KAPITEL 16

Das Warten und die Ungewissheit machte die Menschen auf der Burg gereizt und überempfindlich. Ein Krieger hatte von Barbatils Hof Macliaus geliebten Hund aus dem Schweinekoben geholt, und Macliau hatte darauf bestanden, eigenhändig ein Grab für das tote Tier in den Gärten der Burg zu schaufeln. Das war im Beisein von Trifina und Fidelma geschehen. Kein Wort war gefallen. Nachdem Macliau, sichtlich von Kummer überwältigt, seinen Albiorix beerdigt hatte, war er still in sich versunken mit einem Krug Wein auf sein Zimmer gegangen. Dass der Tod eines Hundes einen Mann derart mitnehmen konnte, fand Fidelma befremdlich.

»Kennt Iarnbud Budic?«, fragte sie Trifina unvermittelt, als beide langsam zur Großen Halle zurückgingen. Die schaute sie überrascht an.

»Ich glaube nicht. Wie kommst du darauf?«

»Es war nur so ein Gedanke. Ist Budic in der Vergangenheit schon mal hier gewesen? Mir ist, als hätte Riwanon davon gesprochen, sie kenne die Abtei Gildas aus früherer Zeit.«

»Das ist eine Ewigkeit her, noch bevor sie Alain heiratete. Nein, Budic war nie hier«, meinte Trifina kopfschüttelnd. »Das heißt …«

»Das heißt … sprich weiter.«

»Iuna hat meinen Vater mehrfach zum Hof von Alain Hir in Brekilien begleitet.«

»Ich denke, Brekilien ist ein Waldgebiet?«

»Ist es auch, aber in den Wäldern liegt die Königspfalz, nicht weit von der Abtei Pempont, die König Judicael ein paar Jahre vor seinem Tod gründete. Pfalz und Abtei gelten als Mittelpunkt unserer Kirche und unseres Königtums.«

Sie trennten sich. Trifina zog sich in ihre Gemächer zurück, und Fidelma ging in die Große Halle, in der sie nur zwei Personen vorfand. Am Feuer im hinteren Ende des Raumes standen Riwanon und Budic, sie waren in ein ernstes Gespräch vertieft. Was Fidelma aber überraschte, war ihre körperliche Nähe zueinander, sie berührten sich fast, ungewöhnlich für das Verhältnis zwischen einer Königin und dem Befehlshaber ihrer Leibwache. Riwanon sah zu Budic auf, und er blickte ihr eindringlich in die Augen. Sie unterhielten sich leise und leidenschaftlich.

Fidelma zog die Tür hinter sich heftiger als nötig zu. Erschrocken sprangen beide zur Seite, als fühlten sie sich ertappt. 

»Ach, du bist es, Fidelma«, begrüßte Riwanon sie mit einem gezwungenen Lächeln. »Gibt es etwas Neues?«

»Bleidbara ist noch nicht zurück«, erwiderte Fidelma und ging langsam auf das Feuer zu. Trotz der sommerlichen Temperaturen draußen war es in der Halle kühl. »Und Macliau hat seinen Hund beerdigt.«

Budic hatte für die Bemerkung nur ein abfälliges Grinsen übrig und fragte in dem ihm eigenen spöttischen Ton: »Denkst du immer noch, er ist unschuldig?«

»Es geht nicht darum, was ich denke. Es geht darum, was der bretat entscheidet, wenn er die Aussagen geprüft hat.«

»Man hätte ihn sofort vor Gericht stellen sollen«, beanstandete Budic. »Nach so langer Zeit kann es kein gerechtes Urteil geben.«                 

»Ich dachte, es gilt auch bei euch, dass man ohne das Urteil eines bevollmächtigten Richters niemand bestrafen darf. Und eine aufgebrachte Meute hat für meine Begriffe schon gar kein Recht, einen anderen abzuurteilen.«

Budic wollte widersprechen, besann sich aber eines Besseren und ließ sich achselzuckend in einen Armsessel am Feuer sinken. Riwanon warf ihrem Leibwächter einen verärgerten Blick zu.

»Dieses Abwarten geht einem auf die Nerven«, meinte sie entschuldigend. »Tatenlos sitzen und warten, ob die Banditen über die Burg herfallen oder nicht.«

»Leider bleibt uns nichts anderes übrig«, entgegnete Fidelma. »Wir können nur versuchen, Ruhe zu bewahren. Nach allem, was ich von der Burg gesehen habe, sind wir bestens geschützt.«

»Hoffentlich können dein angelsächsischer Freund und Bleidbara das auch von sich sagen«, brummte Budic.

Eadulfs Herz klopfte unruhig. Gebannt saß er auf seinem Pferd, denn er, Bleidbara und ihre Begleiter waren an einer Lichtung stehen geblieben, während Boric vorausgeritten war, um den Weg zu erkunden. Jetzt kam der Fährtenleser zurückgaloppiert.

»Ein Reiter!«, verkündete er mit gedämpfter Stimme. »Allein, in straffem Galopp.«

Es brauchte nur eine Armbewegung von Bleidbara, und seine Männer gingen auf beiden Seiten des Waldwegs in Deckung. Er selbst und Eadulf verbargen sich im dichten Unterholz. Schon hörten sie das dumpfe Aufschlagen von Pferdehufen auf dem aufgeweichten Boden. Der Reiter saß nach vorn gebeugt, lag fast auf dem vorgestreckten Nacken des Tieres. Er hatte es sichtlich eilig. Schon aus einiger Entfernung erkannte Eadulf an der Kleidung, dass das kein gewöhnlicher Krieger war. Ein bunter Umhang, den er über den Schultern trug, flatterte im Wind, der blanke Helm war verziert, die Rangabzeichen auf dem safrangelben Waffenrock konnte Eadulf jedoch nicht recht erkennen. Er war mit einem Schwert gerüstet, hatte aber weder Schild noch Lanze.

