KAPITEL 18

Wie ein Schwan glitt die Kormoran über die dunklen Wasser. Ihre Segel bauschten sich leicht in der vor dem Morgengrauen aufkommenden Brise. In der Takelung summte und flüsterte es wie die straff gespannten Saiten einer Lyra bei sanfter Berührung.

Gelassen gab Bleidbara dem Mann an der Ruderpinne Anweisungen und steuerte die Brigg in die im Westen noch liegende Dunkelheit, während hinter ihnen erste Lichtschimmer den neuen Tag ankündigten. Wieder bewunderte Eadulf das seemännische Geschick, mit dem diese Küstenbewohner auch große Schiffe lenkten. Er erinnerte sich, dass ihre Vorfahren schon vor Jahrhunderten der Flotte des Julius Caesar Tod und Verderben gebracht hatten.  

Eadulf stand mit Heraklius an der Reling des Oberdecks im Hinterschiff, nicht weit vom Rudergänger. Neben ihnen hatte sich breitbeinig, die abgespreizten Daumen in den Gürtel geschoben, Bleidbara aufgepflanzt. Er schaute zum Mond, der tief unten am Westhimmel hing und schon so bleich war, dass man ihn kaum noch wahrnahm. Die Morgenluft war empfindlich kühl.

»Was meinst du, werden wir sie erwischen?«, fragte Eadulf und brach das Schweigen, das herrschte, seit der Befehl »Segel setzen« ergangen war. »Bei den vielen Inseln, hinter denen sie sich verstecken können, um uns zu entgehen, … und sind sie erst einmal in die offene See gelangt …«

»Eins darfst du nicht vergessen, Eadulf, jetzt strömt die Flut ins Morbihan«, antwortete ihm Bleidbara mit grimmigem Lächeln, »und die bricht mit solcher Gewalt herein, dass kein Schiff gegen die Strömung in der Durchfahrt ankommt. Sie sitzen fest bis zum Gezeitenwechsel, und der ist erst lange nach Sonnenaufgang. Die Flut ist hier sehr gefährlich, bis zu zwölf Fuß kann der Tidenhub ausmachen.«                 

Eadulf musste unwillkürlich daran denken, wie ihm Aourken den Durchlass ins Morbihan geschildert hatte. Von Seefahrt und Segelmanövern verstand er nicht viel, umso mehr erstaunte ihn, wie gut die Mannschaft aufeinander eingespielt war und mit welcher Wendigkeit sie das große Schiff beherrschte.

»Was hast du vor?«, wollte Heraklius von Bleidbara wissen.

»Ich werde bis Er Lannig segeln, ›Kleine Heide‹ heißt das übersetzt. Sie liegt vor dem Flutkanal. Hinter der Insel werden wir die Gezeitenströmung nicht so heftig verspüren. Das ist auch der äußerste Punkt, an dem die Koulm ar Maro warten kann, bis die Tide fällt. Sind sie nicht dort, halten wir auf Gavrinis zu, die ›Ziegeninsel‹, und segeln von dort nordwärts durch die große Bucht, wobei die Insel der Mönche steuerbords bleibt. Wenn ich kein ganz schlechter Seemann bin, spüren wir unsere Seeräuber irgendwo hier in diesen Gewässern auf.«

Bleidbara schien davon völlig überzeugt zu sein.

»Und wenn wir auf sie stoßen und sie Widerstand leisten, was dann?«, fragte Eadulf beunruhigt. »Ich habe noch nie eine Seeschlacht erlebt.«

Im Halbdunkel sah er, wie Bleidbara mit finsterer Miene Heraklius zunickte. »Der Wildesel steht aufgebockt auf dem Bug. Wollen mal sehen, ob diese kleine Erfindung das hält, was wir uns von ihr versprechen. Wenn nicht, rüsten wir uns zum Gefecht und werden erfahren, ob unser Rammsporn stärker ist als ihre Bordwand, unsere Pfeile zielsicherer sind als ihre.«

Mit dieser Auskunft konnte Eadulf wenig anfangen. »Was für ein Wildesel?« Er blickte angestrengt zum Bug, aber es war noch zu dunkel, um irgendein Tier zu erkennen. Das Einzige, was er ausmachen konnte, war Segeltuch, das über ein seltsames Holzgestell geworfen war. Man hatte es am Abend zuvor an Bord gehievt.

Heraklius berührte ihn am Arm und wies auf die Abdeckung. »Unser Onager ist eine Art Katapult, das schon die römischen Legionen benutzt haben. Sie nannten es Wildesel, weil die Wurfmaschine wie ein Maultier ausschlägt, wenn das Geschoss weggeschleudert wird«, erklärte er. »Ich habe einige Männer in der Bedienung des Kampfgeräts unterwiesen, und wenn alles gutgeht, müssen wir nicht nahe an das feindliche Schiff heran. Die Reichweite unserer Schleuder beträgt gut und gerne tausend Schritte.«

»Du hoffst, das Schiff leckzuschlagen, indem du es mit Steinen bewirfst?«

Heraklius lächelte nur geheimnisvoll und schüttelte den Kopf.

