Mit der Abenddämmerung war es in dem Gemach, das man ihnen zugewiesen hatte, schummrig geworden. Sie hatten ihr Bad genommen und sich für die Abendmahlzeit gekleidet. Zuvor hatte eine Dienerin, ein schlankes, melancholisch dreinschauendes Mädchen mit dunklem Haar und blauen Augen, Fidelma eine Auswahl bequemer Kleidungsstücke gebracht, die ihr Trifina schickte. Auch Kerzen aus Bienenwachs waren dabei gewesen. Fidelma verwandte einige Zeit darauf, sich zu schmücken, denn in ihrer Heimat legte man großen Wert auf dergleichen. Zwar ging Fidelma nicht so weit, ihre Fingernägel karminrot zu bemalen, auch schwärzte sie sich nicht die Augenbrauen, noch rötete sie die Wangen mit Holunderbeeren, wie das viele Frauen in den fünf Königreichen taten. Ihr gefiel es, ihr langes rotes Haar lose bis auf die Schultern fallen zu lassen, sie flocht es nicht zu Zöpfen, sondern kämmte es lediglich sorgfältig.
Eadulf wartete geduldig, bis sie ihre Toilette beendet hatte. Er saß auf der niedrigen Fensterbank und blickte hinüber zu den Ufern und den Gewässern des Morbihan. Rasch wurde es dunkel, doch nun erschienen Lichter und verrieten, welche der Inseln bewohnt waren. Auch in der Uferzone unterhalb der Burg tauchten Lichter auf, die sich hin und her bewegten. Nicht, dass sich dort Wohnstätten befanden, vielmehr hatte er den Eindruck, Menschen waren entlang der Küste unterwegs, und Boote legten ab und fuhren hinaus aufs offene Wasser. Verwundert sah er auch, dass sich die Umrisse eines großen Schiffs langsam ins Dunkel schoben. Er konnte eben noch ausmachen, dass das schemenhafte Gefährt von zwei Ruderbooten gezogen wurde, dann aber mitten in der Bucht zum Stillstand kam.
Er rief Fidelma und zeigte ihr, was sich da unten tat.
»Seltsam, dass gerade jetzt, wo es dunkel wird, so viele unterwegs sind. Eigentlich sitzen die Leute um diese Zeit bei ihrem Abendbrot.«
»Und was glaubst du wohl, soll das Schiff da? Ist es möglich …?«
»Wenn es das ist, was du meinst, ist äußerste Vorsicht geboten. Niemand darf merken, dass wir einen Verdacht hegen.«
»Denkst du, wir können Bruder Metellus trauen?«
Sie kam nicht zum Antworten, denn die Dienerin erschien wieder und verkündete, dass Macliau und Trifina sie zu Tisch bäten.
Bruder Metellus saß bereits an dem langen Holztisch in der großen Halle, als Fidelma und Eadulf eintraten. Der Saal wurde von reich verzierten Öllaternen aus Bronze erleuchtet, und auf der Tafel gaben mehrere Bienenwachskerzen ein warmes Licht.
Macliau kam ihnen entgegen und begrüßte sie liebenswürdig wie immer. Seine Schwester Trifina blieb gelassen in ihrem Sessel und hieß sie mit einem flüchtigen Lächeln willkommen. Drei weitere Gäste hatten sich eingefunden: zwei Männer und die füllige Argantken in ihrer grellbunten Aufmachung. Sie kümmerte sich nicht um die Neuankömmlinge, saß da, aß mit großem Appetit Nüsse aus einer Schale und nahm kräftige Schlucke aus einem Glas, in dem vermutlich Weißwein war.
