KAPITEL 14

Sie kehrten in dem gleichen schnellen Boot nach Brilhag zurück, mit dem Trifina die unheilvolle Nachricht überbracht worden war. In Begleitung von drei Kriegern waren sie, Fidelma und Eadulf unverzüglich zur Halbinsel Rhuis aufgebrochen. Bleidbara empfing sie sorgenvoll dreinblickend unterhalb der Burg an der Anlegestelle. Er stutzte, als er auch Fidelma und Eadulf unter den Ankömmlingen sah. Während er Trifina beim Aussteigen behilflich war, redete er pausenlos auf sie ein, schwenkte dann aber nach einer kurzen Bemerkung ihrerseits aufs Lateinische um, nicht ohne Fidelma und Eadulf mit einem neugierigen Seitenblick zu streifen.                 

»Ich war kaum hier, als die Nachricht von Bruder Metellus kam«, teilte er mit. »Es heißt, Macliau habe mit Müh und Not die Abtei erreicht. Ihm auf den Fersen sei ein Haufe aufgebrachter Männer gewesen, die nach Vergeltung schrien. Sie waren drauf und dran, ihn umzubringen, aber er rettete sich, indem er um Asyl bat. Bruder Metellus, der jetzt vorläufig die Gemeinschaft leitet, hat es ihm gewährt.«

»Ein Haufe aufgebrachter Männer? Wer sind sie?«, wollte Trifina wissen.

»Leute vom Dorf und den Siedlungen hier. Bauern und Fischer. Ihr Anführer ist Barbatil.«

Trifina konnte den Namen sofort einordnen.

»Der Vater von Argantken?«

»Eben der. Die wilde Schar hat die Abtei umzingelt und will Macliau mit Gewalt herausholen und töten.«

»Du sagst doch aber, Bruder Metellus habe ihm Asyl gewährt«, mischte sich Fidelma ein.

Er nickte rasch.

»Die Mönche versuchen, die erregte Meute mit bloßen Drohungen abzuwehren, ewige Verdammnis wäre ihr bitteres Ende, würden sie die Kapelle betreten, in der er Zuflucht gesucht hat. Warnungen dieser Art werden sie jedoch nicht lange abschrecken.«

»Und sie behaupten, hinter der todbringenden Taube verberge sich Macliau? Er wäre es, der all die Überfälle zu verantworten habe?«, ereiferte sich Trifina. »Sammle deine Krieger, wir werden sie eines Besseren belehren.«

»Ich habe bereits Boric mit einem Dutzend Krieger zur Abtei geschickt«, erklärte Bleidbara. »Sie haben den Auftrag, im Ernstfall Macliau und die Mönche zu verteidigen.«

»Bleib ruhig!« Fidelma hatte Trifina die Hand auf die Schulter gelegt. »Wir müssen erst klären, wie sich die Sache wirklich verhält. Richtig ist, dass den Männern Einhalt geboten werden muss, Macliau darf nichts geschehen. Wir wissen aber auch, dass die Leute Anlass genug haben, Brilhag für die Untaten verantwortlich zu machen. Man darf auf keinen Fall mit Gewalt gegen sie vorgehen, ehe wir nicht versucht haben, vernünftig mit ihnen zu reden.«

»Wir haben genügend Krieger hier behalten, damit Brilhag nicht unbewacht zurückbleibt und Riwanon der nötige Schutz zuteil wird«, erwähnte Bleidbara.

»Mir geht es um die Sicherheit meines Bruders, nicht um die Riwanons«, sagte Trifina kalt und entschied nach kurzem Überlegen: »Wir nehmen unsere drei Krieger hier und reiten zur Abtei.« Sie zeigte auf die Bewaffneten, die ihnen bei der Überfahrt Schutzgeleit gegeben hatten.

»Können Eadulf und ich auch Pferde bekommen?«, fragte Fidelma. »Wir sollten mit dir reiten.«

Eadulf stöhnte innerlich auf. Die Vorstellung, mit einigen wenigen Bewaffneten und zwei Frauen gegen eine aufgebrachte Meute anzutreten, fand er nicht gerade klug.

Sie stiegen zur Burg hoch. Bleidbara eilte voraus und befahl, Pferde satteln zu lassen. Das Kommando über die in Brilhag verbleibenden Krieger übernahm Budic.

Bald ritten sie durch das Haupttor und ließen die Burg hinter sich. Mehr zufällig warf Fidelma noch einmal einen Blick zurück. Auf den Stufen vor der großen Eingangshalle stand Iuna und sah ihnen nach. Am liebsten wäre Fidelma umgekehrt und hätte der Haushälterin ein paar Fragen gestellt, aber die Reitergruppe, die vorwärtsstrebte, zog sie mit sich. Das Rätsel um Iuna würde warten müssen.

In halsbrecherischem Galopp ritten sie zur Abtei des heiligen Gildas. Bleidbara und ein Krieger führten den kleinen Trupp an, ihnen folgten Trifina und Fidelma, dahinter Eadulf und schließlich die beiden anderen Krieger. Die Gangart von Eadulfs Tier wurde von der der Rösser vor und hinter ihm bestimmt; ein schlechter Reiter, der er war, konnte er sich nur an sein Pferd klammern und hoffen, dass alles zu einem guten Ende kam. Er hatte wieder Kopfschmerzen, und nach allem, was er erlitten hatte, setzte jede Anstrengung seinem Körper sehr zu.

Der Sommertag ging zur Neige, der Himmel nahm bereits eine dunkle Färbung an. War es wirklich erst heute früh gewesen, dass er sich mit Fidelma in einem Segelboot aufs Wasser gewagt hatte? Die Reiter preschten durch den dichten Wald; der ausgetretene Weg führte geradewegs von Brilhag quer über die Landzunge zur Abtei. Als sie sich ihr näherten, hörten sie bereits Geschrei und Lärm.

Bleidbara zügelte seinen Rappen. In gemäßigtem Schritt zogen sie durch die vor der Abtei liegenden Gebäude zum viereckigen Innenhof unmittelbar vor der Kapelle.

So groß, wie Eadulf erwartet hatte, war die Menschenansammlung nicht, aber doch groß genug. An den Stufen zur Kapelle standen vierzig oder fünfzig Leute, durchweg Männer. Sie schwenkten alle möglichen Waffen, meist Ackergerät und brennende Fackeln. Ihnen gegenüber hatten sich ein paar zum Zuschlagen gerüstete Krieger aufgebaut und bewachten den Eingang zur Kapelle. Es waren offenbar die Männer, die Bleidbara vorausgeschickt hatte.

