KAPITEL 17

Fidelma glaubte, in der nur schemenhaften Gestalt jemand erkannt zu haben. Doch als sie sich zu Bleidbara und Eadulf umdrehte und ihnen ihren Verdacht kundtun wollte, rannten die schon den grasbewachsenen Hang hinunter zum Ufer.

Als alle drei unten angelangt waren, kam von der anderen Seite einer von Bleidbaras Männern angelaufen, denn auch er hatte das Boot und seinen Insassen gesehen.

Iarnbud lag bäuchlings im seichten Wasser und versuchte unter Aufbietung aller Kräfte, festen Grund zu gewinnen. Nahe der Wirbelsäule steckte ein Pfeil in seinem Rücken.

Bleidbara und der andere Krieger wateten ins Wasser, streckten Iarnbud die Hände entgegen und zerrten den bretat an Land. Er stöhnte vor Schmerzen.

»Du lieber Gott, er lebt!«, murmelte Eadulf und beugte sich zu dem Verletzten hinunter. Doch mit sachkundigem Blick musste er feststellen, dass ihm nicht mehr zu helfen war. Er richtete sich auf, sah sich zu den anderen um und schüttelte nur stumm den Kopf.

Iarnbud öffnete die Augen; sein glasiger Blick irrte von einem zum anderen und blieb schließlich an Bleidbara haften. Er bewegte die Lippen, doch nur ein trockenes, raues Husten entrang sich seiner Kehle, und aus dem geschlossenen Mund sickerte Blut.

»Was willst du mir sagen, Iarnbud? Sprich!«, redete ihm Bleidbara sachte zu.

Er gab nur unverständliche Wortfetzen von sich. Einzig und allein den Namen »Heraklius« konnten sie wiederholt ausmachen.

»Er verlangt nach dem Arzt«, sagte Bleidbara, »will Heraklius sehen.«

Mit einer letzten Kraftanstrengung griff Iarnbud plötzlich nach Bleidbaras Hemd und zog dessen Kopf näher zu sich heran. Die blutigen Lippen arbeiteten heftig, aber das einzige, was Fidelma und Eadulf verstehen konnten, war Koulm ar Maro.

»Das Schiff, was sagt er darüber?«, fragte Fidelma erregt.

Bleidbara legte das Ohr an die Lippen des Sterbenden. Das Flüstern wurde immer schwächer und brach dann mitten in einem Wort ab, der Kopf sackte zurück, und Iarnbud war tot. Eine lange Weile konnte der Krieger seinen Blick nicht von ihm lassen und meinte dann mit einem leisen Seufzer: »Heraklius braucht er nun wohl nicht mehr.«

»Was konntest du seinen Worten entnehmen?«, fragte Fidelma ungeduldig.

Bleidbaras Gesicht verriet gleichermaßen Triumph und Trauer. »Er hat die Koulm ar Maro gefunden und konnte manches von deren Plänen belauschen. Offensichtlich haben die für morgen früh etwas vor.«

»Und was soll morgen passieren?«

»Sie wollen morgen früh die Ebbe nutzen, mit der Koulm ar Maro aufs offene Meer fahren und sich bei der Abtei der Küste nähern; dort soll sich ihr Vorhaben vollenden.«

»Damit kann ich nichts anfangen. Wie vollenden?«, fragte Eadulf.

Bleidbara zuckte mit den Achseln. »Mehr hat er nicht gesagt. Nur noch irgendwas über Essen und Heraklius, was ich mir nicht zusammenreimen kann.«

»Trifina hat uns erzählt, Iarnbud hätte für euch beide gearbeitet. Stimmt das?«

Er nickte. »Er war der Familie auf Brilhag treu ergeben. In den letzten Wochen ist er ständig unterwegs gewesen, um etwas über die Koulm ar Maro in Erfahrung zu bringen. Und das wenige, was er in Erfahrung bringen konnte, hat er jetzt mit dem Leben bezahlt.«

»Hätte er doch nur gesagt, wie sie ihr Vorhaben vollenden wollen«, klagte Eadulf. Gleichzeitig merkte er, dass das Boot abzutreiben drohte. Er watete ins Wasser, packte es am Dollbord und zog es weiter auf den Strand. Dabei streifte sein Blick kurz das Bootsinnere, und er stieß einen kleinen Schrei aus.