Von den beiden Männern war einer der hoch aufgeschossene gutaussehende Krieger mit Namen Bleidbara, der Befehlshaber der Kriegerschar auf Burg Brilhag. Den anderen Gast kannten sie nicht. Es war ein großer, bleichgesichtiger Mann mittleren Alters. Bekleidet war er mit einem langen wollenen Gewand, das einst weiß gewesen, nun aber vom steten Gebrauch angegraut war. Im dunklen Haar, das er lang trug, zeigten sich graue Strähnen. Der Schnurrbart hing an den Mundwinkeln herunter, sonst war der Fremde nach alter keltischer Sitte glatt rasiert. Ein dünner Reif aus poliertem Kupfer umschloss den Kopf. Um seinen Hals hing eine goldene Kette mit einem kreisförmigen Sonnensymbol. Die Wangen wirkten blass und blutleer im Gegensatz zu den dünnen roten Lippen. Er muss sie sich mit Beerensaft gefärbt haben, ging es Eadulf durch den Kopf. Die dunklen Augen wanderten ruhelos hin und her, doch was der Mann insgeheim dachte, war ihm nicht anzumerken.
»Das ist Iarnbud, der bretat meines Vaters«, stellte ihn Macliau vor
»Bretat?« Das Wort erinnerte Fidelma an ein ähnlich klingendes aus ihrer Muttersprache, so dass sie auf gut Glück riet: »Bist du ein Richter, ein breitheamh?«
Iarnbud sprach Latein, wie die meisten, denen sie bislang begegnet war. Es war nicht die klassische Schriftsprache, die man sie gelehrt hatte, mehr eine Mundart in merkwürdig rollender Sprechweise.
»So ist es, Lady. Bin wie du im Rechtswesen tätig. Bruder Metellus hat mir berichtet, wer du bist und was dich hierher gebracht hat.«
Macliau lud sie mit einer Handbewegung ein, am Tisch Platz zu nehmen. Er setzte sich an die Stirnseite der Tafel, und sein ständiger Begleiter, der kleine Hund, rollte sich zu seinen Füßen zusammen. Er wurde Albiorix gerufen, wie sie zu Fidelmas Vergnügen erfuhren. Später erkundigte sich Eadulf, was daran so lustig sei. Wörtlich bedeute das »großer König«, erklärte sie ihm; so hieß auch ein Gott der Gallier, der etwa dem römischen Mars entsprach. Der Name sei schon ein bisschen seltsam für einen so treuherzig dreinblickenden Vierbeiner. Vielleicht erlaube er auch Rückschlüsse auf den Charakter seines Herrn, hatte Eadulf gemeint.
Fidelma saß zur Linken des Gastgebers und Trifina zu seiner Rechten. Bruder Metellus war der Platz neben Fidelma zugewiesen worden, und die rundliche Argantken fläzte sich weiter unten gegenüber Bruder Eadulf. Zwischen ihm und Trifina hockte Iarnbud. Bleidbaras Stuhl war am anderen Ende der Tafel.
»Ich freue mich, einen Brehon dieses Landes kennenzulernen«, begann Fidelma das Gespräch, während der Wein eingeschenkt wurde, ein kühler, weißer Landwein. »Du hast von Bruder Metellus sicher von dem Raubüberfall und den Morden gehört. Was sehen eure Gesetze in solchen Fällen vor? Welche Aufgabe kommt dir in der jetzigen Situation zu?«
Die dunklen Augenbrauen hoben sich, sonst zeigte sich keine Regung in dem bleichen Angesicht des Mannes. »Wieso mir?«
»Wie wirst du vorgehen, um diese Diebe und Mörder aufzuspüren?«
Iarnbud schüttelte den Kopf. »Damit habe ich nichts zu tun. Erst wenn die Schuldigen gefasst und vor meinen Richterstuhl gebracht werden, fällt es mir zu, sie der Anklage gemäß zu verurteilen.«
»Wer aber spürt sie auf und bringt sie vor deinen Richterstuhl?«
»Diejenigen, die Anklage erheben.«
Verwirrt schaute Fidelma ihn an. »Gibt es eurem Gesetz nach kein Amt, das verantwortlich dafür ist, Nachforschungen anzustellen, um der Täter habhaft zu werden?«
»Einen solchen Auftrag würde mein Vater seinen Kriegern erteilen«, griff Macliau ein und fügte grinsend hinzu: »Bleidbara befehligt die.«