Als der Reiter auf ihrer Höhe war, peitschte Bleidbara sein Pferd nach vorn und versperrte ihm den Weg. Auch die anderen Krieger preschten vor. Das Ross des Fremden scheute und tänzelte kurz auf den Hinterbeinen.

»Aus dem Weg!«, rief der Mann ärgerlich und griff zum Schwert. »Im Namen des Königs, aus dem Weg!«

Bleidbara wich nicht von der Stelle.

»Wer bist du?«, fragte er ruhig.

»Ein Bote von König Alain, unterwegs in seinem Auftrag. Aus dem Weg, sage ich!« Der Tonfall war sehr von oben herab.

»Ich bin der Befehlshaber der Leibwache auf der Burg Brilhag«, tat Bleidbara kund. »Du bewegst dich in gefährlichem Gebiet, mein Freund.«

»Nicht, wenn der mac’htiern von Brilhag meinem König treu ergeben ist«, lautete die Antwort.

»Brilhag ist ihm treu ergeben, aber in den Wäldern hier lauern Feinde.«

»Das brauchst du mir nicht zu erzählen. Ein Stück weiter zurück wäre ich einem Trupp Banditen fast in die Hände gefallen. Sie schossen mit Pfeilen auf mich, aber mein Pferd war schneller als sie. Seid ihr ihnen hinterher?«

»Hast du sie gesehen?«

»Drei Mann, mehr nicht.«

»Wir suchen sie.«

»Haltet euch an diesen Pfad hier. Als ich auf sie traf, schlugen sie in einer kleinen Lichtung an einem Fluss ein Lager auf.«

Die Auskunft machte Bleidbara stutzig.

»Um diese Zeit und ein Lager aufschlagen? Bis es dunkel wird, sind es doch noch ein paar Stunden. Wir könnten mühelos nach Brilhag zurückreiten und kämen immer noch vor der Dämmerung an.«

»Genau dort muss ich hin, im Auftrag des Königs. Treffe ich auf der Burg Königin Riwanon an?«

»Ja«, bestätigte Bleidbara.

»Das ist gut. Ich soll ihr die Nachricht überbringen, dass ihr Gatte, König Alain, morgen vor Einbruch der Dunkelheit in Brilhag eintreffen wird. Mit ihm reiten Lord Canao und ein Begleitschutz von Kriegern.«

»So reite nur zu, mein Freund.« Bleidbara gab ihm den Weg frei.

Kurz darauf tauchte Boric auf, der wieder vorausgeritten war. »Der Bote hatte recht. Auf einer kleinen Lichtung weiter vorn haben drei Männer ihr Lager aufgeschlagen.«

»Warum schon so zeitig? Das verstehe ich nicht«, meinte Bleidbara. »Bis zur Nacht kann man noch ein gut Stück Wegs zurücklegen.«

»Ich fürchte, sie haben ihre Gründe«, entgegnete Boric mit vielsagender Miene. »Die Männer sind nicht allein – sie haben die Kammerzofe von Königin Riwanon bei sich.«

»Dann lebt Ceingar also noch?« Eadulf stellte manchmal überflüssige Fragen.

Der Fährtenleser nickte.

»Eigentlich wollte ich ihnen nur folgen, bis wir wissen, wo sie ihr Lager haben«, sagte Bleidbara nachdenklich. »Aber wenn die Dinge so stehen, müssen wir wohl handeln.«

»Der Meinung bin ich auch«, erklärte Eadulf. »Es gibt nur eins – wir müssen das Mädchen retten.«

»Wie weit ist das?«, fragte Bleidbara, und nachdem er eine genaue Beschreibung bekommen hatte, gab er seinen Kriegern die nötigen Anweisungen. »Wir lassen die Pferde hier und schleichen uns leise zu Fuß heran. Wir umzingeln ihr Lager und unternehmen einen Überraschungsangriff. Wollen hoffen, dass sie es nicht auf einen Kampf ankommen lassen. Seid vorsichtig. Diese Männer gehen erbarmungslos vor und morden, wo sie können.«

Er sah Eadulf an. »Ob du lieber hierbleibst und auf die Pferde achtgibst?«

Eadulf wies den Vorschlag entschieden zurück. »Ich komme selbstverständlich mit.«

Mit gebotener Vorsicht zogen sie los. Auf der Lichtung weiter vorn verriet ihnen das knisternde Geräusch von brennenden Ästen, dass sie sich der richtigen Stelle näherten. Auf ein stummes Signal von Bleidbara hin zerstreuten sie sich links und rechts, um das Lager einzukreisen. Immer näher pirschten sie sich heran, schon konnte Eadulf durch das Dickicht das Lagerfeuer sehen. Zwei Männer hockten davor, die Waffen griffbereit. Von dem dritten und der Gefangenen keine Spur. Die beiden am Feuer unterhielten sich laut; immer wieder blickten sie zu dem anderen Ende der Lichtung hinüber, rissen Zoten und lachten schallend. Eadulf folgte ihren Blicken und sah, dass sich hinten im Gebüsch etwas bewegte. Er tippte Bleidbara an und wies auf den Fleck. Der Krieger nickte, er hatte verstanden. Dann schaute er nach links und nach rechts, hielt seinen Dolch hoch, zeigte auf sich und das Gebüsch. Auf seine Leute war Verlass. Er selbst schlich bereits unauffällig und rasch, den Rastplatz umgehend, auf sein Ziel zu. Eadulf hielt sich dicht hinter ihm.