Umringt von verängstigten Mönchen, versuchte Bruder Metellus mit flehentlich erhobenen Händen, die Menge zu beschwichtigen.

Unter sich breit machendem Unmut und Gespött geleitete Bleidbara kurz entschlossen seinen Trupp um die Versammelten herum. Die Krieger saßen ab, einer von ihnen nahm die Pferde und brachte sie neben der Abtei in der Nähe eines Zauns in Sicherheit. Dann kehrte er zu den anderen zurück; gemeinsam verstärkten sie die stoisch dastehenden Wachposten, während Bleidbara die drei anderen zu Bruder Metellus führte.

»Sehr viel länger lassen die sich nicht mehr hinhalten«, begrüßte er sie äußerst besorgt.

»Also rasch, was ist geschehen? Weshalb der Aufruhr?«, fragte Fidelma.

»Macliau kam in einem erbarmungswürdigen Zustand angerannt. Er hatte Schnittwunden und blutete; was er anhatte, war zerrissen und verdreckt. Etliche von denen da waren ihm unmittelbar auf den Fersen.« Er deutete mit dem Kopf in die Richtung der abwartenden Menge. »Sie wollten ihn töten. Sie beschuldigten ihn, ein Mörder und Dieb zu sein. Er wäre der Anführer von Räubern, die seit einer Woche über ihre Gehöfte herfielen. Macliau ersuchte um Asyl in unserer Kapelle. Ich gewährte es ihm … Der Abt ist ja nicht mehr da.«

»Wo ist mein Bruder?«, fragte Trifina erregt.

»Hier in der Kapelle, gleich hinter uns«, erwiderte Bruder Metellus.

Ohne jede weitere Bemerkung verschwand Trifina im Inneren der Abtei.

»Anfangs war es nur ein halbes Dutzend, aber es sind immer mehr geworden«, berichtete Bruder Metellus Fidelma, die nachdenklich in die wütenden Gesichter sah. »Die können uns jeden Augenblick spielend beiseitedrängen und sind dann nicht mehr zu halten.«

»Barbatil soll ihr Anführer sein. Wer unter denen ist das?«

»Der da, ein Bauer.« Bruder Metellus wies auf einen vorn stehenden untersetzten, kräftigen Mann in mittleren Jahren mit ergrauendem Haar. Abgesehen von den roten Wangen war sein Gesicht vom Wetter gegerbt. Seiner Erscheinung und Kleidung nach zu urteilen, konnte er nur ein Landwirt sein.

»Komm, ich brauch dich zum Übersetzen«, sagte Fidelma und zu Eadulf gewandt: »Du bleibst hier. Nur Bruder Metellus und ich nähern uns ihnen.«

Forsch ging sie die wenigen Stufen hinunter und auf die Menge zu. Pflichtbewusst, wenn auch angesichts der Situation nicht sehr beglückt, folgte ihr Bruder Metellus.

In der Menge wurde es still, hier und da wich man auch zurück, als sich Fidelma ihnen unerschrocken näherte. Zielbewusst steuerte sie auf den Mann zu, den ihr Bruder Metellus gezeigt hatte.

»Man hat mir gesagt, du bist Barbatil und du hättest Macliau, den Sohn des mac’htiern von Brilhag, des Mordes bezichtigt.«

Wortgetreu übersetzte Bruder Metellus.

Wütend kniff der Bauer die Augen zusammen. Sein Körper bebte vor Zorn.

»Ja, ich bin Barbatil, und er ist ein Mörder. Wir werden uns rächen.«

»Mit Rache erzwingt man keine Gerechtigkeit«, entgegnete Fidelma. »Deine Schuldzuweisung verlangt Beweise, erst dann kann dir Gerechtigkeit widerfahren.«

»Was wissen schon Fremdländische über die Ungerechtigkeiten, die hier geschehen?« Er zeigte auf Bruder Metellus. »Er ist von Rom, und woher du kommst, weiß auch nur der Herrgott.«

Fidelma klärte ihn über ihren Beruf und ihr Heimatland auf und mahnte: »In allen gesitteten Ländern gilt die Regel: Jede Anschuldigung verlangt den Beweis.«

»Seit zwei Wochen überfallen Krieger unsere Höfe und Siedlungen. Sie kommen mit einem Schiff, an dessen Mast die Fahne des

mac’htiern weht – die Fahne des Gebietsherrn von Brilhag, der unser Beschützer sein sollte, nicht unser Verfolger.«

»Eine Fahne kann jeder hissen«, wandte Fidelma ein. »Ist das dein Beweis?«

»Nicht unbedingt. Macliau, der junge Herr, steht in schlechtem Ruf«, platzte er erbost heraus. »Keines Vaters Tochter ist vor dem sicher. Er nimmt sich ein Mädchen nach dem anderen, und wir dürfen dafür zahlen.«

Fidelma dachte an Trifinas Schilderung, was sie von ihrem Bruder hielt. Auch hatte Trifina gewusst, dass Barbatil der Vater von Argantken war, Macliaus Gefährtin auf der Burg.

»Die Tatsache, dass es ein Mann mit Frauen treibt, macht ihn nicht gleich zum Mörder«, gab sie zu bedenken. 

»Keine Frau ist vor ihm sicher, und selbst die Kirche sieht über seine Ausschweifungen hinweg, statt ihn ins Gebet zu nehmen.« Der Seitenhieb galt Bruder Metellus. »Nichts geschieht, nur weil er der Sohn des mac’htiern ist, dessen Fahne jetzt Angst und Schrecken über die ganze Halbinsel bringt.«

»Du sagst, dass die Männer, die über eure Leute herfallen, das Symbol von Brilhag mit sich führen. Hast du jemals daran gedacht, nach Brilhag zu gehen und eine Erklärung zu verlangen?«

»Doch. Anfangs haben wir das getan. Wir haben mit Lady Trifina gesprochen, weil ihr Vater Lord Canao nicht anwesend war. Sie stand uns Rede und Antwort. Macliau war nicht zugegen. Sie behauptete, Krieger von Brilhag hätten nichts mit den Überfällen zu tun. Sie versprach, der Sache auf den Grund zu gehen, und wollte herausfinden, wer die Verbrechen verübte. In Wahrheit ist nichts geschehen.«

»Trotzdem frage ich noch einmal: Wo ist dein Beweis dafür, dass Macliau für alles zur Rechenschaft zu ziehen ist?« Fidelma blieb hartnäckig.

»Beweis? Du willst Beweise?« Er schäumte. »Nicht genug, dass dieser Wüstling meine Tochter Argantken verführt hat! In ihrem Namen beschuldige ich ihn des Mordes!«                 

Erregtes Gemurmel ging durch die Menge, als der Name des Mädchens fiel.