Fidelma schaute fragend zu dem jungen Mann, dem die Röte ins Gesicht gestiegen war. Der winkte ab. »Ich bin im Kriegshandwerk geübt, Lady, und weiß meine Leute in der Schlacht zu befehligen. Ich verstehe es, den Fußstapfen von Menschen und Tieren nachzuspüren. Aber wenn sie keine Spuren hinterlassen, bleiben sie auch für mich unauffindbar.«
»Da, wo die Kaufleute erschlagen wurden, gibt es sehr wohl Spuren«, erklärte Eadulf. »Bist du denen nachgegangen?«
Bleidbara verneinte. »Ich habe Boric, meinen besten Fährtensucher, hingeschickt, er ist auch mein Stellvertreter. Er soll sich die Sache genauer ansehen und die Toten herschaffen. Aber er ist noch nicht zurück. Als er loszog, wurde es bereits dunkel, und es ist fraglich, ob er überhaupt noch etwas erkennen konnte. Wir müssen abwarten, was er zu berichten hat und ob es Anhaltspunkte gibt. Natürlich ist auch uns daran gelegen, diesem Raubgesindel auf die Schliche zu kommen.«
Eigentlich sprach er mehr zu Trifina, wie Fidelma auffiel. Die ganze Zeit hing sein verlangender Blick an ihrem Gesicht, als gäbe es darin etwas für ihn Wichtiges zu lesen. Trifina jedoch schien sein Gehabe gleichgültig. Fidelma gefiel der junge Bursche, der ein einnehmendes Lächeln hatte und sich wortgewandt ausdrückte. Sie fragte sich, ob zwischen ihm und Trifina eine Beziehung bestand. Die Dame gähnte plötzlich, hielt sich die Hand vor den Mund und murmelte Macliau eine Entschuldigung zu.
Ihr Bruder verstand, was sie bezweckte. »Wenden wir uns lieber angenehmeren Dingen zu«, beendete er das Frage- und Antwortspiel, und an Fidelma und Eadulf gerichtet: »Wir haben ein besonderes Mahl für euch bereitet, weil ihr doch Fremdlinge in unserem Lande seid.«
Er gab einem wartenden Bediensteten ein Zeichen, und aus einer Seitentür brachten mehrere Helfer Karaffen mit Cidre und weißem Wein. Die trübsinnige Kammerjungfer erschien und lenkte nun die Dienerschaft, die die Abendmahlzeit auftrug. Ihr Wesen war wie gewandelt, sie trat nicht länger als untergeordnete Dienerin, sondern als weisungsgewohnte Herrin auf.
Fidelma entging nicht, dass sie sich besonders um Bleidbara, den Befehlshaber der Wache, bemühte. Der junge Mann hingegen schien unverhohlen in Trifina vernarrt. Fidelma beobachtete das Verhalten der Beteiligten mit stillem Vergnügen. Während sich der prächtige Krieger zur Tochter des mac’htiern von Brilhag hingezogen fühlte, wurde er von der Dienerin angehimmelt.
Schalen mit einer dampfenden Suppe wurden ihnen vorgesetzt, dazu Körbchen mit frisch gebackenem Brot. Eadulf betrachtete die Suppe, rührte unschlüssig darin herum und hob fragend die Brauen.
»Suppe aus hiesigen Muscheln mit Lauch und Sahne«, versicherte ihm Macliau.
Bruder Metellus hatte seine Schale bereits halb geleert und wedelte anerkennend mit dem Löffel. »Lauch war das Lieblingsgemüse von Kaiser Nero«, erklärte er aufgeräumt. »Nichts ging ihm über eine gute Lauchsuppe, heißt es.«
Auf die Suppe folgte ein Gericht aus jungen Aalen. Die wären in Salz und Schalotten eingelegt, hieß es, und mit Olivenöl aus dem Süden und Essig angerichtet.
Die Aale sagten Fidelma nicht zu; derweil sich die anderen darüber hermachten, begnügte sie sich mit einem Stück Brot. Dann kam das Hauptgericht: Kaninchen gedünstet in Cidre, mit wildem Knoblauch und Schalotten. Dazu wurden große fleischige Pilze gereicht, die man in Butter gesotten und mit Perlzwiebeln und Kräutern angereichert hatte sowie mit Nüssen, die Eadulf nicht gleich erkannte.