Sie bekamen das zu sehen, was Eadulf befürchtet hatte. Mit hochgeschobenem Kleid lag Ceingar ergeben auf dem Boden, der Mann über ihr.

Mit wenigen Schritten war Bleidbara am Ort des Geschehens, packte den Mann bei den Haaren und riss ihn zurück. Der so Überraschte reagierte schnell. Noch während ihn Bleidbaras starker Arm gepackt hielt, gab er einen Warnruf von sich und langte nach seinem Dolch, den er am Gürtel trug. Bleidbara blieb keine andere Wahl, als seine Waffe dem Mann in die Rippen zu stoßen.

Vom Lager her, das hinter ihm lag, hörte Eadulf Geschrei, ein Zeichen dafür, dass Bleidbaras Männer die dort sitzenden Räuber überrumpelt hatten.

Das bislang reglose Mädchen kreischte auf, rappelte sich hoch, zupfte das Kleid zurecht und starrte angstvoll um sich.

Eadulf näherte sich ihr. »Hab keine Angst, Ceingar!«, rief er. »Wir sind da, um dich zu retten. Du bist frei!«

Wie geistesgestört stierte sie ihn an, machte – für Eadulf völlig unerwartet – einen Satz nach vorn, griff sich den auf der Erde liegenden Dolch ihres Peinigers und holte aus. Für einen Moment war Eadulf machtlos. Das Mädchen hätte ihn niedergestochen, wäre nicht Bleidbara dazwischengegangen. Er ließ den Getöteten sinken, packte die Verwirrte am Handgelenk und verdrehte es, so dass ihr die Stichwaffe aus der Hand glitt. Er sprach heftig auf sie ein. Verstört und erschöpft sank sie zu Boden.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Bleidbara zu Eadulf. »Sie hatte nicht erfasst, wer wir sind, und handelte im Affekt. Wir sollten sie eine Weile in Ruhe lassen.«

Mit schadenfrohem Grinsen erschien Boric. »Wir haben sie erledigt. Beide sind tot«, verkündete er und wies mit dem Daumen hinter sich.

»Ihr habt sie getötet?« Eadulf war enttäuscht. »Jetzt können wir sie nicht mehr befragen.«

»Das wird wohl so sein, Bruder Eadulf«, bestätigte Boric ohne jede Spur von Reue. »Wie die Teufel haben sie gekämpft und wollten sich nicht ergeben. Waren wie vom Schlachtfieber

besessen. Uns blieb nichts anderes übrig, als Klinge auf Klinge prallen zu lassen.«

Voller Mitleid betrachtete Eadulf das Mädchen, das mit hochgezogenen Knien auf einem Baumstamm kauerte, die Arme um die Beine geschlungen, die Schultern kraftlos nach vorn gesackt, das Kinn fast auf den Knien. Das Häufchen Unglück schaukelte vor und zurück und starrte mit schreckgeweiteten Augen auf den toten Mann, der sie missbraucht hatte.

»Weiß sie, dass sie in Sicherheit ist?«, fragte er Bleidbara.

Der Krieger beruhigte ihn. Er sprach mit dem Mädchen, und nach einer Weile hob es den Kopf und schaute von Bleidbara zu Eadulf.

»Sie hat uns erkannt.«

»Frag sie, was geschehen ist.«

»Sie sagt, sie wären ausgeritten – Königin Riwanon, mit ihrem Gefolge. Plötzlich wären Pfeile geflogen und hätten zwei der Krieger niedergestreckt. Ihre Herrin und Budic wären davongaloppiert, und als sie ihnen hätte folgen wollen, wäre einer der Feinde aus dem Hinterhalt gesprungen, hätte ihr Pferd am Zaum gegriffen und sie zurückgehalten.«

»Und was wurde mit den toten Kriegern?«

Ceingar machte ein unglückliches Gesicht und zauderte, ehe sie weitersprach. 

»Sie haben die Leichen auf eins der Pferde gepackt und sind mit ihnen fortgeritten. Was im Einzelnen mit ihnen geschah, weiß sie nicht«, übersetzte Bleidbara für sie.

»Und wie erging es ihr?«

»Man sagte ihr, sie wäre jetzt gefangen, und band ihr die Handgelenke zusammen. Sie lösten ihr den Strick erst, als …« Er wies stumm zu der Stelle, wo sie gelegen hatte.

»Weiß sie, wie viele in der Horde waren?«

»Etwa ein halbes Dutzend.«

»Und was passierte, nachdem man sie gefangen genommen hatte?«

»Sie sind den Waldpfad entlanggeritten über einen Hügel und dann weiter bis zu einem Bauerngehöft. Der Anführer …«

»Wer war der Anführer?«, unterbrach Eadulf. »Konntest du ihn erkennen?«                

Ceingar zögerte. Schließlich zeigte sie auf den toten Übeltäter. Eadulf war enttäuscht, denn der Mann dort war gewiss nicht die »todbringende Taube«.

»Was wollte er auf dem Bauernhof?«

»Sie plünderten ihn aus, töteten den Bauer und setzten die Gebäude in Brand. Dann kam von oben ein Haufe aufgebrachter Leute angestürmt. Sie waren bewaffnet und in der Überzahl, zu viele, um es mit ihnen aufzunehmen. Da machten die Räuber kehrt.«

»Ritten sie zur Kapelle?«

Ceingar schwieg und wirkte verunsichert.

