Gewiss begegnen wir uns noch einmal, bevor ihr unsere Gemeinde verlasst«, sagte der Abt, wandte sich um und schritt auf das ebenerdige Gebäude zu.
Bruder Metellus hatte schweigend dagestanden, den Kopf geneigt, die Hände vor sich gefaltet. Er atmete auf und rührte sich, sobald der Abt gegangen war.
»Er hat mir aufgetragen, für euch zu sorgen, bis Biscam hier ist«, äußerte sich Metellus verdrossen. »Wo ich doch gehofft hatte, bei dem günstigen Wetter zu meiner Insel zurückzusegeln.«
Fidelma konnte ein verschmitztes Lächeln bei seinem Aufbegehren nicht unterdrücken. »Ein wahrhaft freundlicher Mensch ist der Abt wohl nicht. Er hat so etwas an sich …«, sie endete mit einem Achselzucken.
»Er ist überzeugt, der einzig richtige Weg, sich Gott zu nähern, besteht darin, sich streng ans Zölibat und die Regel des heiligen Benedikt zu halten. Die Art, wie religiöses Brauchtum und Gottesdienst in den Kirchen der Britannier und in eurem Land gefeiert werden, ist ihm verhasst. Das müsst ihr ihm nachsehen.«
»Wir sind ihm zu Dank verpflichtet, und vor allem dir, Bruder Metellus, für alles, was du für uns getan hast«, beeilte sich Eadulf zu beteuern.
Bruder Metellus erwiderte darauf nichts, sondern wies nur mit einer Kopfbewegung zur Nordseite der Umbauung. »Das Dorf liegt hinter dem Waldstück da.«
Ein schmales Waldgebiet trennte die Abtei von der kleinen Ansiedlung. Sie befand sich oberhalb der sandigen Bucht, in der ihr Retter Fidelma und Eadulf an Land gebracht hatte. Das Dorf war eine zweckmäßige Ansammlung von Gebäuden und hatte nichts Malerisches an sich. Die Häuser waren lediglich unschöne, klobige, aber immerhin bewohnbare Hütten.
»Wohin bringst du uns?«, erkundigte sich Fidelma.
»Zur Witwe Aourken«, war die Antwort.
»Und sie ist …?«
»Eine ältere verwitwete Frau. Ihr Mann war, soviel ich weiß, Fischer. Jetzt wohnt sie allein und hat genügend Platz in ihrem Haus.«
»Wir möchten ihr keineswegs Schwierigkeiten bereiten.«
»Das werdet ihr nicht. Sie beherbergt oft genug Reisende in ihrem Heim. Ich glaube, sie wird euch gefallen; sie hat ihre festen Ansichten und weiß sie beherzt zu verteidigen.«
Falls Bruder Metellus damit nur auf ihre körperlichen Kräfte anspielte, so war seine Beschreibung durchaus zutreffend. Aourken war mehr breit als groß. Ihre dicken Arme waren muskulös, und auf ihren Schultern, so schien es Eadulf, hätte sie einen schweren Sack fortschleppen können. Ihre Hände waren doppelt so groß wie seine, und die Erfahrung lehrte ihn, dass sie mit ihrem Händedruck mühelos einen Apfel zu Mus quetschen konnte. Sie hatte ein freundliches Gesicht, die Augen blickten leicht melancholisch und waren von unbestimmter Farbe. Das Haar, das ihr in unordentlichen Zöpfen bis auf die Schultern hing, war weiß und hier und da von dunklen Strähnen durchzogen. Ihre Zähne waren schlecht, doch sie versuchte das Übel mit einem schiefen Lächeln zu verbergen. Sie stand in der Tür ihres einstöckigen Steinhauses und sah ihnen entgegen, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Sei gegrüßt, Bruder Metellus.«
Das war aber auch alles, was Fidelma verstand, denn die Frau redete wie ein Wasserfall. Und wenn sie glaubte, das eine oder andere Wort erhascht zu haben, war die Betonung so anders, dass sie den Sinn nicht recht erfassen konnte. Nachdem Bruder Metellus sie von der Lage der Dinge unterrichtet hatte, wandte sich die Frau Fidelma zu und begann Lateinisch zu sprechen, zögerlich zwar, aber durchaus verständlich und grammatisch korrekt.