In der Stunde, die nun folgte, hatte Eadulf ausreichend Gelegenheit zu bereuen, dass er sich auf diese Schiffsreise eingelassen hatte. Fahrten über Wasser waren ihm stets ein Gräuel, und nun, da die erste Erregung des Jagdfiebers abklang, wurde ihm klar, dass er sich auf einem Schiff befand, das einer Teufelsbarke begegnen sollte, die zurückschießen würde. Angst beschlich ihn, doch das jetzt zu zeigen, wäre wenig mannhaft gewesen. Er musste ebenso unbekümmert erscheinen wie Bleidbara und Heraklius. Noch nie hatte er miterlebt, wie sich zwei Schiffe ein Gefecht auf hoher See liefern; er stellte sich das gewalttätig und blutrünstig vor. Sein Mönchsgewand würde ihm in dieser Schlacht keinen Schutz bieten. Am liebsten hätte er Bleidbara gefragt, wie er sich während des Angriffs verhalten sollte, wollte sich dann aber keine Blöße geben.

Aus Südwest kommender ablandiger Wind blähte jetzt die Segel und trieb ihr Gefährt voran. Ein Band weißer Gischt breitete sich auf beiden Seiten des Bugs aus, leuchtete phosphoreszierend und war auch im Finstern deutlich zu sehen. Die Dunkelheit schwand allmählich. Noch stand der Mond über dem Horizont, war eine bleiche weiße Scheibe geworden. Am blassen Himmel wirkte er wie ein Büschel auseinandergezupfter Schafwolle. Backbords lag die zerklüftete Küste der Halbinsel Rhuys, auf der dicht bewaldete Hügel einen finsteren Wall bildeten. Steuerbords tauchten aus dem Morgennebel die gewölbten Rundungen kleiner Inseln auf. Der Steuermann schien mit all den Tücken des Kleinen Meers vertraut. Geschickt bewegte er das Ruder um wenige Grade hin und her, um unter und über dem Wasser stehenden Felsen auszuweichen. Er schätzte sicher die Entfernung zu ihnen ein, noch ehe Eadulf sie überhaupt bemerkt hatte.

Plötzlich rief Bleidbara einen Befehl, woraufhin einer der Matrosen in die Wanten sprang und bis zum Topp des Hauptmastes kletterte. Es dauerte nicht lange, da rief er dem Kapitän etwas zu. Der verstand und presste die Lippen zusammen.

»Die Morgensonne geht hinter uns auf«, erläuterte er Eadulf. »Wenn unsere Gegner genau vor uns sind, sehen sie uns herankommen, noch bevor wir ihre Segel erkennen können. Deshalb habe ich einen Mann hochgeschickt, damit er sie beizeiten ausmacht.«

Dass man von der Mastspitze ein anderes Schiff eher sehen konnte, leuchtete Eadulf ein.

Schweigend segelten sie noch eine Weile dahin; man spürte, wie die Anspannung unter der Mannschaft wuchs. Von der Mastspitze ertönte wieder ein Ruf.

»Er Lannig in Sicht«, brummte Bleidbara. »Backbord müssen wir uns halten mit Kurs Nordwest.« Dem Rudergänger rief er hastig zu: »Von der Südspitze freikommen, da stehen Unterwasserfelsen.«

Während die Kormoran nordwärts schwenkte, klärte Heraklius Eadulf auf: »Die Insel muss ein Zentrum heidnischer Götterverehrung gewesen sein. Ich habe mich da einmal umgetan. Die Überreste von zwei Kreisen aus aufrecht stehenden Steinen befinden sich dort. Kannst du sie erkennen?« Eadulf erblickte die Umrisse von ausgezackten Felssäulen, die im Bogen im Meer verschwanden.

»Einer der Kreise ist völlig abgesunken, und einer von den Felszacken ist besonders gefährlich. Die Fischer hier nennen ihn den Hufschmiedstein«, ergänzte Bleidbara. »So eine Felsspitze könnte selbst einem Kahn wie dem unseren den Bauch aufschlitzen.«

Jetzt war die Morgendämmerung vollends da, doch den Strahlen der Morgensonne fehlten die Rot- und Goldfärbungen. Das Licht wirkte bläulich blass und schien Regen anzukündigen. Die Sonne blieb hinter sich auftürmenden Quellwolken verborgen. Es war nun so hell, dass man weit umherschauen konnte, und aller Augen suchten rundum die See ab.

»Halt auf die Ziegeninsel zu«, rief Bleidbara und zeigte nach vorn. Doch schon hörten alle den Schrei vom Mastkorb und schauten hoch.

Eadulf verstand nicht, was der Mann im Ausguck gerufen hatte, sah aber, dass er den Arm nach Norden ausgestreckt hielt. Das half ihm wenig, er konnte nichts entdecken.

Bleidbara lachte auf und klatschte sich vor Vergnügen auf den Schenkel. »Da haben wir sie, genau wie ich es erwartet habe. Die Seeräuber kommen südwärts in unsere Richtung.« Er schaute zu den Segeln hoch. »Aber wir liegen am Wind. Es wird ernst, meine Freunde, bald schlagen wir los.«

Als ein Schrei vom Hauptdeck ertönte, drehte sich Eadulf um und sah, dass sich ein Schiff über der Wasserfläche abhob, voll aufgetakelt, doch mit schlaff hängenden Segeln. Es schlingerte und kam nur schwerfällig voran, obwohl es versuchte, Fahrt aufzunehmen.