»Wenn Argantken ihn des Mordes beschuldigt, dann möge sie vortreten und es selbst tun«, verlangte Fidelma.

Das Murren wurde merklich lauter.

»Wie soll sie das machen, wenn sie selbst sein Opfer ist!« Barbatil schrie es heraus.

Fidelma starrte ihn an. Sie hatte Mühe, seine Worte zu begreifen.

»Argantken, deine Tochter, wurde ermordet?«

»Ich hab es doch eben gesagt.«

In Fidelmas Kopf überstürzten sich die Gedanken. Als sie wieder sprach, hatte sie einen milderen Ton gefunden.

»Es tut mir aufrichtig leid, guter Mann. Trotzdem brauchen wir die Tatsachen, andernfalls kommen wir zu keiner Lösung. Sei getrost, dir wird Gerechtigkeit widerfahren. Aber ich wiederhole, es geht um Gerechtigkeit, nicht um Rache. Und nun berichte bitte wahrheitsgemäß.«

Vom Kummer übermannt, sackte er ein wenig in sich zusammen, war aber bereit, zu sprechen.

»Es ist noch nicht lange her, da warf dieser Macliau ein Auge auf meine Tochter. Sie ist … sie war … hübsch. Ihre Mutter liebte sie abgöttisch, und ich nicht minder. Sie war eine gute Tochter. Dann tauchte er eines Morgens auf, betörte sie mit honigsüßen Worten und überredete sie, mit ihm davonzureiten. Sie glaubte seinen Versprechungen von Heirat und Reichtum … Als ob die Tochter eines armen Bauern jemals die Frau des adligen Herrn auf Brilhag werden könnte! Sie war zu naiv und vertraute ihm. Ich flehte sie an, nach Hause zurückzukehren, aber sie wollte davon nichts wissen. Sie glaubte Macliaus Lügen und Verlockungen. Gestern Morgen erfuhr ich, dass man Argantken und Macliau nicht weit von uns bei Kerignard an der Küste hatte reiten sehen. Ich beschloss, einen letzten Versuch zu unternehmen, sie zum Heimkommen zu bewegen. Da ich aber wusste, dass Macliau in Begleitung von Kriegern war, holte ich mir ein paar Nachbarn zur Rückendeckung.«

»Wie viele waren das?«, unterbrach ihn Fidelma.

»Zwei oder drei, sie sind hier mit dabei.« Aus der Runde kam zustimmendes Raunen.

»Und weiter?«

»Wir machten uns auf nach Kerignard. Ich kannte die kleine verfallene Kapelle dort und wusste, dass Macliau bei anderen Jagdausflügen dort übernachtet hatte. Ich vermutete ihn da.«

»In einer verfallenen Kapelle?«

»Sie liegt an der Küste ganz nahe bei Kerignard. Es ist ein verlassenes Gebäude aus Stein. Der Wald reicht bis an den Rand der Klippen, das ganze Meeresufer ist eine einzige Steilküste. Und hoch oben thront die Kapelle; sie wurde vor vielen Jahren gebaut und wird schon lange nicht mehr benutzt.«

»Und? Habt ihr Macliau dort gefunden?«

»Wir sahen zunächst niemand, weder Krieger noch Jäger. Beinahe hätte ich gar keinen Blick in die Kapelle geworfen, wenn ich nicht dahinter ein frei herumlaufendes Pferd bemerkt hätte. Daraufhin ging ich dann näher heran. Eine Tür gibt es nicht, die ist längst verrottet, der Raum war offen. Das Erste, was ich sah, war Macliau, der stinkbesoffen auf der Erde lag …«

»Woher willst du wissen, dass er betrunken war?«

»Der Geruch von Alkohol war unverkennbar. Macliau stank, als wäre er gerade aus einem Weinfass gekrochen.«

»Er lag also betrunken auf der Erde. Was geschah dann?«

Barbatil rang nach Fassung.

»Neben ihm lag … lag meine Tochter. Argantken!« Seine Stimme wurde heiser. »Sie war tot. Überall ringsherum Blut. In ihrem leblosen Körper steckte ein Dolch, Macliaus Dolch.«

»Woher willst du wissen, dass es Macliaus Dolch war?«

»Das Symbol der Herren auf Brilhag kennt jeder hier. Der Dolch trug das Wahrzeichen der Taube … Für Frieden soll es stehen.«

Von Schmerz überwältigt versagte ihm die Stimme. Die Geduld der Bauersleute schien erschöpft, sie drängten nach vorn.

»Wartet! Ich habe dem Mann hier Gerechtigkeit versprochen, doch ich brauche noch ein paar Antworten auf weitere Fragen.« Dank der Übersetzung ihrer Worte durch Bruder Metellus gelang es, die Menge zu beschwichtigen.

»Nur noch einige wenige Fragen«, wandte sie sich wieder Barbatil mit warmer Stimme zu. »Denn wenn die Wahrheit im Dunkeln bleibt, wird deine Tochter nicht in Frieden ruhen.«

»Was willst du noch wissen?«, brummte der Bauer, der sich wieder in der Gewalt hatte. »Die Tatsachen sprechen doch für sich.«

»Wie habt ihr euch verhalten, als sich euch die Gräueltat offenbarte?«

»Einer meiner Nachbarn zog den Dolch aus ihrer Brust und bedeckte den Leichnam.«

»Hast du den Dolch noch?«

Barbatil drehte sich zu der hinter ihm stehenden Schar um.

»Coric, hast du den Dolch?«, fragte er.

Ein kleiner Mann, dessen geradezu lachhafte Größe im Widerspruch zu seiner Beleibtheit und kräftigen Statur stand, kam nach vorn und hielt den Dolch hoch. Fidelma nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn. Es war der gleiche wie der, der in Abt Maelcars Brust gesteckt hatte. Auch hier wieder das eingravierte Symbol der Taube.