»Wir haben eure Spuren dort gesehen. War das die Stelle, wo das Schiff unten gewartet hat?«

Sie machte große Augen.

»Auf dem Wasser kann man doch keine Spuren sehen. Woher weißt du das mit dem Schiff?«

»Es ergibt sich einfach aus den Spuren. Drei von den Banditen gingen aufs Schiff, und die anderen drei nahmen ihre Pferde und ritten hierher. Richtig?«

Ihr Stoßseufzer war Bestätigung genug.

»Wir rasteten hier, schlugen ein Lager auf und …« Sie zitterte am ganzen Leib.

»Schon gut, ist ja nun alles vorbei. Hast du eine Ahnung, was die Kerle vorhatten? Weshalb ein paar von ihnen an Bord gingen?«

Wie erwartet, schüttelte sie den Kopf. »Mir gegenüber haben sie nichts verlauten lassen, und auch sonst habe ich nichts gehört.«

»Wir sollten ihre Pferde nehmen und nach Brilhag zurückreiten«, schlug Bleidbara vor. »Fühlst du dich in der Lage, einen Ritt durchzustehen?«, fragte er das Mädchen.

»Ich denke, schon.«

Bleidbara warf einen prüfenden Blick zum Himmel.

»Wenn wir jetzt aufbrechen, könnten wir Brilhag vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.«

Sie löschten das Feuer, nahmen die Waffen der Überwältigten an sich, auch ein paar Indizien, die sie bei den Toten fanden, banden die Pferde mit einem Leitseil aneinander und führten sie zu den eigenen Tieren. Dann stiegen sie auf und ritten in raschem Trab davon.

Iuna ging zur Tür der Großen Halle. »Bleidbara ist zurück«, verkündete sie. Alle in der Halle hatten den die Ankunft verheißenden Trompetenstoß vernommen.

Noch ehe Iuna an der Tür war, wurde sie aufgestoßen, und Bleidbara, gefolgt von Eadulf, kam herein. Hinter ihnen die blasse Ceingar in zerzaustem Kleid. Als sie Riwanon sah, stürzte sie auf sie zu, warf sich vor sie auf die Knie und erzählte unter Schluchzen, was ihr widerfahren war. Riwanon zeigte kein Mitleid, sagte nur ein paar Worte und gab Iuna Anweisungen, die daraufhin zu dem Mädchen ging, ihm aufhalf und es die Treppe hinaufführte, wo die Schlafkammern lagen.

»Sie ist völlig durcheinander«, erklärte Riwanon Fidelma. »Ich habe sie nach oben geschickt, sie soll sich erst mal frisch machen und ein wenig zur Ruhe kommen.«

»Ich würde sie gern befragen«, äußerte Fidelma. »Wir müssen alles zusammentragen, was wir über die Mordbrenner in Erfahrung bringen können.«

»Das kann nicht sogleich geschehen, sie braucht Zeit, um sich wieder zu sammeln«, befand die Königin energisch.

»Wie du meinst.« Fidelma gab Eadulf mit einem warnenden Blick zu verstehen, seine Eindrücke und Beobachtungen nicht vor den anderen auszubreiten.

Dafür berichtete Bleidbara, was sich zugetragen hatte.

»Ein Glück, dass du die arme Ceingar hast retten können. Man kann sich vorstellen, was die Grobiane mit ihr vorhatten.« Riwanon machte eine bekümmerte Miene. »Ach, und meine Krieger – ihr Schicksal betrübt mich. Beide tot, sagst du?«

»Wir konnten ihre Leichen nicht bergen. Ceingar erzählte, nur, sie sei bei dem Scharmützel lebend davongekommen«, führte Bleidbara aus. »Was mit den Toten geschehen ist, konnte sie nicht sagen, nur dass die Banditen sich ihre Pferde geschnappt hätten. Selbstverständlich haben wir auch die herrenlosen Pferde hierher auf die Burg gebracht.«

»Deiner Schilderung nach haben sich die Angreifer in zwei Gruppen aufgeteilt?«, mischte sich Fidelma ein. »Die einen gingen an Bord, die anderen ritten mit Ceingar nach Nordosten?«

»So und nicht anders, Lady«, bestätigte Bleidbara.

»Schade, dass du nicht einen von ihnen als Gefangenen gebracht hast«, bemängelte Trifina. »Dann hätten wir herauskriegen können, was es mit der Koulm ar Maro auf sich hat.«

Bleidbara empfand ihre Bemerkung als Tadel.

»Sie waren nicht bereit, sich zu ergeben«, entgegnete er verärgert. »Selbst als sie merkten, dass es für sie aussichtslos war, gaben sie nicht auf. Wie Besessene kämpften sie bis zum letzten Moment – so etwas habe ich noch nicht erlebt.«

»Hat dich das verwundert?«, fragte Fidelma.

»Ja, es ist ungewöhnlich. Unseren Kriegern käme es nicht in den Sinn, sich den Franken zu ergeben, aber unter den Bretonen ist das anders, jedermann weiß, dass wir Gefangene bei uns nicht schlecht behandeln.«

»Hast du ihnen die Möglichkeit gelassen, sich zu ergeben?«

»Ich mache keinem den Garaus, der am Leben bleiben möchte«, erklärte Bleidbara entschieden.