Seine Mannschaft hatte sie bereits erspäht und lief auf dem Deck hin und her. Der Bug des herankommenden Schiffs schien sich seitwärts zu bewegen, als ob es abdrehen wollte.

»Sie halsen«, murmelte Heraklius, »versuchen zu wenden«, fügte er für Eadulf hinzu.

Das Piratenschiff bewegte sich ruckweise vor und zurück und kam nicht vom Fleck. Vermutlich hatte die Piraten überrascht, dass Bleidbaras Brigg so plötzlich auftauchte und in voller Fahrt auf sie zuhielt. Der Schiffskörper hob und senkte sich im auffrischenden Wind. Das Wasser rauschte unter dem Bug dahin, weiße Schaumflocken sprühten umher.

»Fertig machen zum Angriff«, schrie der Kapitän Heraklius zu.

Der junge Mann nickte, rief Bleidbara und Eadulf ein rasches »Gott befohlen!« zu und lief zum Vorderdeck. Einer von der Mannschaft hatte das dunkle Segeltuch bereits von dem hölzernen Gestell gezogen. Was da zum Vorschein kam, hatte Eadulf noch nie zuvor gesehen. Eine Vorrichtung in der Form eines dreieckigen Doppelbocks aus Eichenbalken, der auf den Deckplanken befestigt war. Quer durch die Gerüstbalken war an einem Ende eine dicke Welle geschoben. Um diese Welle wickelten sich verdrellte Seile, und in der Welle steckte eine senkrecht stehende Stange aus massivem Holz. An ihrem freien Ende hing eine Lederschlaufe. Eadulf hatte einiges über solche von den Römern schon vor Jahrhunderten benutzten Kampfmaschinen gelesen und machte sich die Wirkungsweise des Gerüsts klar. Der aufragende Wurfarm ließ sich mit einer seitlich angebrachten Haspel in eine waagrechte Lage ziehen, wodurch die Seile gespannt wurden. Ein Bolzen hielt die Stange fest, und in die Schlaufe legte man einen Stein. Sobald der Geschützmeister den Sicherungsbolzen mit einem Holzhammer herausschlug, schnellte der Wurfarm hoch und schleuderte das Geschoss über eine beträchtliche Entfernung auf den Feind.

Gespannt verfolgte Eadulf, wie Heraklius sein Gerät von allen Seiten überprüfte. Dann sagte er etwas zu seinen Leuten. Zwei von ihnen gingen unter Deck und kamen bald mit einer Holzkiste zurück. Sie hatten schwer daran zu tragen und setzten sie mit Sorgfalt ab. Vorsichtig schoben sie das Behältnis neben die Wurfmaschine. Heraklius öffnete den Kasten und nahm eine der großen Lehmkugeln heraus, die Eadulf in der Steinhütte des Apothekers gesehen hatte.  

Bleidbara schrie Heraklius eine Warnung zu und zeigte auf das Schiff, dem sie nun gefährlich nahe waren. Deutlich waren im Frühlicht die Bogenschützen zu erkennen, die sich am Bug aufgestellt hatten. Und ebenso deutlich sah Eadulf die geschnitzte Figur der Taube auf dem Bugspriet. Kein Zweifel, das war die Koulm ar Maro, die »Taube des Todes«, die die Ringelgans überfallen hatte. Sie brachte sich in Angriffsstellung. Doch Bleidbara kommandierte keinen unbewaffneten Handelsfrachter, seine Krieger standen bereits längsschiffs mit schussbereiten Bögen.

Schutzsuchend drückte sich Eadulf hinter einen Mast, denn gleich würden Pfeile auf sie niederprasseln. Er hatte geglaubt, Bleidbara würde sein Schiff längsseits zur Koulm ar Maro steuern, sah nun aber, dass der Kapitän mit dem Bug voran auf den Piraten zuhielt, als ob er ihn rammen wollte. Eadulf lenkte seinen Blick auf das Geschehen am Bug. Heraklius hatte mit seinen Leuten eine der Lehmkugeln in die Schlinge gelegt. Er schien mit seiner sonderbaren Waffe den Gegner anzuvisieren und den sich verringernden Abstand zwischen beiden Schiffen abzuschätzen.                 

»Mit den Lehmkugeln kann Heraklius doch kein Loch in den Kahn da drüben schlagen«, rief er Bleidbara zu. »Habt ihr nicht schwere Steine, die mehr Schaden anrichten können?«

Bleidbara schmunzelte. »Zieh den Kopf ein, Bruder Eadulf. Wir eröffnen die Schlacht, wenn wir tausend Schritte entfernt sind.«

Die Koulm ar Maro gab das Wendemanöver auf und kam mit dem Bug voran auf sie zu. Das Deck des gegnerischen Schiffs lag höher als das der Kormoran. Eadulf begriff sofort, dass die Angreifer den Vorteil hatten, nach unten auf Bleidbaras Leute zu schießen, seine Mannschaft aber nach oben zielen musste. Er starrte auf den schmaler werdenden Streifen Wasser zwischen den beiden Schiffen und bekam es mit der Angst zu tun.