Bruder Metellus half ihm. »Wir nennen sie nux Gallica, Nüsse aus Gallien«.
»Ah, dann sind es die, die bei uns welsche Nüsse heißen«, erinnerte sich Eadulf.
Die Walnüsse verliehen dem Gericht eine pikante Würze. Außerdem kam noch ein anderes Gemüse auf die Tafel, bei dem Macliau zufrieden lächelte. »Ich bin sicher, dergleichen habt ihr noch nicht gegessen.«
Doch Fidelma erkannte es auf Anhieb und musste nicht erst kosten. »Das ist Artischockenherz, die Griechen nennen es katos. Unsere Händler führen es vom Mittelmeer ein. Und der Saft, das ist Zitrone, das Ganze gemischt mit Sauerampfer. Ich habe das probiert, als ich in Rom war.«
Der Fürstensohn war enttäuscht. »In Rom bist du also gewesen?«, fragte er etwas neidisch.
»Ja.«
»Irgendwann werde ich auch dorthin reisen; Bruder Metellus hat mir viel davon erzählt, muss eine riesige Stadt sein.«
»Nihil est instar domus«, sagte Eadulf leise vor sich hin. Zu Hause ist es am besten.
Fidelma sah zu ihm hinüber. Er schaute auf den Teller und war mit den Gedanken woanders. Obwohl er schon eine Reihe von Jahren in ihrer Heimat lebte, hatte er nicht vergessen, dass er eigentlich ein Angelsachse war und aus Seaxmund’s Ham im Lande des Südvolks stammte. Er witzelte sogar darüber, wenn man ihn immer wieder für einen Sachsen hielt. Sie hatte es als gegeben hingenommen, dass er sich in Cashel, dem Hauptsitz ihres Bruders, sichtlich wohlfühlte. Freilich waren sie nur selten dort, denn die Aufgaben, die sie im Auftrage ihres Bruders, des Königs, übernahm, brachten es mit sich, dass sie häufig unterwegs waren. In sein Heimatland war sie mit ihm nur einmal gereist; das war, als sein Freund, Bruder Botulf, in der Abtei des heiligen Aldred ermordet worden war. Für gemeinsame Stunden mit ihrem Sohn Alchú blieb kaum Zeit; immer wieder mussten sie ihn in der Obhut ihrer Kinderfrau Muirgen zurücklassen. Bei allem Pflichtgefühl, das sie ihrem königlichen Bruder gegenüber hatte, sorgte sich Fidelma, dass der Junge bald nicht sie, sondern die Amme für seine Mutter halten musste.
Ihre Gedanken wanderten zurück zum Tisch. Argantken schlang mit Appetit alles in sich hinein, was ihr vorgesetzt wurde, und sprach wenig. Wenn sie es aber tat, begriff Fidelma nicht, wovon sie redete, denn von zwanzig Wörtern verstand sie bestenfalls eins. Offenbar konnte sie kein Latein, die Sprache, in der sich alle anderen unterhielten. Fragte man sie etwas, antwortete sie einsilbig oder nur mit einem Grunzen.