»Das glaube ich gern. Ich habe nur gefragt, um sicherzugehen, dass ich die Sachlage richtig erfasst habe.«

»Trotzdem sind wir keinen Schritt weiter«, bemerkte Trifina verdrießlich. »Mein Bruder steht immer noch als Mörder da. Die Bande fällt weiterhin über friedfertige Bauern her, tötet Kaufleute, überfällt und kapert sogar fremdländische Schiffe auf offener See, und wir wissen nicht, wer sie sind oder wer dahintersteckt.«

»Nur, dass sie das alles unter der Flagge des mac’htiern von Brilhag betreiben«, betonte Riwanon.

»Das ist eine gemeine List, um das Volk irrezuführen«, wehrte sich Trifina erbost und wurde hochrot.

Riwanon machte eine lässige Handbewegung.

»Was noch zu beweisen wäre, nicht wahr?«, meinte sie lächelnd, an Fidelma gerichtet.

»Stimmt«, gab Fidelma zu. »Den Menschen hier muss bewiesen werden – und das möglichst zweifelsfrei –, dass die Räuber und ihre Anführer nichts mit diesem Haus zu tun haben.«

»Es ist wirklich ein Jammer, dass du uns keinen der Schurken hast lebend vorführen können, Bleidbara.« Riwanon konnte es nicht lassen, weiter zu sticheln.

Bleidbaras Gesicht verfärbte sich. »Ich habe bereits erklärt, Hoheit, dass wir so und nicht anders handeln mussten.«

»Trotzdem ein Jammer«, klagte sie.

Erst später nach dem Abendessen, als sie allein in ihrem Zimmer waren, konnten Fidelma und Eadulf in Ruhe miteinander sprechen. Sie saß und kämmte ihre langen Flechten, und er berichtete in allen Einzelheiten, was sich zugetragen hatte.

»Und du bist auch der Meinung, dass Bleidbara nichts unversucht gelassen hat, die Männer dazu zu bringen, sich zu ergeben oder wenigstens einen lebend gefangen zu nehmen?«

Eadulf bejahte ihre Frage.

»Wir waren um Ceingar besorgt. Deshalb beschlossen wir, das Lager zu überfallen. Ursprünglich wollten wir ihnen bis zu ihrem Unterschlupf folgen. Wir hatten uns ausgerechnet, sie würden mit den Pferden über Land bis zu einem geheimen Hafen ziehen, wo vielleicht irgendwo in den Buchten am östlichen Rand des Morbihan die Koulm ar Maro liegt.«

»Eine logische Überlegung«, fand auch Fidelma.

»Dann sahen wir, dass sich einer der Kerle an Ceingar verging …« Eadulf zuckte die Achseln. »Bleidbara gab das Signal. Ich war überzeugt, die anderen beiden warteten nur darauf, auch auf ihre Kosten zu kommen, du weißt schon, was ich meine. Ich dachte, sie würden sich ergeben, als sie merkten, dass sie keine Chance hatten. Doch das Gegenteil war der Fall. Sie kämpften so erbittert, dass feststand, entweder sie starben oder wir. Deo adjuvante, Bleidbaras Männer waren großartig. Unsere Gegner zahlten den Preis für ihre Schandtaten.«

»Schade, dass ich Ceingar erst morgen befragen kann. Vielleicht hätte sie doch noch etwas über die Anführer der Bande sagen können, was uns geholfen hätte, die Spur wieder aufzunehmen.«

»Die Ärmste hat viel durchgemacht«, nahm Eadulf sie in Schutz. »Ruhe wird ihr guttun nach dem, was sie erlitten hat. Auch im Kopf dürfte sie dann wieder klarer sein.«

»Dagegen ist nichts einzuwenden, nur bringt frische Erinnerung manchmal mehr zutage als ein späteres Rückerinnern. Ist erst einmal Zeit vergangen, spielt der Verstand eine stärkere Rolle, sortiert und beleuchtet, was das Gedächtnis hergibt, und es kommt leicht zu Entstellungen.«

Eadulf nahm ihre Betrachtungen zur Kenntnis, ohne sich dazu zu äußern.

»Bisher sind wir der Lösung auch nicht ein Stückchen näher gekommen«, stellte er fest. »Ohne unser Zutun sind wir in mysteriöse Vorgänge hineingeraten, die wir nicht einmal halb verstehen. Wir haben so gut wie gar keine Ahnung von der Sprache und sind auf die Übersetzung anderer angewiesen. Das macht die Sache nicht leichter.«

»Immerhin haben wir dank unseres Aufenthalts im Königreich Dyfed eine gewisse Vorstellung von der Sprache der Bretonen und können in etwa erraten, was gesagt wird.«

»Geringfügiges Wissen ist trügerisch. Manche Wörter mögen ähnlich klingen, können aber eine andere Bedeutung haben. Um Einzelheiten zu verstehen, müssen wir uns auf die Hilfe anderer verlassen. Wir hätten von der Geschichte die Finger lassen sollen. Zumindest war die Idee von Riwanon, dich mit der Sache zu beauftragen, nicht gerade die beste.«

Fidelma war anderer Meinung. »Die Sache geht uns insofern an, als mein Vetter Bressal ermordet und mein Freund Murchad niedergestochen wurde. Ich bin also unmittelbar betroffen und werde nicht eher Ruhe geben, bis ich das Rätsel gelöst habe.«

Eadulf hätte gern etwas eingewendet, wusste aber, wann er besser den Mund hielt. »Ich muss schlafen«, sagte er stattdessen, »ich bin hundemüde. Es war ein langer und anstrengender Tag.«  

Auch sie schwieg. Sie ärgerte sich, weil er ihre Situation nicht begreifen wollte. Lange saß sie am Fenster und schaute auf das im Mondlicht schimmernde Wasser des Morbihan. Die Inseln waren nur als dunkle Schatten zu erkennen. In Gedanken ging sie noch einmal die Vorgänge der letzten Tage durch. Irgendetwas ließ ihr keine Ruhe, schien sie der Lösung näher zu bringen, aber noch fehlte ihr der Schlüssel. Die Antwort lag nahe, dessen war sie überzeugt, zum Greifen nahe. Doch woher das letzte Mosaiksteinchen nehmen, damit sich alles zu einem Ganzen fügte?