Plötzlich rief Bleidbara dem jungen Arzt etwas zu. Heraklius bückte sich, ergriff den Hammer und schlug gegen den Holzbolzen. Eadulf spürte ein Zittern, das durch das ganze Schiff lief, als das Geschoss mit großer Wucht vom hoch schnellenden Wurfarm fortgeschleudert wurde. Gebannt verfolgte er die Flugbahn der Kugel und war enttäuscht, dass sie lediglich eine hervorstehende Rahe traf, ins Meer stürzte und dabei zerbarst. Doch dann stockte ihm der Atem. Zwischen den umherfliegenden Bruchstücken blitzte Feuer auf, und plötzlich breitete sich eine Lache züngelnder Flammen dort aus, wo die Kugel die Wasseroberfläche berührt hatte. Er wollte seinen Augen nicht trauen – das Meerwasser brannte.

Verwirrt schaute er sich nach Bleidbara und Heraklius um. Die Mannschaft am Schleudergerät brachte mit der Haspel die Wurfstange in Position und legte erneut eine der seltsamen Kugeln in die Lederschlaufe.

Bleidbara strahlte übers ganze Gesicht. »Heraklius sagt dazu in seiner Sprache ›pyr thalassion‹; er übersetzt das als ›flüssiges Feuer‹. Sein Vater Kallinikos hat das in Byzanz erfunden. Damit gewinnen wir die Oberhand über die Seeräuber.«

Ein gewisses Entsetzen konnte Eadulf nicht unterdrücken. Feuer, das sich nicht mit Wasser löschen ließ? Das war schrecklich. Barbarisch. Kein Wunder, dass Heraklius das Geheimnis so sorgsam hütete.

Ein sonderbares Pfeifgeräusch schwirrte durch die Luft, und Eadulf duckte sich unwillkürlich. Die gegnerischen Bogenschützen hatten ihre ersten Pfeile abgeschossen. Der Abstand zwischen den Kämpfenden wurde geringer, einige Pfeile bohrten sich in die Bordwand.

Wieder hörte er den Hammerschlag gegen den Bolzen und spürte das leichte Erschauern des Decks, als das Höllengeschoss fortflog. Diesmal zerbrach die Lehmkugel auf dem Vorderdeck und flammte dort auf. Er hörte die Entsetzensschreie der feindlichen Mannschaft, sah Männer mit Wassereimern laufen. Doch das Wasser trieb die Flammen lediglich auseinander, dämmte sie nicht ein.

Bleidbaras Mannschaft brach in Hurrageschrei aus, aber ein scharfes Wort des Kapitäns genügte, und alle verstummten. Der nächste Befehl galt den Bogenschützen, die zielten und schossen wie ein Mann ihre Pfeile ab. Schreie hallten übers Wasser und ließen vermuten, dass etliche Pfeile ihr Ziel gefunden hatten.

Zum dritten Mal hatten Heraklius und seine Leute ihren Onager aufgezäumt. Die tödliche Fracht der Lehmkugel schlug auf dem Hauptdeck ein, das im Nu in Flammen stand.

Sechs der Kugeln waren auf Deck geschafft worden, und Heraklius überwachte bereits den vierten Ladevorgang.

Bleidbara bedeutete ihm innezuhalten. Er stellte sich an die Reling, formte die Hände zum Trichter um den Mund und rief hinüber zum Schiff, auf dem die Flammen die Takelung ergriffen. Das war die Aufforderung an die Koulm ar Maro, sich zu ergeben, dachte Eadulf. Die Antwort war ein Schauer von Pfeilen; einer von der Mannschaft wurde getroffen. Der Mann fiel so urplötzlich nieder, dass jede Hilfe zu spät kam. Der Kapitän gab dem Geschützmeister einen Wink. Wieder lief das unheilvolle Zittern über die Planken, und man sah, wie das Geschoss auf dem Achterdeck neben der Ruderpinne zerplatzte und dort das Feuer aufflammte.

Bleidbara brüllte seinem Rudergänger den Befehl »Beidrehen!« zu. Die Brigg glitt näher an das brennende Piratenboot heran. Noch einmal forderte er den Gegner auf, sich zu ergeben, doch eine Antwort erhielt er nicht. Angestrengt blickte Eadulf in das Flammenmeer, das nun alle Decks überzog, und hielt Ausschau nach der schmächtigen Gestalt in Weiß, an die er sich deutlich erinnerte. Zwischen den auf dem Deck hin und her Rennenden war sie nicht. Befehlsgewalt schien niemand mehr zu haben. Kopflos versuchten einige, die Flammen zu löschen, die unerbittlich um sich fraßen. Andere fuchtelten mit ihren Schwertern in hilflosen Drohgebärden gegen den näher kommenden Feind. Wenige versuchten, ihre Bogen zu spannen, standen sich dabei aber nur im Wege.

Fassungslos schaute Eadulf in das flammende Inferno. Ein schrecklicher Gedanke überkam ihn. »Trifina! Kann es sein, dass Lady Trifina als Gefangene dort ist?«

Schreckensbleich starrte ihn Bleidbara an. In seiner Kampfeslust hatte er vergessen, dass Trifina sich drüben an Bord befinden könnte.

Noch einmal schrie Bleidbara die Aufforderung hinüber, sich zu ergeben, aber die einzige Antwort war ein an ihm vorbeizischender Pfeil, der in der unteren Rahe stecken blieb. Hätte Eadulf nur eine Handbreit näher am Mast gestanden, wäre er das Ziel geworden. Abermals schickte Heraklius eine seiner fürchterlichen Kugeln los. Sie prallte gegen den Hauptmast, und sofort schossen die Flammen hoch, als wollten sie zum Topp hinaufjagen. Jetzt brannte das gesamte Deck der Koulm ar Maro lichterloh. Hier und da sprangen Matrosen über Bord; die Kleidung der Unglücklichen hatte Feuer gefangen, das selbst die Meereswogen nicht löschten.