Fidelma merkte zu spät, dass jemand das Gespräch mit ihr gesucht hatte. Es war Iarnbud. »Entschuldige, ich war nicht ganz bei mir. Was, bitte, hast du gefragt?«
»Ich möchte dich um deine ehrliche Antwort bitten – was hältst du von Rom? Nicht, dass ich die Absicht hätte, mich dorthin zu begeben wie Macliau. Rom hat meinem Volk viele Bürden aufgeladen.«
Fidelma versuchte rasch, sich bei Bruder Metellus zu vergewissern, doch der stellte mehr oder weniger ungerührt fest: »Das muss dich nicht bekümmern. Iarnbud und ich liegen uns immer in den Haaren, aber es bleibt beim Wortgefecht.«
»Ich kann dich durchaus verstehen, Iarnbud; ich weiß einiges von der Geschichte deines Volks. Wiederum ist von Rom aus der Neue Glaube verbreitet worden.«
Iarnbud schniefte verächtlich. »Ist das nun was Gutes oder was Schlechtes?« Seine Betonung sprach mehr für das Letztere »Frag doch die Fischer hierherum, und du wirst erfahren, dass sie ihre Hoffnung auf die alten Götter des Meeres setzen, wenn sie mit ihren Booten hinaussegeln.«
Das war das Stichwort für sie, und sie wandte sich an Macliau: »Weil gerade von den Fischern die Rede ist, heute Abend war unterhalb der Burg viel Bewegung. Was hat das zu bedeuten?«
Macliau schaute verwirrt drein. »Viel Bewegung?«
»Leute liefen am Ufer mit Fackeln umher, und unten in der Bucht lag ein großes Schiff vor Anker.«
Eadulf wunderte sich, mit welcher Offenheit sie die Sache zur Sprache brachte, nachdem sie ihn eben erst zur Vorsicht gemahnt hatte. Ihre Bemerkung schien allgemeines Unbehagen auszulösen. Hilfesuchend blickte Bleidbara zu Trifina, die sich diesmal bewogen fühlte, mit einem Stirnrunzeln darauf zu antworten.
Macliau geriet ins Stottern. »Viel Bewegung ist mir nicht …«
»Ich vermute, es waren meine Leute, die dir aufgefallen sind«, meldete sich der Befehlshaber der Wachen zu Wort. »Die haben Nachschub auf mein Schiff gebracht, das dort einen sicheren Ankerplatz hat für die Nacht.«
Fidelma stutzte. »Dein Schiff?«
»Wir sind ein zur See fahrendes Volk, wie ich dir schon erklärt habe«, mischte sich Macliau ein. »Das Schiff gehört meinem Vater, Lord Canao. Bleidbara ist der Kapitän.«
»In Ufernähe sieht man oft Lichter hierherum. Gefischt wird nicht selten nachts«, ergänzte Trifina eilig. Bisher hatte sie sich merkwürdig still verhalten und leicht gelangweilt ausgesehen. »Gehen die Leute nicht gerade nachts auf Karpfenfang?«
Fidelma konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. »Entschuldige, Lady. Soviel ich weiß, kommen Karpfen üblicherweise in Süßwasser vor. Im Morbihan dürfte nur Meerwasser sein.«
Trifina tat das mit einer Handbewegung ab. »Auf jeden Fall fängt man auch in der Nacht Fische.«
Iarnbud hatte eine noch ernstere Miene aufgesetzt, wenn das bei seinem ohnehin steinernen Gesichtsausdruck überhaupt möglich war. »In der Nacht begibt sich so manches, wenn Fischer ihre Heimstätten verlassen.«
Fidelma sah ihn prüfend an. »Das klingt geheimnisvoll, mein Freund.«
»Sollte es aber gar nicht sein. Ist lediglich eine Feststellung von Tatsachen.«
»Was für Tatsachen?«, wollte Eadulf wissen.
Macliau gluckste vor sich hin. »Iarnbud treibt nur seinen Spaß mit euch.«
Der andere lächelte gequält. »Stimmt. Ich habe nur gescherzt.« Überzeugend klang das nicht, und er schaute auch niemand an.
»Hinter deinem Scherz verbirgt sich gewiss ein tieferer Sinn, Iarnbud«, ermunterte ihn Fidelma. »Magst du uns nicht aufklären darüber?«
Der keltische Richter wandte ihnen sein bleiches Gesicht zu. Die schmalen roten Lippen waren zu einem freudlosen Lachen zurückgezogen und gaben seinen Zügen das Aussehen einer sonderbar zerknitterten Maske.
»Ich wollte nur sagen, Lady, nimm dich vor dieser Küste in Acht. Man sollte sie meiden nach Einbruch der Dunkelheit.«
Fidelma schaute ihn aufmerksam an. »In Acht nehmen? Warum?«
»Die Fischer aus der Gegend hier können dir das sagen«, erwiderte er nur, wie um die Sache noch geheimnisvoller zu machen.