»Ich heiße dich willkommen, euch beide heiße ich willkommen.«
»Sei bedankt«, erwiderte Fidelma. »Nur möchten wir dir keine Unannehmlichkeiten bereiten.«
»Bruder Metellus hat mir erzählt, was euch zugestoßen ist. Dem Himmel sei Dank, dass ihr dem Überfall dieser Seeräuber entkommen seid.«
Fidelma horchte auf. »Weißt du mehr über diese Banditen?«
Die Frau breitete die Hände aus. »An der Küste hier sind Untaten von Seeräubern nichts Neues. Aber in jüngster Zeit sind selbst Bauernhöfe in Küstennähe geplündert worden, und immer von der See her.«
»Du sprichst ein vorzügliches Latein«, mischte sich Eadulf ein.
Aourken schmunzelte mit schiefem Mund. »Ich habe viele Jahre dem Glauben gedient. Dann begegnete ich meinem inzwischen verstorbenen Mann, und der überzeugte mich, lieber ihm als dem Kloster zu dienen. Es ging uns gut, Gottes Segen ruhte auf uns. Betrachtet mein Haus als euer Haus. Ich will gern alles tun, damit ihr euch bei mir wohlfühlt, bis ihr mit Biscam, dem Kaufmann, weiterzieht.«
»Vielen Dank für dein gastfreundliches Angebot«, entgegnete Fidelma liebenswürdig.
»Schon gut. Kommt herein, ich zeige euch, wo ihr schlafen werdet, und vielleicht möchtet ihr etwas essen und einen Becher Cidre trinken. Ich bin sicher, Abt Maelcar hat euch nichts angeboten.«
»Du scheinst ihn gut zu kennen«, meinte Fidelma lachend.
»Ich kenne Maelcar, seit er von Brekilien hierherkam. Als wir jung waren, haben wir zusammen gelernt. Gemeinsam beschlossen wir auch, uns der Gemeinschaft in der Abtei des Gildas anzuschließen. Damals war es dort so, wie es in anderen Klöstern auch heute noch ist. Wir waren eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die dem Glauben dienten und ihre Kinder in dem Sinne erzogen. Ich kannte Maelcar schon, bevor er anfing, die Legenden über Martin von Tours zu lesen und Geschichten über die geistlichen Brüder in den Wüsten im Osten und anderen unzugänglichen Orten in sich aufzunehmen. Darin ging es um Mönche, die Einsiedler geworden waren und sich dem Zölibat verschrieben hatten. Er war von deren Leben so angetan, dass er sich entschied, ihrem Beispiel nachzueifern.«
»Eine Wüste im Osten ist die Abtei nun gerade nicht«, bemerkte Fidelma trocken. »Doch von diesem Brekilien habe ich schon gehört. Wo liegt das eigentlich?«
»Nach Norden zu, es gehört noch zu unserem Königreich. Brekilien ist ein ausgedehntes Waldgebiet. Maelcar ist dort aufgewachsen, und er reist auch immer wieder hin. Erst vor kurzem ist er von so einem Besuch zurückgekehrt. Man sollte meinen, solche Besuche in der alten Heimat würden ihn milder stimmen, doch im Gegenteil, sie machen ihn nur noch mürrischer und verbissener. Man erzählt sich, er habe bei seiner Rückkehr über die lockeren Sitten an König Alains Hof gewettert, eine Bedienstete aus der Provinz würde dort Hurerei treiben mit des Königs Sohn.«
»Abt Maelcar sucht also sein Seelenheil im frommen Lebenswandel in völliger Abgeschiedenheit?«
Aourken warf ihr einen vielsagenden Blick zu und schüttelte den Kopf. »Nicht weit von hier liegt ein Insel, die wir jetzt Ome Manach’h, Insel der Mönche, nennen. Die hatte Maelcar anfänglich aufgesucht und sich bemüht, wie ein Eremit zu leben. Lange ausgehalten hat er es aber nicht und ist wieder zur Abtei zurückgekehrt. Dort hat er sich dann so gottesfürchtig aufgeführt, dass der alte Abt ihn zu seinem Verwalter gemacht hat. Alle in der Gemeinschaft haben ihn geachtet, und als der alte Abt starb, haben sie ihn gewählt. Kaum hatte er das Amt übernommen, vertrieb er sämtliche Frauen aus der Abtei, und die verbliebenen Männer mussten Keuschheitsgelübde ablegen und die Benediktinerregel befolgen. Und so läuft es in der von Gildas gegründeten Abtei auch heute noch.«