»Rasch! Ich dachte, es war nur eine Stoffbahn, hingeworfenes Segeltuch oder so. Aber …«

Bleidbara sprang hinzu und riss das Tuch zur Seite.

Sie hatten den reglosen Körper von Iuna vor sich. Mit bleichem Gesicht lag sie da, als wäre sie tot. Ohne große Mühe hob Bleidbara die Frau aus dem Boot, trug sie ein paar Schritte weiter zum Uferrand und legte sie behutsam auf dem trockenen Strand ab. Eadulf kniete neben ihr nieder und tastete sie prüfend ab.

»Tot ist sie nicht, aber bewusstlos und stark unterkühlt.« Er befühlte den Schädel, stellte keine äußere Einwirkung fest, beugte sich zu ihrem Mund, als hoffte er, an ihrem Atem etwas zu erkennen. »Einen Hieb auf den Kopf hat man ihr nicht versetzt, aber den blauen Lippen nach zu schließen, hat sie irgendetwas Giftiges zu sich genommen. Auch ihr Atem deutet darauf hin, er riecht befremdlich. Aber was es sein könnte, weiß ich nicht. Ohne Heraklius kommen wir nicht weiter.«

Bleidbara fluchte leise, sagte etwas zu dem anderen Krieger, und der trottete davon. Ratlos umringten die Zurückbleibenden Iuna und warteten angstvoll auf den Arzt. Nicht lange, und er eilte herbei.

»Sie hat Gift geschluckt«, waren die Worte, mit denen Eadulf ihn empfing. »Ich weiß nur nicht, was.«

Heraklius bestätigte seinen Verdacht. »Ich fürchte, es ist der Grüne Knollenblätterpilz, den sie gegessen hat.« Seiner Miene war zu entnehmen, wie ernst es um Iuna stand.

»Kannst du etwas für sie tun?«, fragte Fidelma. »Wir brauchen ihre Aussage, müssen erfahren, was mit ihr geschehen ist.«

»Große Hoffnung habe ich nicht. Ob sie wieder zu sich kommt, hängt davon ab, wann sie das Gift zu sich genommen hat. Es ist ein starkes Zeug und führt meist zum Tod. Ein einziger Pilz reicht, dass ein Erwachsener einen qualvollen Tod stirbt. Es kann zwei Tage dauern.«

»Und es gibt kein Gegenmittel?«

»Nichts, was wirklich die Toxine unschädlich macht. Aber wir werden sie in die Villa schaffen und ihr einen Sud aus dem reifen Samen der Mariendistel einflößen. Wenn das Gift noch nicht zu lange in ihrem Körper ist, könnte das helfen. Ob das anschlägt und sie überlebt, wissen wir jedoch nicht vor morgen früh.«

Er bedeutete Bleidbaras Gefährten, Iuna ins Haus zu tragen. Bevor er ihm folgte, warf er noch einen bedauernden Blick auf Iarnbud. »Meine oberste Pflicht ist, mich um die Lebenden zu kümmern.«

»Ich habe mich für Iarnbud nicht recht erwärmen können«, bekannte Eadulf, »aber er hat sein Leben hingegeben, und das darf nicht umsonst gewesen sein.«

»Für mich kommt nur eins in Frage«, erklärte Bleidbara enschlossen. »Wenn die Koulm ar Maro morgen früh in die offene See ausläuft, werden wir sie abfangen.«

»Wie willst du das machen?«, fragte Fidelma.

»Die Kormoran ist gefechtsbereit. Wir segeln zur Durchfahrt und werden die Koulm ar Maro dort erwarten. Sie kann nur zu einer ganz bestimmten Zeit den engen Kanal passieren, nämlich dann, wenn die Ebbe einsetzt und die Wassermassen aus dem Morbihan strömen. Meine Leute stammen von den Venetern, sind seit Generationen im Seegefecht geübt. Wir werden ihnen einen heißen Empfang bereiten«, endete er mit drohender Stimme.  