»Tut mir leid; bis ich auf einen Fischer treffe, kann ich nicht warten. Sei so gut und erklär es mir, denn du kennst die Geschichte sicherlich.«
Iarnbud blinzelte verdutzt ob ihrer Ungeduld. Macliau und dessen Schwester Trifina blieben regungslos.
»An dieser Küste gehen Gespenster um. An den wild zerklüfteten Ufern warten die Seelen der Toten auf ihre Überfahrt in die Anderswelt«, verkündete er feierlich.
Eadulf lief es kalt den Rücken herunter, während es um Fidelmas Mundwinkel nur zuckte.
»Und wenn wir es wagten, nachts herauszugehen, würden wir dann Geistern begegnen?«, fragte sie unschuldig.
Iarnbud schüttelte den Kopf. »Seit Anbeginn der Zeit kennen die Fischer, die an diesen Küsten leben, den Kurs in die Anderswelt«, belehrte er sie. »Die Fischer spüren, an welchem Tag es ihnen zufällt, eine heilige Pflicht zu erfüllen. Um Mitternacht des bestimmten Tages pocht es an ihre Tür, und sie müssen zur Küste gehen. Dort erblicken sie seltsame Boote; es sind nicht ihre Boote, sondern fremde, leere Gefährte. Sie müssen sie besteigen und die Segel setzen, und selbst wenn es keinen Wind gibt, entsteht ein unerklärlicher Lufthauch und treibt sie hinaus auf die See und an der Küste entlang nach Westen zu einem Ort, den wir Bae an Anaon nennen.«
»Die Bucht der Seelen«, übersetzte Bruder Metellus. »Sie soll am äußersten Ende des Königreichs Bro-Gernev liegen, das an unsere Westgrenze stößt.«
Iarnbud stimmte dem bedächtig zu. »Dort ist es unheimlich; die Stadt Ker Ys versank da in den Wogen, nachdem Abt Winwaloe ihre Bewohner wegen ihres Festhaltens am alten Glauben verflucht hatte.«
Nur mit Mühe konnte Fidelma an sich halten angesichts all der ernsten Mienen. »Dieser Abt muss ungemein mächtig gewesen sein, wenn es ihm gelang, mit einem Fluch eine ganze Stadt zu ersäufen«, stellte sie nichtsdestotrotz fest.
Iarnbud rügte ihre ungebührliche Äußerung mit ärgerlichem Schnauben. »Er war der Sohn Fracans, eines Fürsten von Dumnonia in Britannien, der vor den Sachsen aufs Festland fliehen musste. Die große Abtei Landevenneg im Reiche Bro-Gernev wurde von ihm gegründet.«
»Was hat das mit der Bucht der Seelen zu tun?«, ereiferte sich Eadulf, den jede Beschuldigung seiner Landsleute reizte.
Diesmal lächelte der Kelte fast hämisch. »Ich will damit nur sagen, dass die Bucht geheimnisvoll ist, es gibt dort rätselhafte Strömungen unter den Wogen und dunkle Mächte über ihnen. Die Flut bricht mit so sagenhafter Gewalt herein, dass Schiffer diese brodelnden Gewässer meiden.«
»Aber wo ist der Zusammenhang mit deiner Warnung, wir sollten nächtens nicht an den Strand hier gehen?«, drängte Fidelma voller Ungeduld. Iarnbuds Bestreben, die Geschichte dramatisch auszuschmücken, konnte sie nichts abgewinnen.
In dessen bleichem Gesicht zuckte es schmerzlich. »Dazu komme ich gleich«, erwiderte er unwirsch.
»Du hast von den Fischern gesprochen, die von einem seltsamen Wind in die Bucht der Seelen getrieben werden«, gab Bruder Metellus das Stichwort und grinste Fidelma an.
Iarnbud presste die Lippen zusammen; er war vergrätzt, dass die Zwischenrufe seiner Erzählung die Spannung nahmen.