Bleidbara gab seinem Rudergänger knappe Befehle, und der stemmte sich gegen die Pinne. »Wir müssen abdrehen, müssen uns selbst vor den Flammen retten, das Feuer ist zu stark«, erklärte er Eadulf.

Noch mehr Männer sprangen über die Reling des Seeräubers. Aber die schmächtige Gestalt in Weiß, die Eadulf zu sehen hoffte, war nicht dabei. Er betete, Trifina möge nicht inmitten dieses entsetzlichen Scheiterhaufens sein.

Bleidbaras Leute hatten lange Holzstangen ergriffen, um sich von dem brennenden Schiff abzustoßen, sollten die Wellen sie dagegentreiben. Sie wendeten, die Segel füllten sich, und rasch konnten sie von der ungeheuerlichen Feuersbrunst windwärts abhalten. Binnen kurzem war von dem Kriegsschiff, auf das sie zugesegelt waren, nichts mehr übrig. Die hungrigen Flammen hatten alles verschlungen. Das Deck, der Bug und der gesamte Rumpf waren ein knisternder, lodernder Holzstoß.

Die restlichen Lehmkugeln hatte Heraklius sicher verstaut. Nun schritt er langsam über die Planken auf Eadulf zu. Seine Miene war seltsam schwermütig.

»War es das, was wir in deiner Hütte nicht finden sollten?«, fragte ihn Eadulf trocken.

»Es ist etwas, das mein Vater für unseren Kaiser Konstantinos erfunden hat. Ich hoffe sehr, dass niemand sonst es entdeckt.«

»Eine schreckliche Waffe. Niemand kann sich dagegen wehren«, bestätigte ihm Eadulf.

»Da!«, rief Heraklius. »Schaut euch das an!«

Gebannt verharrten alle und konnten die Augen nicht von dem Bild wenden, das sich ihnen bot. Es knarrte und krachte gewaltig. Ein gurgelndes Geräusch schwoll an, und plötzlich erloschen die Flammen. Vor dem Hintergrund der düsteren Insel war nichts mehr zu sehen, nicht einmal der Schimmer verlöschender Glut. Lediglich eine Säule schwarzen Rauchs erhob sich über den Wassern, die in der Brise verwehte. Das Piratenschiff, das eben noch in hellen Flammen gestanden hatte, war so plötzlich versunken, als wäre es nie da gewesen, dass es schien, es sei einfach verschwunden. Die ewig raubgierige See hatte es sich einverleibt.

Bleidbara gab Anweisungen. Mehrere Seeleute schwärmten hoch in die Takelage und refften die Segel. Der Mann am Steuer riss die Ruderpinne herum.

»Wir wenden, vielleicht können wir noch ein paar Überlebende auffischen«, bemerkte Heraklius.

»Nach alldem?«, fragte Eadulf bekümmert. Für ihn war klar, da bestand kaum eine Hoffnung.

Doch entgegen aller Erwartung wurden einige Männer aus dem Wasser gezogen; sie hatten sich unverletzt retten können, waren völlig durchnässt und mutlos. Man schaffte sie aufs Achterdeck, wo Bleidbara sie verhörte.

»Frag sie, ob Lady Trifina an Bord war«, erinnerte ihn Eadulf, aber Bleidbara hätte es ohnehin getan.

Nur einer der Gefangenen gab ein paar einsilbige Antworten, nachdem der Kapitän ihm zwei kräftige Ohrfeigen verpasst hatte. Eadulf zuckte bei jedem Schlag zusammen. Ihm war Gewalttätigkeit zuwider, allerdings musste er sich eingestehen, dass der Kerl dadurch zum Sprechen gebracht wurde. Dennoch blieb der Mann trotzig und schaute hasserfüllt um sich.

»Er sagt, eine Frau ist auf dem anderen Schiff«, übersetzte Bleidbara.

»Welches andere Schiff?« fragte Eadulf grob. »Die Ringelgans

Der Seeräuber zuckte die Achseln, und Bleidbara brüllte ihn an. Eadulf verstand nicht, was gesagt wurde; ein Wort, das sich wie »loverdi« anhörte, kam mehrmals vor.  

Bleidbara wurde wütend, packte den Mann bei der Kehle, zog ihn zu sich heran und rüttelte ihn, wie ein Hund ein Kaninchen rüttelt. Eadulf konnte die Zähne des Gefangenen aufeinanderschlagen hören. Er blieb widerspenstig, antwortete aber und wiederholte das Wort »loverdi«.

Der Kapitän wandte sich zu Eadulf um. »Er sagt, das andere Schiff ist bei der Insel Enez Lovrdi versteckt. Das ist die Insel der Aussätzigen, manche sagen auch Enez Lovr, die Lepra-Insel.«

»Du weißt, wo die liegt?«, fragte Eadulf.