»Ich werde ihn als Beweisstück behalten«, sagte sie. »Und was geschah danach? Was wurde aus Macliau? Was habt ihr dann gemacht?«

Barbatils Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Macliau war betrunken. Wir versuchten, ihn aufzurichten. Wir versetzten ihm Ohrfeigen links und rechts, aber er reagierte nicht. Also nahmen wir ihn und warfen ihn in den Bach. Selbst da dauerte es noch eine Weile, bis das Schwein zu sich kam. Wir kündigten ihm an, dass er für seine Schandtaten büßen müsste und wir ihn hängen würden.«

Der kleine Mann namens Coric ergänzte: »Er fing wie ein Kind zu weinen an, winselte um sein Leben, behauptete, er wäre es nicht gewesen und wüsste nichts von der Mordtat. Eine Lüge nach der anderen, es konnte einem schlecht werden.«

»Wir nahmen Argantkens Leichnam mit uns auf meinen Hof«, fuhr Barbatil fort, »sie sollte von der Familie betrauert und bestattet werden, wie es sich gehört. Macliau schafften wir in meinen Schweinestall und sperrten ihn dort ein. Nach der Beerdigung meiner Tochter wollten wir ihn dann hängen. Das sollte heute Mittag geschehen.«

»Und?«

»Wir haben meine Tochter beerdigt. All die guten Leute hier gaben ihr das letzte Geleit.« Zur Bekräftigung zeigte er in die Runde. »Dann gingen wir zum Schweinekoben. Und was mussten wir sehen? Macliau hatte sich befreien können. Wir nahmen seine Spur auf, und die führte uns hierher. Der Feigling hat in der Kapelle Zuflucht gesucht, aber wir holen ihn uns, die Bestie hat nichts anderes verdient, wir werden ihn …«

»Nichts werdet ihr. Dir wird Gerechtigkeit widerfahren, wie versprochen. Aber Rache können wir« – und sie zeigte auf die Mönche und Krieger – »nicht gutheißen. Rache gebiert Rache. Dir ist doch klar, was eine Freistatt ist?«

Er schnaubte höhnisch.

»Das ist nichts weiter als eine listige Art, die Schuldigen vor Bestrafung zu schützen.«

»Nein, mein Freund. Der höhere Sinn ist, Ungerechtigkeit zu vermeiden. Die Kirche steht für das Recht ein, allen Menschen Schutz zu gewähren. Das Recht auf Asyl erkennen alle der Vernunft zugänglichen Völker an, und Regeln und Gesetze sorgen dafür, dass es eingehalten wird. Es gibt strenge Vorschriften, ob einer Person in der Kirche Zuflucht gewährt werden darf oder nicht. Mit der Freistatt allein ist es nicht getan, das Gesetz regelt auch, wie lange einem Verfolgten der Schutz der Kirche gewährt werden darf. Ich werde mir jetzt anhören, was der Angeklagte zu seiner Verteidigung zu sagen hat. Erst nach der Beweisaufnahme kann ein Urteil gefällt werden.«

Unmut machte sich in der Menge breit, doch Fidelma richtete ihre Worte unmittelbar an Barbatil.

»Ob wir so verfahren können, liegt in deiner Hand. Du führst die Männer hier an. Ein Wort von dir, und sie lassen ab von einem irregeleiteten Vorhaben. Sprich mit ihnen, denn sie laufen Gefahr, unnütz ihr Blut zu vergießen. Die Krieger dort werden das Recht auf die Kirche als Freistatt verteidigen. Es geht nicht darum, Macliau zu verteidigen, es geht um die Verteidigung eines höheren Prinzips – um das Recht der Kirche, Zuflucht zu gewähren. Es könnte deine Männer das Leben kosten. Willst du unnötiges Blutvergießen? Den Tod von vielen nur um der Rache willen? Glaubst du, deine Tochter könnte in Frieden ruhen, wenn sie wüsste, dass in ihrem Namen Unrecht geschieht?«

Sie sah den Mann mit sich ringen und betete, Bruder Metellus möge beim Übersetzen die gleiche Beredsamkeit finden, auf die sie bei ihrer Wortwahl geachtet hatte.

»Schick deine Freunde nach Hause, auf dass sie nicht blindwütig in den Tod gehen. Du aber bleib bei mir und höre mit an, was Macliau zu sagen hat. Du wirst sehen, dass mir nicht daran gelegen ist, ihn seiner Person wegen zu verteidigen, sondern dass es mir um die Wahrheitsfindung geht. Aus der Wahrheit wird sich für dich Gerechtigkeit ergeben.«

Noch zögerte der Bauer. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und überreichte dem Mann namens Coric seine Waffe.

»Ich gehe mit dieser Fremden aus Hibernia«, sagte er langsam. »Warte hier auf mich.« Dann sprach er mit lauter Stimme zu den anderen: »Habt Dank, Freunde, für das, was ihr getan habt. Ich glaube an die Kirche und an Recht und Gesetz. Das Gesetz ist für alle Menschen da, wie ich denke, nicht nur für unsere Herren. Soll die fremdländische Glaubensschwester hier beweisen, dass ihre Worte nicht nur Schall und Rauch sind. Ich gehe mit ihr, will sehen und hören, was sie vollbringt, wie sie mir und meiner Familie Gerechtigkeit zuteilwerden lässt, Gerechtigkeit für uns alle, die wir durch die Überfälle der todbringenden Taube so viel bitteres Leid erfahren haben.«  

»Was sollen wir tun, Barbatil?«, fragte eine Stimme aus der Menge.

»Zerstreut euch und geht nach Hause. Aber bleibt wachsam und haltet euch bereit, denn wenn hier Lügen verbreitet werden, setzen wir uns mit Macht zur Wehr.«

Nur widerwillig und murrend gingen sie auseinander, entfernten sich in kleinen Gruppen oder auch einzeln langsam von der Abtei. Ihre Waffen nahmen sie mit.

Bruder Metellus, den die Anspannung ungeheure Kraft gekostet hatte, war fast am Zusammenbrechen. Anders Bleidbara. Er konnte sich kaum zügeln und maß Barbatil mit grimmigen Blicken. Fidelma merkte, was in ihm vorging, und warnte ihn: »Was ich gesagt habe, habe ich nicht zum Spaß geäußert, Bleidbara. Barbatil steht unter meinem Schutz. Ihm darf nichts geschehen. Was er hat erleiden müssen, ist schlimm genug; bis zu einem gewissen Grad ist seine Handlungsweise verständlich. Er wird mit in die Kapelle kommen und unbehelligt zuhören, wenn wir Macliau befragen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«                 

Bleidbara errötete beschämt und neigte gezwungenermaßen den Kopf. »Ja, Lady.«

Bruder Metellus standen die Schweißperlen auf der Stirn, aber die Erleichterung war ihm deutlich anzusehen.