Bruder Metellus hatte schon mehrmals nervös gehüstelt. »Ich muss mich noch um etliche andere Dinge kümmern, muss ein paar Sachen beschaffen, die ich für meine Rückkehr nach Hoedig benötige«, entschuldigte er sich. »Ich lasse euch jetzt in Aourkens Obhut, meine lieben Freunde, und komme später wieder her.«
Als er fort war, verriet ihnen Aourken: »Der arme Bruder Metellus. Er stammt aus Rom und gehört auch zu denen, die sich veranlasst fühlen, ein widernatürliches Leben zu führen, und denken, damit unserem Glauben zu dienen. Warum hat Gott Männer und Frauen geschaffen? Doch wohl nicht, weil er wollte, sie sollten wie Eunuchen ihre Tage verbringen.« Sie lachte über ihren Witz und führte die Gäste in ihre düstere, aber anheimelnde, aus Steinen gebaute Wohnstatt, zeigte ihnen die Kammer, in der sie schlafen würden und wo sie sich waschen konnten. Nicht lange, und sie saßen draußen auf einer Holzbank, denn der Nachmittag war angenehm warm. Witwe Aourken stellte ihnen einen
Krug mit Cidre hin und Becher dazu und bewirtete sie mit frisch gebackenem Brot, Ziegenkäse und Äpfeln.
Sie selbst setzte sich auf einen Schemel neben der Tür, zog einen Sack mit Wolle zu sich heran und nahm einen Rocken und eine Spindel. Dann griff sie sich eine Handvoll Wolle, schlang sie lose um den Rocken, zwirbelte mit der linken Hand die Wolle zu einem Faden, der auf die mit der rechten Hand gehaltene Spindel lief. So schnell, wie sie ihre Finger bewegte, schien es ein Kinderspiel, die Wolle zu Garn zu spinnen. Sie tat es völlig selbstsicher, ohne nachzudenken, und redete dabei unablässig.
»Das Garn bringe ich zu meiner Base, die wohnt dahinten in der Hütte. Sie webt daraus Stoff für meine Kleider.«
»Hältst du auch selber Schafe?«, fragte Eadulf.
»I bewahre, nein. Ich habe ein paar Ziegen. Ich tausche Ziegenkäse und -milch gegen Wolle.«
»Ich stelle es mir recht schwierig vor, so zu leben ohne … ohne …«, Eadulf geriet ins Stocken.
»Ohne Mann, meinst du? Mein Mann war ein tüchtiger Fischer. Er und zwei andere ertranken, als ihr Boot zertrümmert wurde in der Einfahrt zum Morbihan, dem Kleinen Meer, wie wir es nennen. Die Flut kommt da sehr schnell herein, manchmal so schnell, dass sich keiner in Sicherheit bringen kann. Eins von den Fischerbooten geriet in Seenot. Mein Mann und seine Freunde wollten die Männer retten, doch ihr Boot wurde gegen die Felsen geschleudert und gänzlich zertrümmert, und sie ertranken. Das Meer ist ein unerbittlicher Lehrmeister. Aber die Fischersleute in unserem Dorf achten darauf, dass ich immer was abkomme von ihrem Fang und es mir an nichts fehlt. Ich versorge sie dafür mit meinem Ziegenkäse. So leben wir eben hier.«
Fidelma nickte verständnisvoll. »Auch bei uns zu Hause halten die Menschen ähnlich gut zusammen«, sagte sie, schaute sich um und fügte hinzu: »Du wohnst hier an einem günstigen Fleck.«
»Ja, wir leben in einer geschützten Ecke«, stimmte ihr Aourken zu.
»Haltet ihr euch auch kleine Haustiere?«, wollte Fidelma wissen. »Bei uns hängen viele Leute ihr Herz an Schoßhündchen und der gleichen.«
»Meine Schoßhündchen sind meine Ziegen«, erwiderte ihre Gastgeberin.