»Auch wenn ihr das hier das Kleine Meer nennt, Bleidbara, so ist es doch groß genug, ein Schiff aus den Augen zu verlieren, und zwischen den vielen Inseln kann man sich unauffindbar verstecken.« Nicht ohne Grund hatte Eadulf Bedenken.

»Ich kenne mich in den Wassern aus. Und da ich weiß, welche Route die Seeräuber nehmen und was sie vorhaben, brauche ich die Koulm ar Maro nicht zu scheuen.«

»Dann möchte ich dich begleiten«, verkündete Eadulf. In Wahrheit befürchtete er, Fidelma könnte darauf bestehen, Bleidbara auf der Kormoran selbst zu begleiten. Es konnte leicht zu einem erbitterten Gefecht auf See kommen, und da wollte er sie außer Gefahr wissen. »Sollte es noch Überlebende von der Ringelgans geben, die sie als Gefangene an Bord haben, könnte ich von Nutzen sein, denn ich kenne ihre Gesichter.«

Bleidbara war plötzlich in bester Stimmung. Als Krieger war er tatendurstig, und da er jetzt Handlungsbedarf sah und es um Dinge ging, von denen er etwas verstand, blieb er unerschütterlich.                 

»Das zeugt von Mut, Eadulf. Für einen Mönch wie dich ist es erstaunlich, dass du keine Bedenken hegst, dich in den Kampf zu stürzen.«

»Wenn es darum geht, den Mördern das Handwerk zu legen, bin ich bereit, jedes Ungemach zu ertragen«, erklärte Eadulf.

Fidelma berührte seinen Arm und bekundete stummes Einverständnis. Sie spürte, dass er sich ihretwegen in den Vordergrund gedrängt hatte, wusste aber im selben Moment, dass es eine richtige Entscheidung war. Ihre Aufgabe war es jetzt, nach Brilhag zurückzukehren, denn dort gehörte sie hin, wollte sie die rätselhaften Vorgänge entwirren.

»Ich werde in Brilhag auf eure Rückkehr warten«, sagte sie.

»Und ich werde alles daransetzen, um das Übel auszuräuchern.« Bleidbara prüfte den Stand der Sonne. Die Überfahrt nach Govihan und das Absuchen der Insel hatte sie beträchtliche Zeit gekostet, es war darüber Nachmittag geworden. »Bis zur Morgendämmerung bleiben uns viele Stunden. Am besten, wir tun uns noch etwas in der Villa um, vielleicht hat Heraklius schon etwas ausrichten können. Ich brauche ihn nämlich an Bord, wenn wir uns die Koulm ar Maro vornehmen. Er muss jemand aus der Dienerschaft einweisen, der sich um Iuna kümmert.«

Fidelma sah ihn fragend an, aber er äußerte sich nicht weiter.

»Bis du hinaussegelst, um die Koulm ar Maro abzufangen, sind uns die Hände gebunden. Selbst wenn Iuna zu sich kommen sollte, wird sie uns nicht gleich erzählen können, was sich abgespielt hat. Aber eins ist sicher: Sie war Haushälterin auf Brilhag und kannte sich gewiss mit Lebensmitteln aus. Einen Knollenblätterpilz hat sie bestimmt gekannt und von essbaren Pilzen zu unterscheiden gewusst. Jemand hat sie vorsätzlich vergiftet.« Fidelma machte eine Pause, ehe sie fortfuhr. »Wenn sich mein Verdacht bestätigt, haben die rätselhaften Vorgänge ihren Ursprung auf Brilhag. Aber du musst mir noch das letzte Steinchen zu meinem Mosaik liefern.«

»Du weißt, wer hinter all den Überfällen steckt?«, fragte Bleidbara ungläubig.