»Dir gebührt meine volle Anerkennung. Noch nie habe ich erlebt, dass sich eine Frau einer aufgebrachten Meute entgegenstellt und sie beschwört, Frieden zu bewahren. Mir war um uns alle bange.«

»Dabei hast du doch auch Mut bewiesen und Macliau Zuflucht gewährt, hast mit der Entscheidung dein Leben aufs Spiel gesetzt«, meinte sie lächelnd. »Du hast richtig gehandelt.«

»Seit uralten Zeiten ist das Schutzrecht an heiliger Stätte unantastbar. Wie sollte ich da selbst angesichts einer bewaffneten Schar zaudern?«

Cordic hatte sich inzwischen auf eine Steinmauer gesetzt und hielt die Waffen, die er und Barbatil mitgebracht hatten, fest umschlossen. Fidelma schaute sinnend zu ihm und sagte nach einiger Überlegung: »Ich habe den Eindruck, es fehlen ein paar entscheidende Zeugen.«

»Entscheidende Zeugen?«, fragte Bleidbara überrascht.

»Wo sind Macliaus Begleiter? Er hat Brilhag doch nicht nur mit Argantken verlassen, er hatte auch zwei Jäger und zwei Krieger mitgenommen. Wo sind die geblieben?« Sie wandte sich zu Barbatil. »Hast du noch jemand von Macliaus Jagdgesellschaft gesehen, als ihr ihn fandet?«

Bruder Metellus übersetzte geflissentlich, doch der Bauer schüttelte den Kopf.

»Außer meiner toten Tochter und ihrem Mörder haben wir niemand anders zu Gesicht bekommen.«

»Nach Brilhag ist aber auch keiner seiner Begleiter zurückgekehrt«, fügte Bleidbara nachdrücklich hinzu.

»Das gibt Anlass zur Besorgnis«, stellte Fidelma fest. »Ich denke, du solltest ein paar deiner Männer auf die Suche nach ihnen ausschicken. Wir können sie hier entbehren. Es ist merkwürdig, dass Macliaus Begleiter ihn im Stich gelassen haben.«

Bleidbara gab den Befehl an zwei seiner Krieger weiter, und sie ritten unverzüglich davon.

Fidelma ging mit den anderen in die Kapelle; nur die Wachposten und die Mehrzahl der Mönche blieben draußen.

Macliau war in einem bemitleidenswerten Zustand. Er saß zusammengesackt auf der Erde an den Altar gelehnt. Der Gestank von Alkohol und Schweinemist war ekelerregend. Gesicht und Kleidung waren blutverschmiert, und er zitterte, als hätte er Schüttelfrost. Trifina stand über ihn gebeugt und redete mit verärgerter Stimme auf ihn ein, schwieg aber, als sie die anderen bemerkte.

Bruder Metellus, der sah, wie Fidelma mit angewidertem Gesicht den Atem anhielt, flüsterte entschuldigend: »Uns blieb keine Zeit, ihn zu waschen und ihm saubere Sachen zu geben.«

»Rück ihm wenigstens einen Stuhl hin, damit er sich setzen kann«, wies sie ihn an. »Es kann am Altar sein, wenn er sich von dort nicht wegrühren möchte.« Sie wusste, dass die meisten Kirchen ihr Refugium in der unmittelbaren Nähe des Altars hatten.

Trifina hatte sich zu ihnen umgedreht. Sie befürchtete das Schlimmste, doch Bleidbara teilte ihr ungefragt mit, was Fidelma draußen bewirkt hatte. In stiller Übereinstimmung übernahm Fidelma alles Weitere.

»Barbatil wird bei uns sitzen, damit er verfolgen kann, was sich hier abspielt«, entschied sie. »Du, Bruder Metellus, wirst wieder übersetzen müssen, denn ich gedenke mich mit Macliau auf Latein zu verständigen. Schick aber zuerst einen deiner Brüder nach Wasser und einem Tuch, damit Macliau einen Schluck trinken und sich das Blut vom Gesicht wischen kann. Und du, Bleidbara, hilf ihm bitte auf den Stuhl da.« Man hatte bereits zwei Stühle herbeigeschafft, einen für den Schutzsuchenden und einen für Fidelma. Sie nahm ihm gegenüber Platz.

Macliau hatte bislang geschwiegen, wischte sich jetzt das Gesicht, erfrischte sich mit dem Wasser und blickte Fidelma wie ein kleiner hilfloser Junge mit weinerlichem Gesicht an.

»Mein Albiorix, weshalb haben sie den umgebracht?«, schluchzte er.

Im ersten Augenblick wusste sie nicht, wen er damit meinte, dann fiel ihr aber sein kleiner Terrier ein.

»Wer soll deinen Hund umgebracht haben?«

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich die gleichen, die Argantken getötet haben. So ein kleines Hündchen … umgebracht haben sie ihn.«

Fidelma wandte sich an Barbatil.

»Von dem Hund hast du keinen Ton gesagt.«

Verlegen rutschte der Bauer auf dem Stuhl hin und her.

»Was gab es da schon zu sagen? Es war schließlich nur ein Hund.«

»Mein Hund!«, schluchzte Macliau.

»Habt ihr ihn getötet?«, fragte Fidelma Barbatil barsch.

»Wir nicht, Lady. Der Hund lag mit gebrochenem Genick tot zu seinen Füßen. Er muss ihn selbst ins Jenseits befördert haben.« Der Bauer wies mit dem Kopf zu Macliau.

»Ich habe ihn nicht umgebracht. Nie würde ich so etwas tun …«, wimmerte der Sohn des Lord auf Brilhag.

»Nimm dich zusammen, Macliau«, herrschte Fidelma ihn ungerührt an. »Denk daran, wer du bist. Sei ein Mann und nimm dich zusammen.«

Betroffen blickte Macliau in die Runde, als nähme er erst jetzt seine Umgebung wahr. Dann schaute er Fidelma schuldbewusst an, schniefte und wischte sich erneut das Gesicht.

»Es tut mir leid, dass du mich in dieser Lage hier vorfindest«, murmelte er.

»Und mir tut es leid, einen Mann in derartigem Ungemach zu sehen«, erwiderte sie nicht eben unfreundlich. »Erzähl mir bitte, was geschehen ist. Am besten fängst du damit an, wie ihr Brilhag verlassen habt.«

Verunsichert warf er einen Blick zu Barbatil, dann wieder zu ihr. Sie verstand seine stumme Frage.

»Barbatil hat das Recht, mit anzuhören, was du zu sagen hast«, teilte sie ihm sachlich mit.

Er versuchte, sich zu sammeln. »Ich bin zu einer Jagd aufgebrochen.« Angestrengt kramte er in seinem Gedächtnis.

»Du hast Brilhag mit deiner … deiner Gefährtin Argantken verlassen«, half Fidelma nach. Er blinzelte nervös, als sie den Namen des Mädchens nannte. »Außerdem hast du vier Männer mitgenommen, zwei Krieger und zwei Jäger.«

Er starrte auf den Steinfußboden, als könnte er dort etwas ablesen.