»Und Katzen, gibt es die auch?«
»O ja, im Dorf laufen etliche herum.«
»Also doch, mir war so, als hätte ich einen schwarzen Kater gesehen.«
Eadulf begriff plötzlich, was ihre Fragen bezweckten.
Aourken schüttelte den Kopf. »Eine schwarze Katze ist mir hier noch nie vorgekommen. Bei uns glaubt man, schwarze Katzen bringen Unglück. Die Leute fürchten sogar, dass Dämonen in ihnen stecken oder dass sie übernatürliche Fähigkeiten besitzen. Nein, schwarze Katzen würde hier keiner dulden. Die ganz Alten sind überzeugt, das waren früher Menschen, die nun für ihre schlechten Taten büßen.«
»Bei uns glauben die Leute genau das Gegenteil, denn die Frauen der Fischer halten sich schwarze Katzen«, wusste Fidelma zu berichten. »Ihre Männer sind oft auf See, und sie denken, die schwarzen Katzen würden sie vor Unheil schützen.«
Mit Rocken und Spindel beschäftigt, schwieg Aourken eine Weile und fragte schließlich: »Wieso interessieren dich überhaupt schwarze Katzen?«
»Auf der Ringelgans gab es einen schwarzen Kater, ein besonders prächtiges Tier.«
»Fidelma glaubt, sie hätte ihn im Garten der Abtei gesehen«, erklärte Eadulf, erntete dafür aber einen strafenden Blick.
»Ich habe ihn wirklich gesehen«, verteidigte sie sich. »Er ist leicht zu erkennen, weil er einen Klumpen Teer im Fell hat.«
Aourken schürzte die Lippen. »Du meinst, der Kater hat es vom Schiff hierher geschafft? Solange ich denken kann, ist nie ein großes Schiff in dieser Bucht vor Anker gegangen.«
Fidelma rutschte auf der Bank hin und her und blickte nachdenklich in den Becher mit Cidre, den sie in der Hand hielt. »Gibt es an der Küste hier überhaupt eine Stelle, wo große Schiffe Schutz suchen könnten?«, fragte sie unverblümt. Es machte keinen Sinn, bei Aourken besonders feinfühlig vorzugehen. »Du hast von Überfällen auf Bauernhöfe in eurer Gegend gesprochen.«
Aourken hörte mit dem Spinnen auf und schaute Fidelma fragend an, schwieg aber. Fidelma fand, es sei das Beste, mit der Frau ganz offen zu reden. Ihre freimütige Art bestärkte sie darin. Deshalb fuhr sie fort: »Ich denke mir, die Piraten müssen von irgendwo an dieser Küste gekommen sein. Als wir von Süden her auf die Küste zufuhren, erschien sie mir ziemlich langgestreckt und ohne natürliche Hafeneinbuchtungen. Alle möglichen Fragen drängten sich mir auf. Wo können Seeräuber sich da verstecken? Wohin können sie ein Schiff bringen, das sie erbeutet haben? Der Kater muss es doch geschafft haben, hier in der Nähe ans Ufer zu gelangen.«
Aourken zuckte die Achseln. »Ich fürchte, hier gibt es mehr als genug solcher Stellen«, erwiderte sie und zwirbelte weiter ihren Faden.
Fidelma und Eadulf sahen sich erstaunt an. »Soweit wir gesehen haben, sind die Strände ziemlich flach, und da, wo Felsen den Ufersaum bilden, kann man erst recht keinen geschützten Hafen vermuten.«
»Das trifft nur auf die Südküste zu. Wir leben auf einer schmalen Halbinsel. Wie ein Finger streckt die sich ins Meer. An der Wurzel des Fingers liegt die Abtei, und die Fingerspitze ist die Landzunge Noalou. Die stößt an eine Meerenge, und auf der anderen Seite ist eine weitere Landzunge, Penn hir heißt die. Und genau dort ist mein Mann ums Leben gekommen. Die Meerenge ist so etwas wie ein Kanal, der die offene See mit dem Morbihan verbindet. Das Kleine Meer ist ringsum von Land umgeben und hat nur diesen einen Einlass oder Ausgang. Außerdem münden Flüsse dort. Und unzählige Inseln gibt es, Inseln, zwischen denen sich ein Schiff oder ein Mensch bis in alle Ewigkeit verbergen kann.«
Gespannt folgte Fidelma ihrer Beschreibung. »Hast du nicht gesagt, die Durchfahrt ist gefährlich? Könnte ein großes Schiff da hindurch segeln?«
»Wenn erfahrene Seeleute an Bord sind und das Schiff robust gebaut ist, ja. Man kann da hinein und hinaus, aber man muss Flut oder Ebbe abpassen.«
»Flut oder Ebbe abpassen?« Fidelma runzelte die Stirn, versuchte, sich an etwas zu erinnern. Dann sah sie die schmächtige Gestalt im weißen Gewand vor sich. »Beeilt euch, sonst holt uns die Ebbe ein!« War es das, was der Mordgeselle in Weiß gemeint hatte? Sorgte er sich, wie sie sicher durch diese Passage kamen?