»Ich habe nur gesagt, dass ich einen Verdacht habe und dass mir noch ein letztes Beweisstück fehlt. Bevor ich aber meine Entschlüsselung offen darlege, wäre es gut zu wissen, dass die Ringelgans mit den Überlebenden sicher geborgen ist und dass sich unter den Geretteten auch Trifina befindet.«

Die selbstbewusste Art ihrer Äußerungen setzte selbst Eadulf in Erstaunen. »Wäre es nicht angebracht, uns ins Vertrauen zu ziehen, wenn du bereits weißt, wer hinter der Koulm ar Maro, hinter den Raubüberfällen und Morden steckt?«, gab er vorsichtig zu bedenken.

»Ich habe von einem Verdacht gesprochen, und ein Verdacht ist kein Beweis und kann folglich die Anklage nicht stützen, selbst wenn die Indizien dafür sprechen.«

»Geteiltes Wissen bedeutet halbe Gefahr.«

»Schon ein geflüstertes Wort, ein verstohlener Blick könnten meine Gedanken verraten, Eadulf. Ein bloßes Augenzwinkern genügt, und alles ist verloren.«

»Wir können dich gut und gerne mit der Kormoran nach Brilhag bringen«, schlug Bleidbara vor. »Wir setzen dich dort am Abend ab und segeln dann zu einer Stelle, wo wir ankern und bis zur Morgendämmerung warten können, um zum gegebenen Zeitpunkt die Seeräuber gebührend zu empfangen.«

»Großartig. Ich glaube, wir stehen kurz vor der Lösung der Rätsel«, meinte sie zuversichtlich.

»Wenn es uns gelingt, das Schiff zu überwältigen, gerät uns bestimmt auch sein Kapitän in die Fänge, und dann können wir den Übeltäter in persona vorführen«, frohlockte Eadulf.

»So einfach wird sich die Sache wohl nicht darstellen«, dämpfte sie seinen Optimismus.

Es war schon dunkel, als die Kormoran in der Bucht unterhalb der Burg Brilhag anlegte. Es war später geworden, als ursprünglich gedacht, denn Bleidbara hatte darauf bestanden, merkwürdiges Ladegut an Deck zu hieven – rätselhafte Teile aus Holz in Rahmengestellen auf Rädern und mit Seilen umgurtet. Noch nie hatten Fidelma oder Eadulf Konstruktionen dieser Art gesehen, und sie hatten auch keinerlei Vorstellung, was sich dahinter verbergen könnte. Die Gestelle wurden im Bug des Schiffes abgesetzt und mit Stoffbahnen abgedeckt. Bleidbara hatte nur erklärt, dass er das Material brauche und dass er unbedingt Heraklius bei sich haben müsse. Fidelma verließ sich darauf, dass Bleidbara wusste, was er tat, und plagte ihn nicht mit unnötigen Fragen. Der junge Arzt aus Konstantinopel überwachte die Verladung und achtete mit besonderer Sorgfalt auf eine versiegelte Holzkiste, die mit auffälliger Vorsicht bewegt wurde. Bleidbara entging natürlich nicht, mit welcher Neugier Fidelma und Eadulf den Verladevorgang beobachteten, verlor jedoch kein Wort.

Iuna war mit dem Nötigen versorgt worden, aber nach Heraklius’ Aussagen würde sich erst nach zwölf Stunden zeigen, ob sie auf seine Behandlung ansprach oder nicht. Er hatte sie mit genauen Anweisungen der Obhut einer Hausmagd anvertraut, und Fidelma hatte durchgesetzt, zur Sicherheit auch einen Krieger dazulassen.

Als sie vor Brilhag ankerten und Fidelma mit einem Boot ans Ufer gerudert werden sollte, verabschiedete sich Bleidbara von ihr.

»Wir müssen jetzt fort und gehen weiter unten an der Küste vor Anker, um für morgen früh gerüstet zu sein. Wenn alles läuft wie geplant, siehst du uns irgendwann morgen wieder hier.«

»Ich werde euch erwarten. Viel Glück und gutes Gelingen.«

»Glück können wir alle brauchen, Lady. Diese Bande stürzt sich mit mörderischer Lust auf jeden, der ihr in den Weg kommt. Wenn du Hilfe brauchst, halte dich an Boric. Auf den ist Verlass. Sag ihm, dass du auf meine Anordnung hin Befehlsgewalt über ihn hast.«

Fidelma wandte sich Eadulf zu und drückte ihm liebevoll den Arm. »Pass gut auf dich auf!«, sagte sie leise. Dann kletterte sie vom Schiff ins Boot. Einer von der Mannschaft ruderte sie ans Ufer und kehrte sofort zur Kormoran zurück.