»Ja, ich hatte meine beiden Jäger und zwei Krieger bei mir«, pflichtete er ihr langsam bei. »Bis zum Einbruch der Dunkelheit wollte ich wieder zurück sein.«

»Warst du aber nicht. Was war passiert?«

»Die Jagd lief nicht gut. Argantken war müde, und da ich eine verlassene Kapelle kannte, dachte ich, wir könnten uns dort ausruhen und erfrischen. Argantken schlug vor, dass die Jäger und die beiden anderen doch eigentlich losziehen und versuchen könnten, ein Wildschwein oder einen Hirsch zu erlegen, während wir … naja, während wir ein wenig ruhten. So blieben wir also allein …«

»In der Kapelle?«

»Genau. Wir … wir lagen da, und die Nacht brach herein. Die Männer waren nicht zurückgekehrt. Wir hatten ein Feuer entzündet und wunderten uns, warum die vier beim Dunkelwerden nicht zurückgekommen waren. Nun gut, wir hatten ja etwas zu essen und auch zu trinken mit, und so beschlossen wir, dort zu bleiben und uns nicht des Nachts nach Brilhag aufzumachen.«

»Eure Gefährten waren einfach spurlos verschwunden?«

»Ja. Ich gebe zu, dass das eigenartig war, aber dann dachte ich, sie hätten vielleicht nicht mehr den Weg zur Kapelle gefunden.«

»War das vorstellbar? Ihr wart doch bestimmt auch früher schon in der Gegend gewesen.«

Er legte die Stirn in Falten; auf diese Idee schien er bisher nicht gekommen zu sein.

»Doch, das ist richtig, wir waren dort schon öfter auf Jagd.«

»Den Gedanken, sie hätten den Weg zur Kapelle nicht mehr gewusst, können wir also fallen lassen. Dass sie aber nicht wieder auftauchten, hat dir überhaupt keine Sorge bereitet, hat dich nicht veranlasst, sofort nach Brilhag zurückzukehren?«

»Es gab doch keinen Grund. Ach, du meinst die Räuber?« Er schüttelte den Kopf. »Warum sollten wir vor Räubern Angst haben? Schließlich bin ich der Sohn des mac’htiern

»Eben, warum Angst haben vor denen?«, rutschte es Barbatil laut heraus, als er das vernahm. »Er war ja selbst einer von ihnen.«

Fidelma verwarnte ihn mit strengem Gesicht und stellte Macliau die nächste Frage.

»Ihr seid also die Nacht in der Kapelle geblieben?«

»Wir aßen und tranken und schliefen dann ein. Als nächstes weiß ich nur, dass der da« – empört zeigte er auf Barbatil – »und seine Mannen mich in den Bach warfen. Mich, den Sohn des mac’htiern!«

Eindringlich sah Fidelma ihn an. »Willst du behaupten, dass du dich von dem Zeitpunkt, da du eingeschlafen warst, bis zum unsanften Gewecktwerden durch Barbatil an nichts erinnern kannst?«

Wieder hefteten sich seine Augen auf den Fußboden. Er überlegte angestrengt. »Ich schlief«, begann er langsam. »Ich wurde irgendwie wach, jemand hielt mich fest. Ja, ich erinnere mich wieder. Das Feuer war ausgegangen, ich konnte um mich herum nur sich bewegende Schatten erkennen. Sie öffneten mir mit Gewalt den Mund und schütteten mir irgendwas Alkoholisches in die Kehle. Ich dachte, ich müsste ersticken, wehrte mich verzweifelt, dann war alles vorbei. Ich kam wieder zu mir, als man auf mich einschlug. Sie warfen mich ins kalte Wasser. Menschen grölten. Prügelten mich. Behaupteten, ich hätte Argantken erstochen – sie wäre tot. Sie fesselten mich und zerrten mich mit sich. Ich war nur halb bei mir, bekam aber mit, dass sie einen Leichnam trugen. Argantken. Es stimmte – sie war tot. Das war der letzte Gedanke, der mich beschäftigte. Ich verlor wieder das Bewusstsein. Wie lange ich bewusstlos war, weiß ich nicht.«  

Er machte eine Pause. Alle schwiegen.

»Als ich erneut zu mir kam, war ich an einem dunklen, moddrigen Ort. Es stank, stank fürchterlich, so wie ich jetzt. Man hatte mich in einen Stall zu den Schweinen gesperrt. Dann fand ich meinen kleinen Hund, oder richtiger – seine Leiche. Sie hatten ihn getötet und zu mir in den Stall geworfen …«

Fidelma hob die Hand und gebot ihm innezuhalten.

»Habt ihr das getan?«, fragte sie Barbatil.

Der Bauer fühlte sich nicht getroffen.

»Den Hund hat er auf dem Gewissen. Er gehörte ihm. Wenn wir ihn erst mal gehängt haben, begraben wir ihn, mit dem Hund auf ihm drauf. Das ist bei uns ein Zeichen der Beschimpfung und Verachtung.«

Fidelmas leiser Stoßseufzer war kaum zu merken, kopfschüttelnd drehte sie sich wieder zu Macliau. Sie hob die Hand, um ihm zu bedeuten, dass er weiterreden durfte.                 

»Dass du deinen Hund nie hättest töten können, hast du schon gesagt. Wie ging es dann weiter?«

»Ich wollte fliehen, aber die Absperrung vom Stall war fest verkeilt. Die ganze Nacht habe ich immer wieder versucht, mich dagegen zu stemmen. Es wurde schon langsam hell, da hatte ich es endlich zuwege gebracht, ein Loch zu buddeln und darunter durchzukriechen. Irgendwie schaffte ich es in den nahe gelegenen Wald. Ich kroch auf allen Vieren, ohne zu wissen wohin, ging auch mal aufrecht, lief sogar streckenweise. Dann wurde ich mir bewusst, dass die Abtei näher liegen musste als Brilhag. Da hörte ich auch schon den Lärm von Menschen hinter mir. Es konnten nur meine Verfolger sein. Entweder ich schaffte es zur Abtei, oder ich war verloren. Ich rannte, rannte wie nie zuvor in meinem Leben. Ich war nahe am Zusammenbrechen … Da tauchte die Kapelle vor mir auf, und ich sah Bruder Metellus. Ich fiel auf die Knie und bat ihn, mir Zuflucht zu gewähren, Teufelspack wäre hinter mir her.«

Er verstummte.