»O ja. Das ist ein kleines Eiland, gar nicht mal weit von hier. Früher wurden Aussätzige dahin gebracht und lebten dort abgeschieden von den Gemeinden ringsum. Auch eine alte, aus grauen Steinen erbaute Festung gibt es da, aber die ist nicht mehr bewohnbar.« Bleidbara ärgerte sich. »Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, die Piraten dort zu suchen. Die Insel wird von allen gemieden. Und doch hat sich die Koulm ar Maro gerade dort die ganze Zeit über versteckt.«

»Also los, zur Ringelgans«, meinte Eadulf mit grimmiger Genugtuung. »Wo ist der junge Anführer in Weiß? Ist er auf dem Schiff umgekommen?«                 

Bleidbara schüttelte den Kopf. »Aus dem Kerl ist nichts Genaues herauszubekommen.«

»Was machen wir? Die Räuberbande kann eine ganze Rotte auf der Insel zurückgelassen haben. Die wird sich wehren, wenn wir angreifen.«

Der Kapitän überlegte und rieb sich das Kinn. »Ich verstehe. Wir brauchen einen Plan, wie wir vorgehen wollen.«

»Und zwar einen, der unsere Freunde auf der Ringelgans nicht in Gefahr bringt.«

Bleidbara nickte zustimmend. »Ich bin dafür, mit der Kormoran sofort zur Insel zu segeln und sie im Sturm zu nehmen. Die Koulm ar Maro ist gesunken, und ein anderes großes Schiff haben sie nicht, um sich uns entgegenzustellen.«

»Wir sollten aber vorher herausbekommen, wo unser Schiff liegt und wie groß die Mannschaft ist, die sich verteidigen wird.«

Bleidbara grinste. »Du hast deinen Beruf verfehlt, Bruder Eadulf. Schlachtenplaner hättest du werden sollen.« Und leiser, die Worte nur für Eadulf gedacht, fuhr er fort: »Unser Gefangener versteht vielleicht Latein. Bei allem, was ich jetzt mache, musst du mich unterstützen und darfst nicht zimperlich sein.«

Fast gegen seinen Willen nickte Eadulf. »Wenn uns das hilft, zu erfahren, was wir wissen wollen, mache ich mit.«

Bleidbara gab einigen seiner Leute Anweisungen. Einer nahm ein Seil, warf es über eine Rahe und verknotete das eine Ende zu einer Schlinge. Der Gefangene verfolgte mit aufgerissenen Augen, was mit rascher Hand vor sich ging, und wurde blass.

Bleidbara grinste zynisch und redete mit ihm. »Ich habe ihm gesagt, dass er ein Pirat, ein Mörder und Dieb ist und dass er wohl weiß, was ihm jetzt blüht«, erklärte er Eadulf.

Der Mann fing an zu zittern und murmelte etwas.

»Jetzt bittet unser Seeräuber um Gnade«, bemerkte der Kapitän.

»Gnade muss man sich verdienen«, erwiderte Eadulf und spielte seine Rolle. »Ich kann nur beten, dass er Gnade im Jenseits findet.«

»Du hast recht, Bruder Eadulf. Es hat keinen Zweck, ihn weiter zu befragen. Ich werde meinen Leuten befehlen, ihm die Schlinge um den Hals zu legen.«

Dem Mann wurden die Hände hinter dem Rücken gebunden, und ehe er sich’s versah, steckte sein Kopf in der Schlinge. Er schluchzte und verhaspelte sich beim Reden, dass man ihn kaum verstand. Eadulf musste nichts übersetzt werden, angewidert betrachtete er das Schauspiel, das vor ihm ablief.

Bleidbara hatte richtig vermutet, der Mann verstand Latein und flehte Eadulf an.

»Bitte, bitte, Bruder. Du bist ein Mann Gottes. Du kannst nicht zulassen, dass er mir das antut.«

Eadulf gab sich ungerührt. »Der Kapitän handelt nach Recht und Gesetz. Du bist all dessen schuldig, was er dir zur Last gelegt hat. Warum sollte ich ihm in den Arm fallen?«

»Ich habe ein Recht auf ein Gerichtsverfahren … ich bin …«

»Dein Recht hast du verwirkt! Gnade hast du deinen Opfern nie erwiesen!«, donnerte Bleidbara. Er gab seinen Matrosen einen Wink, und die zogen das Seil an, so dass der Gefangene sich nur noch auf Zehenspitzen halten konnte. Er kreischte angsterfüllt auf, als er den Ruck am Hals spürte.

»Haltet ein!«, rief Eadulf. »Lasst ihn herunter. Vielleicht kann ihm ein Verfahren vor einem eurer Richter gewährt werden, aber nur, wenn er uns Rede und Antwort steht.«

Der beinahe Gehenkte fiel fast in Ohnmacht, hustete und würgte. Der Kapitän schien Eadulfs Vorschlag eine Weile zu erwägen.