Eine kurze Weile noch blickte Fidelma dem entschwindenden Boot nach, dann drehte sie sich um und folgte dem ausgetretenen Pfad, der zur Burg hoch führte. Sie hatte Mühe, die Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, und ärgerte sich, keine Laterne mitgenommen zu haben. Da kam der Mond wie gerufen, der hinter einer Wolkenbank hervortrat und die Umgebung in ein bläuliches Licht tauchte. Im gleichen Moment sah sie wenige Schritte vor sich einen Mann, der ihr den Weg versperrte. Viel erkennen konnte sie nicht. Er hielt einen Schild, auch hing ein Schwert an seiner Seite. Er rief sie auf Bretonisch an. Was er wollte, erriet sie mehr, als dass sie es verstand. Im Glauben, sie hätte es mit einem von Borics Wachposten zu tun, antwortete sie und war erstaunt, dass er auf sie zukam und sie anherrschte. Sie verstand kein Wort und versuchte es mit Latein.

»Loquerisne linguam latinam?«

Er schüttelte den Kopf, drehte sich um und rief etwas. Gleich darauf kam ein zweiter Mann trotz der Dunkelheit im Laufschritt herbei. Der erste nahm Haltung an und berichtete hastig.

»Wer bist du?«, fragte der Hinzugekommene auf Latein.

»Fidelma aus Hibernia«, erwiderte sie ein wenig ärgerlich und hielt diese Form des Sich-zu-erkennen-Gebens für die vernünftigste. »Wo ist Boric?«, setzte sie hinzu.

Der Mann antwortete nicht. Stattdessen blickte er aufmerksam über sie hinweg in die Ferne. Offensichtlich hatte er die Umrisse der Kormoran erspäht.

»Was ist das für ein Schiff?«, fragte er, ehe sie etwas hatte sagen können.

»Es ist die Kormoran unter dem Kommando von Burghauptmann Bleidbara …«

Es erübrigte sich weiterzusprechen, denn der Mann hatte sich bereits umgedreht und erteilte Anordnungen. Fidelma spürte, dass etwas nicht stimmte.

»Wer bist du? Und wo ist Boric, der die Wachmannschaft hier befehligt?«

»Du kommst jetzt mit auf die Burg und wirst mir vorangehen«, bekam sie statt einer Antwort zu hören; warnend hatte der Mann die Hand ans Schwert gelegt.

Voller Schrecken begriff sie, dass sie nicht Bleidbaras Posten vor sich hatte, und warnen konnte sie ihn auch nicht. Ein Gedanke jagte den anderen. Sie ging voran wie befohlen, der Krieger immer zwei Schritte hinter ihr. Sie erreichten das Tor in der äußeren Mauer und gelangten schließlich an die Tür, die in die Küchenräume führte. An allen Gängen standen Wachposten.

Wie hatte es geschehen können, dass die Burg in die Hände dieser Männer gefallen war? Sie waren alle gutgekleidet, schwerbewaffnet und verhielten sich korrekt. Banditen von der Koulm ar Maro, wie sie anfänglich befürchtet hatte, waren es nicht.

Man trieb sie durch die Küchenräume und von dort weiter in die Große Halle.

Am Feuer standen zwei Männer; im Schein der Flammen huschten Schatten über ihre Körper. Als Fidelma in den Raum geschubst wurde, sahen beide überrascht auf.

Der eine von ihnen, ein großer, stattlicher Mann von gut fünfzig Jahren, mit langem rötlichen Haar und einem Bart, von freundlichem Äußeren, kam einen Schritt auf sie zu. Seine Augen wirkten etwas blass, Fidelma wusste nicht recht, ob sie blau oder grau waren. Er war vornehm gekleidet, trug eine goldene Kette und ebensolche Armbänder.