»Kein Teufelspack war hinter dir her, Macliau«, stellte Fidelma klar. »Es war ein Vater, der seine Tochter verloren hatte, und mit ihm Freunde und Verwandte.«

Nachdenklich betrachtete sie das Gesicht des willenlosen, in sich zusammengesunkenen Mannes vor sich, versuchte darin zu lesen, ob er bei der Schilderung der Vorgänge aufrichtig geblieben war. Dann stand sie auf.

»Was wird mit meinem Bruder?«, fragte Trifina. »In seinem Zustand können wir ihn doch nicht einfach hierlassen?« Bei aller kritischen Haltung zu ihrem Bruder empfand sie doch Zuneigung für ihn.

»Das sehe ich auch so«, erwiderte Fidelma. »Nur bin ich der Meinung, dass der Fall eine ordentliche Anhörung verlangt. Macliau muss die Möglichkeit gegeben werden, in aller Form von einem eurer Richter, einem bretat, wie ihr sie nennt, vernommen zu werden.«

»Vielleicht Iarnbud?«, schlug Bleidbara vor.

Fidelma schüttelte entschieden den Kopf.

»Er ist ein Freund des Lord auf Brilhag. Nein, es muss ein unabhängiger Richter sein, der über jeden Vorwurf erhaben ist. Die Menschen hier müssen sich darauf verlassen können, dass keine Günstlingswirtschaft im Spiel ist.«

»Dann müssen wir einen Richter aus Bro-Gernev holen«, meinte Bruder Metellus. »Das ist das benachbarte Königreich.«

»Könnte sich Barbatil damit einverstanden erklären?«, fragte Fidelma.

Begeistert war der Bauer nicht, fand dann aber, wenn man unbedingt Zeit auf eine förmliche Anhörung verschwenden müsste, wäre es schon besser, einen Richter zu haben, der keine engere Bindung an Brilhag habe.

Alle Beteiligten schauten erwartungsvoll zu Fidelma.

»Also gut. Ich schlage vor, dass wir mit Barbatil eine feste Vereinbarung treffen. Unter der Bedingung, dass Macliau sein Ehrenwort gibt, darf er nach Brilhag zurückkehren. Er legt den heiligen Eid ab, zu einem ordentlichen Gerichtsverfahren vor einem Richter zu erscheinen. Vermutlich liegt eurer Rechtsprechung eine ähnliche Auffassung zugrunde wie unserer: Ein Mann ist an sein Ehrenwort gebunden. Er darf keinen Fluchtversuch unternehmen oder sonst wie versuchen, sich der Rechtsprechung zu entziehen, sondern hat bis zur Vernehmung an Ort und Stelle zu verbleiben. Barbatil seinerseits muss den Eid ablegen, von jedem Versuch abzulassen, sowohl in eigener Person als durch andere Macliau Schaden zuzufügen, während er sich in Brilhag aufhält und die Vernehmung erwartet. Können sich beide Seiten darauf einigen?«

Macliau hatte seine Bedenken, die Sicherheit der Freistatt in der Abtei aufzugeben, erklärte sich aber schließlich bereit, in Begleitung der Krieger nach Brilhag zurückzukehren. Allerdings stellte er eine sonderbare Bedingung: Jemand sollte zu Barbatils Hof gehen und sein totes Hündchen holen, damit er es in Brilhag bestatten könnte.

Bei Barbatil bedurfte es längeren Zuredens. Er befürchtete, hinter dem Ganzen steckte eine geheime Verschwörung, Macliau auf die Burg und in Sicherheit zu bringen, damit er und seine Familie sich einer ordentlichen Rechtsprechung entziehen konnten. Fidelma musste mit Hilfe von Bruder Metellus lange und leidenschaftlich debattieren, ehe sie den Bauern überzeugt hatte.

Bruder Metellusübernahm es, einen Boten in das an der westlichen Grenze liegende Königreich Bro Gernev zu schicken. Er sollte bei König Gradlon vorsprechen und ihn um die Entsendung eines Richters bitten, der die gegen Macliau vorgebrachte Beschuldigung anhören sollte.

»Dann können wir jetzt nach Brilhag zurückkehren und dort die Ankunft des bretat aus Bro-Gernev erwarten«, erklärte Fidelma abschließend.

»Es dürfte drei oder vier Tage dauern, bevor der Mann hier eintrifft«, gab Bruder Metellus zu bedenken. »Unser Bote muss Richtung Westen bis zur Stadt Kemper reiten; sie liegt am Zusammenfluss von zwei Flüssen, an einem Tag ist das nicht zu schaffen.« Nach einer Pause fügte er erschrocken hinzu: »Beinahe hätte ich es vergessen: Die Witwe Aourken war hier und hätte dich gern gesprochen.«

Fidelma hörte seine Bemerkung, konnte aber nicht sofort darauf eingehen, denn Trifinas Gebaren verlangte ihre Aufmerksamkeit. Die hatte sich Barbatil zugewandt; ihr Gesichtsausdruck und Ton waren nicht gerade freundlich, und dem Mann schoss das Blut in die Wangen. »Du wirst dafür Sorge tragen, dass deine Meute nicht über uns herfällt und wir sicher nach Brilhag gelangen.« Was sie sonst noch sagte, konnte Fidelma nicht verstehen. Doch als er sich kurz darauf zu Fidelma umdrehte, sprach er ruhig, und was er sagte, klang glaubwürdig. Bruder Metellus übersetzte für ihn.

»Er betont, dass er dir sein Versprechen gegeben hat, Fidelma. Er wird sich daran halten und darauf achten, dass seine Familie, seine Nachbarn und Freunde es ebenfalls tun.«

»Ich verlasse mich auf dein Wort und deine Ehre«, erwiderte Fidelma und lächelte ihm freundlich zu. »Auch Macliau wird sein Versprechen nicht brechen.«

Gemeinsam verließen alle die Kapelle. Barbatil ging hinüber zu Coric und redete auf ihn ein. Der kleine Mann schien mit dem, was er sagte, nicht einverstanden und schüttelte heftig den Kopf, gab sich aber schließlich achselzuckend geschlagen. Er nahm die Waffen und zog zusammen mit Barbatil ab.

Bruder Metellus hatte inzwischen leise ein paar Worte mit Fidelma gewechselt, woraufhin sie den anderen mitteilte: »Eadulf und ich haben noch einiges mit Bruder Metellus zu bereden. Wir kommen später nach.«

Bleidbara erhob Einspruch und wollte sie keineswegs allein zurücklassen.