»Ich könnte Gnade vor Recht ergehen lassen, wenn der Kerl uns sagt, wie viele von seiner Bande auf Enez Lovrdi sind, wo genau sie sich aufhalten und wo die Verschleppten eingesperrt sind.«

Sofort sprudelte es aus dem Mann heraus: »Nur ein halbes Dutzend Krieger sind auf dem Handelsschiff, das wir vor ein paar Tagen gekapert haben …«

»Und die Gefangenen?«

»Die sind im Laderaum eingeschlossen. Das Schiff liegt in der kleinen Bucht auf der Nordseite der Insel. Da ist das Wasser tief, und ringsum sind Bäume. Die verbergen alles, da sieht niemand was.«

»Sind Späher auf der Festung?«

»Alle, die man dort zurückgelassen hat, sind auf dem Handelsschiff.«

»Auch eine Frau ist an Bord, hast du gesagt.«

»Ja, das stimmt.«

»Wo ist euer Kapitän?«

Der Mann zeigte mit dem Kinn in die Richtung, wo ein paar Trümmer auf den Wellen trieben. »Eine von den Feuerkugeln hat ihn getroffen. Auch den Steuermann.«

»War er ein schmächtiger Mann in weißer Kleidung?«, wollte Eadulf wissen.

Der Gefangene blickte ihn verständnislos an. »Taran? Das war ein Mann wie ein Bulle, aus Pou-Kaer stammte der. … Ach, du meinst den, der Taran Befehle gab. Bei unseren Überfällen war der oft mit dabei. Nein, an Bord war er nicht.«

»Wer ist er? Wo ist er? Ist er auf Enez Lovrdi?«, drängte Bleidbara ungeduldig.

»Nein, auf der Insel ist er nicht. Wer er ist, weiß ich nicht. Ich nehme an, Taran hat es gewusst. Jedes Mal, wenn er an Bord kam, war er ganz in Weiß und trug eine Maske. Er war erbarmungslos. Schon bei der kleinsten Nachlässigkeit setzte es Strafen.«

»Wo er sich jetzt aufhält, wollen wir wissen!«, herrschte ihn Eadulf an.

»Unser Kapitän hat gesagt, wir haben Befehl, hinaus auf die offene See und entlang der Halbinsel Rhuis zu fahren. Heute, wenn die Abenddämmerung einsetzt. Bei den Klippen vor der Abtei sollten wir warten und dann den Mann in Weiß und seinen Begleiter aufnehmen.«

»In der Abenddämmerung?«

Mit raschem Nicken wurde es bestätigt.

»Und du schwörst, du weißt nicht, wer dieser junge Mann ist, der euch die Befehle erteilt hat?« Eadulf ließ nicht locker.

»Ich weiß wirklich nicht, wer er ist, Bruder. Bestraf mich nicht dafür, weil ich das nicht weiß. Ich habe ihn nie ohne Maske gesehen. Nie habe ich sein Gesicht gesehen. Wenn jemand es wagte, sich seinen Befehlen zu widersetzen, war er sofort des Todes. Selbst Taran, unser Kapitän, fürchtete sich vor ihm.«

»Hat man euch je gesagt, wofür ihr eigentlich kämpft?«, mischte sich Bleidbara ein.

»Für Beute, für Dinge, die was wert sind. Mehr weiß ich nicht.«

Eadulf blickte auf den Elenden, der auf dem Deck kniete. Immer noch waren ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt. Um den Hals hing ihm die Schlinge am losen Seil.

»Eine Frage noch. Wer hat euch mit Pfeilen versorgt? Die sind alle vorzüglich geschnitzt und geschmiedet.«

Der Gefangene schien von der Frage überrascht. »Der Mann in Weiß hat sie uns gebracht und hat verlangt, sie schonungslos zu gebrauchen. Auch das Banner sollten wir immer bei uns haben und es sichtbar aufpflanzen bei unseren Überfällen.«

»Hat er euch erklärt, warum er das so wollte?«

»Vielleicht hat er es Taran erklärt, uns anderen jedenfalls nicht.«

»Schafft ihn zurück zu den übrigen Seeräubern!« Eadulf holte tief Luft. Er schämte sich, einem Hilflosen auf diese Weise Auskünfte abgepresst zu haben.

Bleidbara traf seine Anordnungen. »Du bist ein tüchtiger Verschwörer, Bruder Eadulf«, sagte er anerkennend. »Der Mann hätte nichts verraten, hätten wir ihm nicht Angst eingejagt.«

Eadulf war anzumerken, wie sehr ihm das Verhör widerstrebte. »Froh hat mich die Sache nicht gemacht. Wie wärst du mit ihm verfahren, wenn er sich geweigert hätte, unsere Fragen zu beantworten?«

»Wir hätten ihn wie einen Missetäter behandeln müssen, der vor Gericht gestellt wird.«

Eadulf blieb der Mund offen. »Hast du ihm wirklich nur zum Spaß mit der Hinrichtung gedroht?«

»Als bloßen Spaß habe ich das nicht aufgefasst«, versicherte ihm Bleidbara. »Wir brauchten die Auskünfte, und das schnell.«

»Wir haben bekommen, was wir brauchten. Und was nun?«, fragte Heraklius, der während der ganzen Szene, die sich vor ihm abgespielt hatte, stumm geblieben war.