»Iuna lässt sich nicht blicken«, stellte Riwanon fest. »Müssen wir uns heute Morgen selbst versorgen?«

Fidelma und Eadulf waren nicht eben in bester Stimmung heruntergekommen. Riwanon saß bereits am Tisch. Macliau hockte in einer Ecke an der Herdstelle und starrte mit leerem Blick in die Glut, denn niemand hatte das Feuer geschürt. Er hob weder die Hand noch nahm sonst wie Notiz von den Eintretenden. Bruder Metellus war am Nachmittag zuvor zur Abtei zurückgekehrt, weil seine Anwesenheit dort vonnöten war. Gleichzeitig mit Fidelma und Eadulf erschien auch Bleidbara und schaute unschlüssig in die Runde.                 

»Wo ist Budic?«, fragte Riwanon. »Ich bin völlig mir selbst überlassen, kein Leibwächter und keine Kammerzofe.«

Fidelma fiel der verdrießliche Ton auf, den Riwanon anschlug, nahm es aber hin, weil die junge Königin bei dem Überfall viel hatte erdulden müssen.

»Budic ist in den Ställen und zeigt Boric seine Fechtkünste«, lautete die gleichgültige Auskunft.

»Und Ceingar? Ist sie noch im Bett?«

»Ich sehe mal in der Küche nach, ob sie sich dort mit Iuna zu schaffen macht«, erklärte Bleidbara bereitwillig.

»Das wäre gut«, ermunterte ihn Fidelma, der auffiel, dass auch Trifina fehlte. »Ich schau derweil in ihre Kammer, vielleicht ist sie dort. Es ist nur allzu verständlich, wenn jemand heute verschlafen hat. Und du, Eadulf, sei so gut und lege ein paar Scheite auf, ehe das Feuer ganz ausgeht.« Unauffällig deutete sie auf Riwanon. Er verstand, was sie meinte. Er sollte sie ablenken und für bessere Stimmung sorgen.

Flink lief sie die Stufen hoch, suchte jedoch nicht als Erstes Ceingars Kammer auf, sondern eilte zu der von Iuna und klopfte dort leise an. Normalerweise war Iuna sehr zeitig auf, und dass sie noch nicht unten war, machte Fidelma weit mehr stutzig als Ceingars Fehlen. Niemand antwortete. Sie klopfte ein zweites Mal, jetzt etwas energischer, wartete einen Moment und drückte die Klinke. Die Tür schwang auf. Das Zimmer lag im Halbdunkel, aber Fidelma konnte erkennen, dass das Bett leer war. Das Bettzeug war zerwühlt, als hätte man dort miteinander gerungen. Dann bemerkte sie neben dem Bett auf der Erde eine zerbrochene Tonschale und einen Löffel. Jemand musste daraus gegessen und sie fallen gelassen haben. Allem Anschein nach war Iuna in großer Hast aus dem Raum gerannt.

Prüfend ließ Fidelma ihren Blick durch das Gemach gleiten. Die Tür zum Nebenraum war leicht angelehnt. Ihr fiel ein, dass Iuna ihr erzählt hatte, dass ihr Zimmer gleich neben dem von Trifina lag. Sie stieß die Verbindungstür auf und fand auch dort das Bett leer, das Bettzeug allerdings flüchtig zurückgeschlagen. Nicht weit von der Schlafstatt lag ein umgekippter Krug; Wasser war auf den Teppich gespritzt, aber der weiche Untergrund hatte das Gefäß nicht zerbrechen lassen, auch hatte es beim Fall sicher keinen Lärm gemacht.

Fidelma war im Begriff, aus dem Raum zu gehen, als sie bei einem letzten Blick einen dunklen Fleck auf dem Laken entdeckte. Sie eilte noch einmal zurück und wünschte, es wäre etwas heller. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als den Fleck zu berühren. Und tatsächlich, an ihrem Finger klebte Blut.

Ein, zwei Augenblicke verharrte sie. Dann trat sie hinaus in den Gang und wollte schon zu den anderen hinunter, als ihr einfiel, was sie eigentlich hierher geführt hatte.

Wo sich die Kammer von Ceingar befand, war ihr noch in Erinnerung. Nur ein paar Schritte, und sie klopfte an die Tür. Eine Antwort erwartete sie nicht, und als auch keine kam, öffnete sie rasch und schaute hinein. Auch hier rechnete sie mit einem leeren Bett. Dem war aber nicht so. Dort lag Ceingar. Sie lag auf dem Rücken, das bleiche Gesicht zur Decke gewandt, der Mund leicht geöffnet, die Augen weit und starr. In der Brust steckte ein Messer, dunkle Blutflecke zeichneten sich auf dem Körper und dem Bettzeug ab.

Fidelma musste die Mordwaffe nicht lange betrachten. Es war ein Dolch mit dem Zeichen der Taube im Griff.