»Wer bist du?«, fragte er sie.

Fidelma, ihrerseits verärgert, als Gefangene vorgeführt zu werden, stellte aufgebracht die Gegenfrage: »Ich hätte gern gewusst, wer du bist, und mit welchem Recht mich deine Leute gefangen halten.«

Der Mann blickte sie groß an. Der andere, schon etwas älter und ergraut, lachte los, als hätte er einen guten Witz gehört. 

»Ich bin Alain von Domnonia und König der Bretonen, und das berechtigt mich zu tun, wie mir beliebt«, erwiderte der Befragte. »Aber nun zu dir. Wer bist du?«

Aus dem hinteren Ende der Halle löste sich eine weitere Gestalt. »Das ist die Fremdländische, von der ich dir erzählt habe, Vater. Fidelma aus Hibernia.«

Sie erkannte Budic, wurde aber sofort abgelenkt, weil König Alain mit raschen Schritten und ausgestreckten Händen auf sie zukam.

»Fidelma aus Hibernia. Ich heiße dich willkommen. Riwanon und Budic haben mir von dir erzählt. Sie haben auch berichtet, welches Schicksal dich hierhergeführt hat. Nochmals willkommen, mir tut es aufrichtig leid, dass du so viel Schlimmes hast erdulden müssen. Dein Vetter Bressal war ein geschätzter Gast an meinem Hof, als wir gemeinsam ein Abkommen zwischen meinem Volk und deinem Bruder, dem König von Muman, ausgehandelt haben. Es schmerzt mich zutiefst, von seinem Tod und deinem Kummer zu erfahren. Wo ist dein Gefährte, Eadulf, der Angelsachse?«                 

Fidelma warf einen kurzen Blick auf Budic, der sich grinsend auf den Tisch setzte und lässig mit einem Bein hin und her baumelte. Es schien seine Lieblingshaltung zu sein. Dann schaute sie zu dem älteren Mann am Feuer. Irgendwie erinnerte er sie an jemand. Alain nahm ihren prüfenden Blick wahr und lächelte.

»Ich bitte um Nachsicht, dass ich dir den mac’htiern nicht vorgestellt habe: Lord Canao.«

Der mac’htiern trat ein paar Schritte näher, und nun wurde ihr klar, warum er ihr bekannt vorkam. Die Ähnlichkeit mit Macliau und Trifina war unverkennbar. Im Gegensatz zu Macliau, dessen Gesichtszüge die eines Schwächlings waren, wirkte das Gesicht von Canao, seinem Vater, kraftvoll, reif und weise. Er streckte ihr seine Hand entgegen.

»Man hat mir berichtet, wie du meinen Sohn vor den erzürnten Bauern gerettet hast, die ihn fast getötet hätten, und dass du dich aufgemacht hast, meine verschwundene Tochter zu suchen. Hast du etwas über ihren Verbleib in Erfahrung gebracht?«

»Wir haben sie leider nicht gefunden, aber doch eine Erkenntnis gewonnen, die uns vielleicht zu ihr führt.«

Der Krieger, der sie auf die Burg gebracht hatte, wandte sich an den König und teilte ihm mit hastigen Worten etwas mit. Alain ließ Fidelma nicht im Unklaren. »Der Hauptmann meiner Garde berichtet von einem Schiff, das in der Bucht unten liegt, und ist um unsere Sicherheit besorgt.«

»Es gibt keinen Grund zur Aufregung. Das Schiff ist die Kormoran. Es wird von Bleidbara befehligt. Ich selbst bin gerade erst von Bord gegangen. Eadulf, mein Gefährte, ist mit auf dem Schiff. Sie haben vor, in der Morgendämmerung die Suche nach Lord Canaos Tochter wieder aufzunehmen. Auch besteht gute Hoffnung, dass sie die Ringelgans aufspüren und zu den Überlebenden der Mannschaft vordringen.«

Lord Canao nickte befriedigt. »Bleidbara ist ein guter Mann. Nicht umsonst habe ich ihn zum Befehlshaber meiner Krieger gemacht. Bei ihm liegt die Sache in besten Händen.«