»Wir segeln unverzüglich zu diesem Eiland Enez Lovrdi, suchen die Bucht und entern die Ringelgans. Während einige meiner Leute sich auf die Wachen werfen, eilt Eadulf zur Ladeluke und befreit die Gefangenen. Er kennt sie, kann sie am besten beruhigen und ihnen erklären, was vor sich geht. Seid ihr damit einverstanden?«

»Ich sollte Eadulf begleiten«, meinte Heraklius. »Jemand ist nötig, der ihm den Rücken freihält.«

»Auch gut!«, bestätigte Bleidbara. »Ich werde der Mannschaft sofort die entsprechenden Befehle erteilen, denn viel Zeit bleibt uns nicht mehr.«

Es dauerte nicht lange, und Bleidbara rief: »Enez Lovrdi voraus!« Die Kormoran war an mehreren winzigen Inseln vorbeigesegelt und hielt jetzt Kurs auf eine stark bewaldete Insel, die sich über einem schmalen, von Felsbrocken geschützten Strand erhob. Der Kapitän wollte den Angriff selbst anführen und übergab seinem Steuermann die Befehlsgewalt über das Schiff. Schon wurden die Segel gerefft und zwei kleinere Boote zu Wasser gelassen, während die Kormoran sich einem Wall von dunklen Felsen und Bäumen näherte. Als sie dichter herankamen, sah Eadulf, dass die Felsen eine Durchfahrt in eine ziemlich geschlossene Bucht freiließen. Von weitem erblickte er das Heck eines großen Schiffs. Ein Glücksgefühl durchströmte ihn. Er wusste, das war die Ringelgans, noch ehe er das Schiff klar erkennen konnte.

Er und Heraklius kletterten in eines der Boote, in dem schon Bleidbara und einige seiner Männer saßen. Weitere Krieger stiegen in das zweite Boot. Mit raschen Ruderschlägen ging es durch die Bucht auf die Ringelgans zu, die dort vertäut war.  

Vom Schiff ertönte ein Schrei. Man hatte sie entdeckt, und Eadulf wunderte sich, dass sie nicht schon früher bemerkt worden waren. Vielleicht nahm die Mannschaft, die man zurückgelassen hatte, den Wachdienst nicht ernst oder sah es als vordringliche Aufgabe, die Gefangenen zu bewachen. Auf einen Angriff von außen schien man nicht gefasst.

Ein paar harmlose Pfeile klatschten ins Wasser. Die Boote stießen gegen die Bordwand des großen seetüchtigen Kauffahrteischiffs, und schon kletterten Bleidbaras Männer an Tauen hoch. Gebrüll, der Lärm gegeneinanderschlagender Klingen und Schmerzensschreie erfüllten die Luft. Eadulf zog sich auf das vertraute Deck hoch, das er vor einer kleinen Ewigkeit, wie ihm schien, verlassen hatte. War das wirklich erst wenige Tage her? Heraklius blieb dicht hinter ihm. Überall herrschte Kampfgetöse von sich bekriegenden Männern. Eadulf und der junge Grieche bahnten sich einen Weg durch das Getümmel zum Schiffsraum. Jetzt auf dem Deck die Lukendeckel heben zu wollen, wäre ein vergebliches Unterfangen gewesen. Sie stiegen hinunter, wo die Achterkabinen waren, denn dort gab es einen schmalen Einstieg in den Laderaum. Sie trafen nur auf einen Mann, der den Zugang bewachte. Der hob sein Schwert und stieß zu, doch geistesgegenwärtig warf sich Eadulf zur Seite, und Heraklius sprang vor und jagte dem Kerl seinen Dolch unter die Rippen. Röchelnd sank der Angreifer zu Boden.                 

Eadulf lauschte an der Luke. Er hörte Stimmen und Geräusche, warf die Riegel zurück und stieß die Tür auf. Innen war es dunkel, und Gestank schlug ihm entgegen. Die einzige Lichtquelle war ein Talglicht. Menschen gerieten in Bewegung. Ein Gesicht zeigte sich. Bärtig und abgemagert, wie es war, kam es Eadulf doch bekannt vor.

»Hoel? Bist du es?«, fragte er und war sich schon sicher, den zweiten Steuermann vor sich zu haben.

Der riss die Augen auf. »Bruder Eadulf? Du lebst? Wir dachten, du bist ertrunken.«

»Jetzt ist keine Zeit für lange Erklärungen. Nimm deine Leute, jeder soll sich greifen, was ihm als Waffe in die Hand kommt. Wir sind dabei, euch zu befreien.«

Hoel wandte sich um und wiederholte für die im Dunkeln Wartenden, was Eadulf eben gesagt hatte. Erleichtertes Raunen ging durch den Raum, und als Nächster tauchte Wenbrit, der Schiffsjunge, auf.

»Lebt Lady Fidelma?«, wollte er als Erstes wissen. »Wir befürchteten schon, ihr seid umgekommen.«

»Wir sind beide wohlauf«, antwortete Eadulf knapp. »Wie viele von euch haben überlebt?«

»Sie haben keinen mehr umgebracht. Es ist bei dem Kapitän und Gurvan geblieben und Menma, dem Seemann, der bei dem Angriff auf das Schiff erschossen wurde. Und natürlich Fürst Bressal.«

»Und euch haben sie im Laderaum eingesperrt gehalten?«

»Ja, bis eben.«

»Wir reden später über alles. Kommt, wir wollen erst sehen, ob das Schiff wieder in unseren Händen ist.«

Heraklius ging voran und geleitete sie aufs Deck. Oben war die Schlacht vorüber. Die Anhänger der »Taube des Todes« hatten einen hohen Preis gezahlt, es gab nur einen Gefangenen. Die Leichen der anderen lagen inmitten von Blutlachen verstreut auf dem Deck.

Die Mannschaft der Ringelgans stand, geblendet vom hellen Tageslicht, und rieb sich die Augen.