Ihr Bericht über das, was sie oben vorgefunden hatte, sorgte für allgemeine Bestürzung. Nur ihrer Ruhe und Ausstrahlungskraft war es zu verdanken, dass sich die Panik in Grenzen hielt. Unter der Dienerschaft und der Wachmannschaft griff Verunsicherung um sich. Macliau, der ohnehin völlig in sich gekehrt war und jegliches Gespräch mied, zog sich mit einer kleinen Amphore Wein auf sein Zimmer zurück. Riwanon und Budic blieben in der Großen Halle sitzen.

»Ich kann nur beten, dass mein Mann unversehrt auf der Burg eintrifft«, vertraute Riwanon Fidelma an. »Hier geschieht so viel Schreckliches, dass man gar nicht zu wagen hofft, dass wir bis zu seiner Ankunft heil davonkommen.«

»Die Schreckenstaten häufen sich allerdings«, pflichtete Fidelma ihr bei. »Wenn ich weiterhin dein Einverständnis habe, will ich gern mein Möglichstes tun, um die Vorgänge zu klären.«

»Ich fürchte, dir sind ziemlich die Hände gebunden, gute Schwester aus Hibernia«, sagte Riwanon und begleitete ihre Worte mit einer resignierenden Handbewegung. »Es war töricht von mir, dich um Hilfe zu bitten. Schließlich bist du in einem fremden Land und sprichst nicht unsere Sprache. Das Vernünftigste ist, du bleibst hier, wo du einigermaßen sicher bist, und hoffst gleich mir darauf, dass mein Mann unversehrt eintrifft. Ich habe schon gedacht, wir sollten einen Boten senden, damit er sich so schnell wie möglich herbegibt.«

»Natürlich ist Vorsicht geboten, aber sein Bote bestätigte ja, er würde heute vor Einbruch der Dunkelheit auf der Burg sein. So beschränkt meine Möglichkeiten auch sind, ich empfinde es als meine Pflicht, zu tun, was ich kann. Vielleicht ist es wirklich vernünftig, einen deiner Krieger loszuschicken, um deinen Gatten zu warnen.«

Riwanon schenkte ihr ein warmes Lächeln.

»Du bist eine gute Seele, Fidelma. Wenn du meinst, du kannst von deinen Nachforschungen nicht ablassen, dann bitte. Du hast meine Vollmacht, alles zu unternehmen, was du für richtig hältst, um dem schändlichen Geschehen hier auf den Grund zu gehen.«

»Wirklich deine Vollmacht?«

»Meine uneingeschränkte Vollmacht«, bekräftigte Riwanon. »Ich bleibe hier, behalte Budic als meinen Leibwächter bei mir und warte auf meinen Mann.«

Fidelma und Eadulf verließen die Halle. Draußen meinte Eadulf: »Ich sehe einfach keinen logischen Zusammenhang in dem, was geschehen ist. Wieso hat man Ceingar umgebracht und Trifina und Iuna entführt?«

»Selbst hinter den unverständlichsten Begebenheiten steckt eine Logik«, erklärte Fidelma. »Allein die Umstände, unter denen ihr Ceingar gefunden habt, könnten Ursache für ihre Ermordung sein. Warum man allerdings Trifina und Iuna entführt hat, ist auch mir rätselhaft. Vielleicht lässt sich ergründen, wie man sie aus den Zimmern bekommen und dann weiter verschleppt hat.«

Just in dem Moment tauchte Bleidbara auf.

»Noch eine Leiche«, teilte er ihnen grimmig mit.

»Wer ist es? Trifina oder Iuna?«, fragte Eadulf.

»Keine von beiden. Es handelt sich um einen meiner Krieger. Er hielt am kleinen Hafen unten Wache. Kehle durchschnitten. Ich vermute, man hat Trifina und Iuna per Schiff entführt.«

»Gefangen auf der Koulm ar Maro?«, mutmaßte Fidelma.

»Das scheint mir eindeutig«, bestätigte Bleidbara. »Du weißt ja, dass ich im Auftrag von Trifina in der letzten Woche auf der Suche nach der Koulm ar Maro um die Inseln gekurvt bin, ohne ihr Versteck zu finden. Sie müssen vergangene Nacht die Burg überfallen haben und hier eingedrungen sein.«

»Aber warum haben sie Ceingar umgebracht? Warum Iuna und Trifina entführt? Das ergibt doch keinen Sinn, es sei denn …« Fidelma kam ein Gedanke, und sie fragte nach kurzem Überlegen: »Wo würde man nach einer Entführung Trifina am wenigsten suchen?«

Bleidbara sah sie ratlos an.

»Wo am wenigsten? Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«

Sie zeigte über das Wasser zur Insel Govihan.

»Auf die Idee, sie dort in ihrer eigenen Villa zu suchen, kämst du doch nicht, oder?«

»Dort sind aber Bedienstete. Heraklius, der Apotheker, zum Beispiel, und andere. Weshalb sollte man sie dorthin schaffen?«

»Weil, wie ich schon sagte, sie davon ausgehen, dass wir sie dort am wenigsten suchen würden. Also rasch, wir segeln nach Govihan. Dein Schiff ist doch startklar, lange brauchen wir nicht.«

Die Kormoran lag in der Bucht vor Anker. Bleidbara war noch etwas unschlüssig, gab dann aber zu: »Einen Versuch ist es wert. Jedenfalls habe ich keinen besseren Vorschlag.«

Unten an der Anlegestelle kam Boric in heller Erregung auf sie zu.

»Kurz vor der Morgendämmerung ist einem meiner Männer etwas aufgefallen. Er hat einen Mann gesehen, der eine Frau auf der Schulter trug, sie in einem Boot absetzte und mit ihr lossegelte.«

Bleidbara traute seinen Ohren nicht. »Und wieso hat er nicht sofort Alarm geschlagen?«, donnerte er los.