»Du musst uns alles ausführlich erzählen, Lady«, forderte Budic Fidelma auf und rutschte von seinem Thron. »Außerdem möchte ich mit dabei sein, wenn es zum Gefecht kommt, und all die Todesopfer rächen, die es hier gegeben hat. Man wird mir doch einen Mann zur Verfügung stellen, der mich zur Kormoran rudert, oder?«

Mit einer Handbewegung gebot König Alain dem jungen Mann Einhalt. »Wir sollten lieber von Gerechtigkeit sprechen, um die es geht, mein Sohn, nicht von Rache.«

»Budic von Domnonia«, wisperte Fidelma, fast mehr zu sich, und laut zum König: »Dann ist er der Sohn deiner ersten Frau, die die Gelbe Pest dahingerafft hat?«

Ein Ausdruck der Trauer glitt über sein Gesicht.

»Erstaunlich, was du alles weißt. Budic ist mein einziges Kind. Seine Mutter war mir eine großartige Frau und Gefährtin. Als sie an der Gelben Pest starb, fürchtete ich, den Verlust nie verschmerzen zu können. Aber ich fand Trost in Riwanon, Gott sei gedankt. Zwei großen Lieben in einem Leben zu begegnen ist, einem Menschen selten vergönnt. Mir aber ist das große Glück zuteilgeworden.«

»Mit deiner gütigen Erlaubnis, Vater, möchte ich mich zu Bleidbara begeben.«

König Alain schüttelte den Kopf. »Ich brauche dich hier, Budic. Bleidbara und seine Männer sind tüchtig genug und kommen allein zurecht. Ich möchte den Hauptmann meiner Garde an meiner Seite wissen.«

Die Entscheidung beglückte Budic nicht, doch er musste sich fügen. König Alain sprach kurz mit dem Krieger, der salutierte und verschwand. Danach galt Alains Aufmerksamkeit wieder Fidelma.

»Ich habe ihn angewiesen, das Schiff des mac’htiern nicht zu behelligen.«

»Was hat Bleidbara vor, Fidelma? Los, berichte uns von seinen Plänen«, drängte Budic.

Fidelma hielt es für angebracht, so wenig wie möglich zu sagen und nichts preiszugeben, solange sie keine Beweise für ihre Vermutungen hatte. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht.

»Bleidbara glaubt zu wissen, wo sich der Seeräuber Koulm ar Maro aufhält. Wo genau, danach brauchst du mich nicht zu fragen, denn ich kenne die Gewässer hier nicht, aber ich denke mal, es geht um eine Bucht mehr im Osten.« Sie gab bewusst eine falsche Richtung an.

»Ich finde, wir sollten ein paar Erfrischungen auftischen«, lenkte der König ab, »und dabei kannst du uns von deinen Abenteuern berichten. Ich bin überzeugt, du hast uns einiges zu bieten, was unsere Barden später aufgreifen und besingen dürften.«

»Ich würde das gerne tun, Alain. Aber noch ist das Abenteuer nicht ausgestanden, und ich glaube, wir sind gut beraten, weiterhin auf der Hut zu sein«, entgegnete sie ernst. »Wenn ich mich nicht täusche, kommt das rätselhafte Geschehen sehr rasch zu seinem geplanten Ende.«

»Ein geplantes Ende? Wie meinst du das?« Der König war verdutzt.

»Morgen werde ich es dir sagen können.«

»Die Fremdländische wird dramatisch«, spottete Budic. »Rätselhaftes Geschehen – was soll das schon sein?«

Der König schaute sie nachdenklich an.

»Mir scheint, ich darf deine Bemerkung nicht auf die leichte Schulter nehmen, Fidelma. Deinem Gesicht nach zu urteilen meinst du es ernst. Befürchtest du so etwas wie eine Verschwörung?«

»Ja. Bis morgen sollten wir Vorsicht walten lassen. Wenn der morgige Tag vorüber ist, glaube ich, wissen wir mehr und haben genügend Tatsachen an der Hand. Aber heute Nacht sollten wir uns mit Lord Canaos gütiger Erlaubnis – denn ich weiß von der Regelung, dass das Tragen von Waffen im Haus verboten ist –, arrectis auribus, verteidigungsbereit halten, die Schlafkammern verschließen und zuverlässige Wachposten vor die Türen stellen.«

»Fidelma!« Mit einem Lächeln auf den Lippen kam Riwanon die Treppen heruntergeeilt und lief auf Fidelma zu.