»Sobald sich die Fischer der Bucht der Seelen nähern, hören sie gedämpfte Stimmen, und ihre Boote werden schwerer, so schwer, dass das Schanzkleid der Boote kaum einen Fingerbreit über der Wasserlinie steht. Doch ist niemand in den Booten zu sehen, und die Gefährte werden westwärts getrieben, so rasend schnell, dass sie binnen kurzem anlegen können. Sie kommen an eine Stelle, wo eigentlich kein Land sein dürfte, und doch geraten sie an eine Insel, und bald werden die Boote leichter, so leicht, als wären sie leer. Und während die Boote sich heben, hören die Bootsführer eine Stimme, die die Unsichtbaren auffordert, ihre Namen zu nennen – und Männer, Frauen, Kinder sagen, wie sie heißen. Sie alle sind die Seelen der Toten, die ihre Zeit abgewartet haben, bis die Todesgötter sie in die Anderswelt befördern, auf die Insel der Seligen. Dann kommt wieder Wind auf, die Schiffe fahren zurück, die Fischer gehen von Bord und nach Haus, und die sonderbaren Schiffe verschwinden bis zum nächsten Mal, wenn die Fischersleute an dieser Küste aufgefordert werden, wiederum die Seelen der Toten zu befördern.«
Mit einem tiefen Seufzer beendete Iarnbud seine Geschichte und lehnte sich zurück.
Eadulf lachte auf. »Mir scheint, die Fischer sind in der Geschichte völlig überflüssig. Wenn diese Mächte der Finsternis die Schiffe und den Wind bereitstellen, um die Seelen in die Anderswelt zu befördern, und auch die Rückfahrt sichern, warum benötigen sie dann lebendige Fischer, um ihre Boote zu bemannen? Diese Mächte könnten die Angelegenheit doch mit ihren eigenen Kräften erledigen.«
Iarnbud wollte sich entrüsten, doch rasch ergriff Fidelma das Wort. »Bei uns gibt es ähnliche Geschichten. Die hat man sich schon erzählt, lange bevor der Neue Glaube ins Land kam, und sie sind auch jetzt noch nicht verstummt. Westlich vom Königreich meines Bruders liegt eine Insel, die Tech Duinn heißt, Haus des Donn. Donn war unser Gott der Toten. Auf dieser Insel mussten sich die Seelen der Verstorbenen versammeln, ehe sie ihre Reise westwärts in die Anderswelt antraten.«
Iarnbud warf Bleidbara einen Blick zu, hob – für die anderen kaum sichtbar – die Schultern und deutete damit seine Enttäuschung an. Fidelma merkte es nicht, und arglos wollte sie von Bleidbara, der bislang geschwiegen hatte, wissen: »Glaubst du an solche Geschichten? Du bist ein Krieger, siehst die Dinge von der praktischen Seite, befehligst sogar ein Schiff.«
Bleidbara überlegte. »Was sollen mir Geschichten? Ich glaube nur an das, was ich sehe, fühle, höre und rieche, bin eben ein Krieger.«
»Wie dem auch sei«, fuhr sie fort, »die Geschichte war gut und spannend erzählt, und so alte Vorstellungen darf man nicht missachten.«
Sie blickte hinüber zu Eadulf und hoffte auf Unterstützung. Er verstand sie sofort und nickte ernst. »Da ist etwas dran. Meist steckt in den alten Geschichten eine tiefere Wahrheit. Sicher ist es vernünftiger, vor dem lodernden Herdfeuer zu sitzen oder besser noch, im warmen Bett zu liegen, als mitten in der Nacht an einer Küste herumzuschleichen, wenn dort die alten Götter umgehen.«
Bruder Metellus entrüstete sich. »Die alten Götter besitzen doch nur die Gewalt, die wir ihnen beimessen.«
»Genau wie die neuen Götter«, erwiderte Iarnbud abwehrend.
»Glaubst du noch an die alten Götter, Iarnbud?«, fragte Fidelma leise.
Er schaute prüfend zu Macliau hin, doch der streichelte den kleinen Hund, der schlafend zu seinen Füßen lag.