»Ich möchte mir gern ein Bild von diesem Morbihan machen können. So hast du es doch genannt.«
»Morbihan«, bestätigte die Frau. »Das ›Kleine Meer‹ bedeutet das in unserer Sprache. Wenn du es sehen willst, musst du auf die Nordseite der Halbinsel gehen. Du kannst aber auch westwärts wandern auf die Landzunge Noalan zu. Zunächst kommst du an einen Hügel, ›Kleine Anhöhe‹ heißt der bei uns. Auf der Kuppe stehen große Steinplatten, die in der Vorzeit aufgerichtet wurden. Das Grab eines bedeutenden Königs war dort, haben uns unsere Altvorderen erzählt – deshalb spricht man auch heute noch von Tumiegs Grab. Von da oben überschaust du die ganze Halbinsel, und dein Blick schweift über das Kleine Meer mit all seinen Inseln.«
»Wie viele Inseln, glaubst du, gibt es da?«, fragte Eadulf.
»Für jeden Tag des Jahres eine, wird oft gesagt. Aber gezählt hat sie wohl niemand. Mein Mann hat gemeint, keine hundert sind es, selbst wenn man die riesigen Felsblöcke mitzählt, die aus dem Wasser ragen.«
Beinahe hätte Eadulf vor Erstaunen gepfiffen. »Ist ja eine ganz schöne Menge. Sind auch größere darunter?«
»Ein paar davon sind so groß, dass Leute darauf wohnen.«
»Wie weit von hier ist es bis zu der Anhöhe, von der man das Kleine Meer sehen kann«, erkundigte sich Fidelma ungeduldig.
»Drei Meilen, und der Weg dahin ist gut.«
Fidelma schaute zum Himmel, doch Eadulf, der ahnte, was sie vorhatte, warnte: »Es ist zu spät, um jetzt loszugehen und noch vor Einbruch der Nacht zurückzukommen.«
Aourken unterstützte ihn. »Bruder Eadulf hat recht, dir bliebe keine Zeit, sich da umzutun, bevor es dunkel wird. Auch hättest du schon gar keine Gelegenheit, nach einem vor Anker liegenden Schiff Ausschau zu halten, es würde bereits dämmern, ehe du dort bist. Außerdem lässt sich so ein Segler mühelos zwischen den bewaldeten Inseln verstecken. Täusch dich nicht, meine Liebe, wir reden nicht von einem See. Es hat schon seinen Grund, dass wir das Gewässer das Kleine Meer nennen. Von einer Seite bis zur anderen ist es halb so weit wie zur Insel Hoedig, von wo ihr gekommen seid. Die Ufer sind zerklüftet, es gibt Ausbuchtungen und Flussmündungen. Nicht mal eine ganze Flotte von Kriegsschiffen könntest du dazwischen ausmachen. Hier war das Hauptgebiet der Veneter, die sich gegen die Römer zur Wehr setzten.«
»Du scheinst dich auf dem Meer gut auszukennen«, bemerkte Eadulf.
»Als wir jung waren, bin ich mit meinen Mann dort umhergesegelt.« Sie sah, dass ihre Spindel voll war, legte sie zur Seite und nahm eine andere zur Hand.