»Er hatte Angst, er könnte Schwierigkeiten bekommen. Er hat den Mann angerufen, und als der keine Anstalten machte, stehen zu bleiben, jagte er ihm einen Pfeil nach und ist auch sicher, getroffen zu haben. Der Mann aber blieb weder stehen noch ließ er seine Last fallen. Er kletterte ins Boot, hisste das Segel und fuhr davon. So schnell konnte ihm der Wachposten gar nicht hinterherjagen. Unten angekommen, bemerkte er seinen Fehler, und deshalb hat er es auch versäumt, über den Vorfall zu berichten …«

»Fehler?« Bleidbara sah ihn ratlos an. »Was soll das? Es wäre seine Pflicht gewesen, Bericht zu erstatten …«

»Der Mann, auf den er gezielt hatte, war Iarnbud. Die Anweisung des Herrn auf Brilhag aber lautet, Iarnbud als sein bretat hat das Recht, zu kommen und zu gehen, wie und wo er will. Mir selbst hat der Posten es eben erst erzählt, als er von Trifinas und Iunas Verschwinden erfuhr. Ihm ist vor allen Dingen vor einer Bestrafung bange, weil er auf den bretat geschossen hat.«  

Bleidbara war außer sich.

»Der Kerl ist ein Schwachkopf. Sobald ich wieder da bin, wird er mir Rede und Antwort stehen. Und er ist sicher, dass es eine Frau war, die Iarnbud fortgeschleppt hat? In welche Richtung hat das Boot Kurs genommen?«

»Auf die Inseln zu, wohin genau, weiß er nicht.«

»Wir versuchen es zuerst auf Govihan«, entschied Fidelma. Auf der Insel empfing sie der junge Arzt aus Konstantinopel. Fidelma teilte ihm mit, weshalb sie kamen.

»Seit Trifina mit dir vorgestern nach Brilhag gefahren ist, haben wir sie nicht wieder gesehen«, erklärte er zutiefst erschrocken. »Und Iuna ist ohnehin selten hier.«

»Dachte ich mir doch, dass die Lösung zu einfach wäre«, meinte Bleidbara niedergeschlagen zu Fidelma. »Trotzdem, wir sollten die Villa durchsuchen.«

»Wir unternehmen selbstverständlich alles, um Trifina zu finden«, erklärte Heraklius und sagte einer Magd, sie solle alle Bedienstete des Hauses zusammenrufen.                 

Die Durchsuchung des Geländes ergab nichts. Auf Anweisung von Bleidbara schloss Heraklius sogar seine Steinhütte auf und ließ sie mit der Warnung, auf keinen Fall etwas anzufassen, einen prüfenden Blick hineinwerfen. Danach verschloss er sie wieder sorgsam und verschwand durch den von einer Mauer umgebenen Garten, um nachzuschauen, was die Suche drinnen im Haus gebracht hatte. Bleidbara, Fidelma und Eadulf blieben oben auf der Klippe stehen und schauten hinunter auf das Kleine Meer.

»Das sind unzählige Inseln da draußen; die alle absuchen zu wollen, ist schier unmöglich«, gab Bleidbara zu bedenken.

»Wenn man die Frauen von Brilhag fortgeschafft hat und tatsächlich an Bord dieses Seeräuberschiffs festhält, auf der Koulm ar Maro also, wie kann es sein, dass niemand das Schiff in der Bucht bemerkt hat?«, fragte Eadulf. »Ihr habt doch auf der Kormoran sicher Posten, die Wache halten und denen ein so großes Schiff, das sich in der Bucht unter der Burg bewegt, selbst bei Nacht aufgefallen wäre.«

»Die Kormoran lag in der Bucht unterhalb der Burgmauern«, verteidigte sich Bleidbara. »Wenn die Koulm ar Maro auf der anderen Seite der Landspitze vor Anker gegangen ist, konnte man sie nicht sehen.«

Eadulf hatte sich schon selbst die Antwort gegeben und errötete, weil er eine so törichte Frage gestellt hatte.

»Die Frage ist – wie weiter?«, drängte Bleidbara. »Ich habe meine Leute auf der Insel ausschwärmen lassen, um sicherzugehen, dass wir nichts übersehen. Höhlen, Unterholz und dergleichen. Die Villa ist ebenfalls durchsucht worden. Es hat zu nichts geführt.«

Es war Fidelma, die unvermutet einen Schrei ausstieß. Sie zeigte nach unten auf die Felsküste. Auf dem Wasser schaukelte ein Boot, und ein kleines Menschlein mühte sich verzweifelt, ans Ufer zu gelangen. Es hatte seine Schwierigkeiten. Die brandenden Wogen brachten das Gefährt trügerisch nahe an den flachen Strand, dann wurde es vom Sog wieder zurückgezogen. Offensichtlich hatte der Mann weder Ruder noch Stange, um das Boot zu lenken. Dann schob eine mächtige Welle das Boot mit aller Wucht hoch aufs Ufer, und man hatte den Eindruck, dass Steine und Felsgeröll es nicht wieder freigaben, als die Woge zurückwich. Den Mann hatte es aus dem Boot geschleudert, aber er schaffte es, sich aus dem schäumenden Wasser zu befreien. Kriechend und auf nur einen Arm gestützt, rettete er sich auf festen Grund und fiel vornüber auf das Gesicht.

Trotz der Entfernung war den Beobachtern hoch oben die Gestalt nicht gänzlich fremd.