»Ich habe mir solche Sorgen gemacht, als du heute früh verschwunden warst. Ceingar tot, Trifina und Iuna wie vom Erdboden verschluckt, ich wusste nicht aus noch ein. Wie schön, dich gesund und munter zu sehen. Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen. Auch Alain ist inzwischen hier, alles wird gut!« Sie schaute in die Runde, als vermisste sie jemand. »Wo sind Eadulf und Bleidbara? Und habt ihr Trifina und Iuna gefunden?«

Fidelma schüttelte traurig den Kopf.

»Aber wir haben die Suche nicht aufgegeben. Morgen erfahren wir hoffentlich mehr. Bleidbara ist weiterhin auf der Suche nach ihnen. Für heute bleibt uns nichts weiter zu tun, als uns zur Ruhe zu begeben und den morgigen Tag abzuwarten.«

»Das ist eine traurige Heimkehr für mich«, stellte Lord Canao bedrückt fest. »Mein Sohn Macliau des Mordes beschuldigt. Meine Tochter Trifina und meine Pflegetochter Iuna beide vermisst. Abt Maelcar und die Kammerzofe meiner Frau ermordet, und das unter meinem Dach. Mein Volk beschuldigt mich und die Meinen ungezählter Verbrechen. Gott allein weiß, was für eine Verschwörung im Gange ist. Zudem erfahre ich, dass ein bretat namens Kaourentin aus Bro-Gernev eingetroffen ist, um meinen Sohn zu vernehmen.«

Sein letzter Satz ließ Fidelma aufhorchen.

»Der bretat ist bereits hier? Bruder Metellus hat gemeint, man müsste mit einem Ritt von vier Tagen rechnen, zwei Tage hin und zwei zurück.«

»Wie ich hörte, war Kaourentin auf dem Weg von Bro-Gernev nach Naoned und stieg zufällig an der Abtei von Gildas ab, um Gastfreundschaft zu erbitten«, erklärte Canao. »Nach Bruder Metellus’ Worten war man der Ansicht gewesen, es sei besser, wenn statt meines eigenen bretat ein Richter aus Bro-Gernev meinen Sohn vernimmt. Die Leute würden das Urteil eines bretat von Brilhag nicht anerkennen.«

»Ist Bruder Metellus denn hier?«, fragte Fidelma.

»Er ist zusammen mit Kaourentin gekommen. Mir wäre Iarnbud, mein eigener bretat, lieber gewesen. Seinem Rat vertraue ich.«

»Ich will dir nicht verhehlen, dass auch Iarnbud tot ist«, teilte ihm Fidelma sachlich mit. »Ich erkläre dir später, wie es dazu kam.«

»Noch mehr Tote? Sind wir in irgendeiner Weise bedroht, Fidelma?« Der König war sichtlich erschrocken.

»Nicht nur in irgendeiner Weise, sondern auf jede Art und Weise«, entgegnete sie mit trockenem Humor. »Ich habe ja schon gesagt, wir müssen auf alles gefasst sein heute Nacht.«

»In die Burg einzudringen, würde sich niemand wagen.« Budic lachte abwehrend. »Wir haben genügend Wachposten.«

»Könnte ja sein, es muss niemand erst eindringen«, erwiderte Fidelma leise.

Riwanon überlief ein Schauer. »Du machst mir Angst, Fidelma. Was soll deine Bemerkung?«

»Ich will nur sagen, dass wir alle wachsam sein müssen, morgen entscheidet sich alles.«

»Morgen? Du sprichst immer wieder von ›morgen‹. Wieso morgen?«, fragte der König beunruhigt.

»Weil sich morgen alle Verstrickungen des Verbrechens offenbaren werden.«