Noch immer unentschlossen, blickte Fidelma zum Himmel. »Also gut, dann eben morgen früh. Wir werden uns zeitig auf den Weg zum Grab des Tumieg machen. Wir möchten von den Ausmaßen des Kleinen Meers selbst einen Eindruck gewinnen.«
Bekümmert schüttelte Aourken den Kopf. »Was bist du doch für ein sonderbarer Mensch. Ich an deiner Stelle wäre heilfroh, dem Piratenüberfall entkommen zu sein, und würde die Heimreise antreten, sobald ich nur könnte. Ich würde mich hüten, diesen grässlichen Kerlen noch mal in die Quere zu kommen.«
»Ich bin den Toten verpflichtet und auch der Gerechtigkeit«, erwiderte Fidelma schlicht. »Es besteht ja die Möglichkeit, dass einige von der Schiffsbesatzung noch am Leben sind – und dann wäre es ebenso meine Pflicht, den Versuch zu wagen, sie zu befreien.«
»Gott stehe dir bei in deinem Bestreben.« Die Alte seufzte. »Ah, da kommt Bruder Metellus zurück.«
Der stattliche Römer kam den Pfad herunter und lächelte frohgemut. »Bringe gute Neuigkeiten«, begrüßte er alle und lehnte mit einer Handbewegung den Becher Cidre ab, den Aourken ihm anbot. »Nachricht von Biscam ist eingetroffen. Er und seine Söhne sind auf dem Wege hierher. Sie müssten die Abtei morgen noch vor Einbruch der Nacht erreichen. Sie bleiben nicht länger als einen Tag dort, dann kann ich nach Hoedig zurück, und ihr seid schon bald unterwegs nach Noaned.«
»Das ist wirklich eine gute Nachricht«, freute sich Eadulf, spürte aber, dass Fidelma seine Begeisterung keineswegs teilte.
»Wir haben gerade unsere Lage erörtert, Bruder Metellus«, erklärte sie zurückhaltend. »Es scheint nicht unmöglich, dass die Ringelgans von den Piraten in das Kleine Meer verbracht wurde.«
»Ins Morbihan?«, wunderte sich Bruder Metellus, und schaute zu Aourken. »Wie kommst du darauf?«
»Mit Aourken hat das nichts zu tun«, erklärte Fidelma. »Ein ungewisses Gefühl sagt mir, die Seeräuber sind von irgendwo an dieser Küste gekommen und haben die Ringelgans in ihr Versteck geschleppt. Wie ich eben gelernt habe, gibt es eine Durchfahrt in das Binnenmeer, die könnten die Piraten genutzt haben.«
Bruder Metellus begriff das noch nicht ganz. Er zog einen Schemel heran und setzte sich. »Hast du von so einem Schiff in diesen Gewässern gehört?«, fragte er Aourken, die unentwegt mit Rocken und Spindel ihr Garn spann.
»Beim besten Willen nicht, Bruder«, beteuerte sie ihm ergeben. »Allerdings sind ein paar Gehöfte von Unbekannten geplündert worden. Sie haben die Scheunen angesteckt und das Vieh weggetrieben. Woher die kamen, weiß keiner.«
»Wenn die von einem Schiff gekommen sind, das sich im Morbihan verborgen hält, könnte man eine Ewigkeit danach suchen und würde nichts finden.«
Fidelma gab sich damit nicht zufrieden.
Doch Bruder Metellus beharrte auf seiner Meinung. »Ich weiß, wie weit das Kleine Meer sich ausdehnt. Selbst wenn du einen schnellen Segler hättest, nicht in Monaten könntest du alle Winkel durchsuchen.«
»Genau das habe ich ihr gesagt«, bekräftigte Aourken, mit sich zufrieden.
»Trotzdem, ich habe mir vorgenommen, morgen früh auf den Hügel zu steigen, den du mir beschrieben hast, und werde mir eine Vorstellung von dem Kleinen Meer verschaffen.«
»Ich habe ihr von dem Grab des Tumieg erzählt«, warf Aourken ein.
Bruder Metellus musste lachen. »Umso besser, dann wirst du dich mit eigenen Augen überzeugen können, was das Morbihan ist, und du wirst verstehen, dass ich nicht übertrieben habe. Morgen Abend jedenfalls wird Biscam hier sein, und ihr könnt euch auf den Heimweg begeben.«