»Nicht lange, und die Nacht bricht herein. Niemand weiß, ob es sich die Bauersleute nicht anders überlegen. Ohne Geleitschutz im Dunkeln draußen zu sein, ist äußerst gefährlich.«

»Ich bin nicht allein, ich habe Eadulf und Bruder Metellus bei mir. Wir kommen wirklich gleich hinterher.«

Doch Bleidbara ließ nicht locker, und so erklärte sie sich einverstanden, dass einer seiner Männer bei ihnen blieb.

Als sie fort waren, fragte sie Bruder Metellus: »Aourken wollte mich sprechen, sagtest du?«

»Ja«, bestätigte er.

»Dann wollen wir zu ihr gehen und hören, was sie auf dem Herzen hat.«

Sie machten sich auf den Weg zum Fischerdorf, Bruder Metellus voran, der Krieger im gebührenden Abstand hinter ihnen. Sie fanden die alte Frau auf einer Bank vor ihrer Hütte. Offensichtlich hatte sie sie schon erwartet und begrüßte sie freudig.

»Wie ich gehört habe, ist viel geschehen, seit ihr von mir fort seid. Biscam und seine Kaufleute sind tot, Abt Maelcar ist ermordet und Macliau, der Sohn des mac’htiern, wird beschuldigt, Argantken getötet zu haben. Aufregende Zeiten, in denen wir leben. Argantken habe ich nicht so gut gekannt, eher ihren Vater. Barbatil ist ein anständiger Kerl, ein Bauer, den jeder in der Gegend achtet.«

Die Gäste lehnten Aourkens gut gemeinte Erfrischungen ab.

»Auch Männer, die Ansehen genießen, können mal einen Fehler machen«, meinte Fidelma. »Bruder Metellus hat mir gesagt, du hättest ein besonderes Anliegen, weshalb du mich sehen wolltest.«

Sie nickte.

»Entsinnst du dich, dass du mir gegenüber von einer schwarzen Katze gesprochen hast?«

Fidelma bejahte es, und Aourken ging zur Tür und winkte Fidelma, ihr zu folgen.

Drinnen vor der Feuerstelle lag zusammengerollt in einem alten Korb eine schwarze Katze. Fidelma ging darauf zu. Bei dem Geräusch der Schritte hob das Tier den Kopf und blinzelte sie an. Langsam erhob es sich, reckte sich auf allen Vieren und miaute.

»Luchtigern!«, entfuhr es Fidelma. Sie bückte sich und streichelte die Katze. »Bist du es wirklich?«

Der Kater schnurrte und streckte sich erneut. Fidelma tastete ihn ab. Tatsächlich, da war der kleine Pechklumpen, der immer noch im Nackenfell klebte.

»Es ist wirklich der Schiffskater von der Ringelgans. Also hat er es ans Land geschafft. Hatte ich es mir doch gedacht. Das heißt, das Schiff muss hier irgendwo in der Nähe sein. Man kann nur hoffen, dass die Mannschaft es ebenfalls überlebt hat.«

Eadulf wünschte sich insgeheim, er hätte nicht ganz so eilfertig Fidelmas Vermutung von der Hand gewiesen, als sie den Kater zum ersten Mal bei ihrer Ankunft in der Abtei gesehen hatten.

»Kannst du den Kater so lange bei dir behalten, Aourken, bis … bis …« Fidelma hoffte, dass Wenbrit, der Schiffsjunge, der sich immer um den Schiffskater gekümmert hatte, noch am Leben war.  

Mit einem gutmütigen Lächeln brachte Aourken den Satz für sie zu Ende: »Bis er zu seinem rechtmäßigen Herrn zurückkann? Keine Angst, er kann bei mir bleiben. Ihr aber passt bitte gut auf euch auf. Wir haben unruhige Zeiten. Ich habe Abt Maelcar nicht gemocht, doch auf so eine Art umzukommen, wünscht man keinem.«

Fidelma schaute sie neugierig an.

»Du weißt, wie er zu Tode gekommen ist?«

»Iuna hat es mir erzählt.«

»Wann?«

»Heute Morgen.«

»Heute Morgen? Wo hast du sie gesehen?«

Aourken stutzte bei Fidelmas sich überstürzenden Fragen.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie zurück.

»Nichts, dass es dich in Sorge versetzen müsste«, wich Fidelma aus und lächelte verkrampft.

»Ich war heute früh mit anderen Frauen aus dem Dorf zu einer Bucht nördlich von hier nach Austern unterwegs.«

»Eine Bucht, die sich zum Kleinen Meer öffnet, wie ihr es nennt?«                

»An der Nordseite der Halbinsel, ja. Man muss nicht weit laufen von hier, und die Austern sind gut.«

»Und dort hast du Iuna getroffen?«

»Ja. Sie brauchte Austern für Brilhag und sucht sie sich immer selbst aus.«

»Wann heute Morgen war das?«

»Tja, wann? Das muss so gegen Vormittag gewesen sein. Die Sonne stieg bereits hoch.«

Fidelma zog die Stirn kraus und rechnete insgeheim nach. Sie hatte einen Fehler gemacht. Einen schwerwiegenden. Trifina hatte nicht gelogen. Iuna konnte gar nicht mit Iarnbud nach Govihan gesegelt sein. Es blieb ihr nicht die Zeit, mit sich ins Gericht zu gehen.

»Was du gesagt hast, ist für mich sehr hilfreich, Aourken. Und kümmere dich gut um den Kater.«

»Selbstverständlich. Der macht keine großen Umstände, aber ich glaube, er sehnt sich nach seinem richtigen Herrn.«

Fidelma war schon im Gehen, drehte sich aber noch einmal um.

»Da wäre noch eine Sache. Du hast mir erzählt, du kanntest Abt Maelcar, als er als junger Mann hier war. Hat er da jemals über seine Familie gesprochen?«

Ihre Frage überraschte Aourken.

»Kaum. Seine Eltern waren bei einem Überfall der Franken umgekommen. Da war er noch klein. Man gab ihn nach Meven ins Kloster, wo er aufwuchs. Dann kam er hierher.«

»Meven. Wo liegt das?«

»In den Wäldern von Brekilien, nördlich von hier.«

»Weißt du, ob er noch Geschwister hatte?«

Aourken dachte nach.

»Ich glaube nicht. Er hat eigentlich immer von sich als Einzelkind gesprochen.«

»Ah ja«, meinte Fidelma gedankenverloren. »Das hilft mir ein Stück weiter. Vielen Dank noch mal.«

Sie verabschiedeten sich endgültig und machten sich auf den Rückweg zur Abtei. Dort trennten sie sich von Bruder Metellus, stiegen auf ihre Pferde und ritten Richtung Brilhag.