»Ich bin, wie du bereits weißt, bretat bei Canao, dem Burgherrn auf Brilhag. Und somit auch Bewahrer des geheimen Wissens der Bewohner dieses Landes.«
»Das habe ich eigentlich nicht gemeint«, erwiderte Fidelma ruhig. »Es hörte sich so an, als würdest du den alten Göttern ebenso viel Glauben schenken wie dem Neuen Glauben.«
Der Mann schürzte die Lippen, dachte einen Moment nach und seufzte. »Es wäre doch seltsam, wenn die Götter, die von den Menschen seit unvordenklichen Zeiten verehrt wurden, an die sie jahrtausendelang geglaubt und zu denen sie Generation um Generation gebetet haben, plötzlich ihre Kraft verlören und in ganz kurzer Zeit verschwänden, nur weil einige Leute die Legenden von anderen fremdländischen Göttern aus dem Osten übernahmen.«
»Das ist Gotteslästerung«, bemerkte Bruder Metellus kalt.
Sein Urteilsspruch focht Iarnbud nicht an. »Du hast doch längst begriffen, Bruder Metellus, dass ich nur das feststelle, was logisch zwingend ist. Nicht wenige unserer Leute bringen den alten Göttern und Göttinnen noch immer Opfergaben dar. Über die Generationen haben die ihre Zuverlässigkeit bewiesen, während die neuen Gottheiten eben erst im Lande erschienen sind und noch beweisen müssen, dass sie stärker sind, wenn sie es denn sind.«
Macliau machte Anstalten zu reden, stellte seinen Wein zur Seite und richtete sich auf. Den ganzen Abend über hatte er sein Hündchen Albiorix immer wieder gekrault. Es war offensichtlich, dass ihm das Tier ans Herz gewachsen war.
»Wir sollten nicht vergessen, dass der Neue Glaube in unser Land eingezogen ist, bald nachdem die römischen Legionen über uns kamen. Zuerst waren die Legionen da und haben unsere Leute abgeschlachtet, und dann erschien der Neue Glaube und hat die Gedanken der Übriggebliebenen verwirrt, hat sie von ihren ureignen Wurzeln abgebracht«, sagte er mit Nachdruck.
Fidelma und Eadulf schauten erstaunt auf den jungen Mann. Fidelma war aufgefallen, dass er dem Wein reichlich zugesprochen hatte, und sie fragte sich, ob ihn das ermunterte, sich so unverhohlen zu äußern. Noch mehr verwunderte sie, dass Trifina schrill loslachte.
»Meinem Bruder macht es Spaß, Leute zu ärgern, indem er ihnen widerspricht«, erklärte sie. »Er sagt Dinge, von denen er weiß, dass seine Zuhörer entgegengesetzter Meinung sind, nur um sie zu foppen.«
Macliau starrte seine Schwester an, und Fidelma glaubte zu erkennen, dass sie ihn mit einem Blick warnte. Achselzuckend wandte er sich von ihr ab und verteidigte sich: »Ich halte es nicht für einen Fehler, die Unterhaltung zu beleben. Wenn wir alle nur dasitzen und mit allem einverstanden sind, wäre das doch sehr langweilig.«
»Unsere großen Lehrer haben Wissen vermittelt, indem sie mit gegensätzlichen Meinungen die Studierenden herausforderten, sie zu widerlegen«, ergänzte Iarnbud.
»So ist man auch in unserem Lande verfahren«, bestätigte Fidelma. »Doch gelegentlich behindert dieses Vorgehen den Wahrheitssucher, der auf Tatsachen angewiesen ist.«
Iarnbud lehnte sich in seinem Armsessel zurück und betrachtete sie einige Augenblicke prüfend. »Die Tatsachen sind ganz einfach. Der Neue Glaube breitet sich im Lande aus. Die Fürsten haben ihn sich zunutze gemacht, und es sind große Zentren entstanden wie die Abtei hier, die Gildas errichtete. Diese Zentren des Neuen Glaubens bestimmen nun das Leben der Menschen. Doch Glaubensvorstellungen, die tausend Jahre bestanden, lassen sich nur schwer ausmerzen. Die alten Götter und Göttinnen leben weiter in den Tiefen der großen Wälder nördlich von hier, immer noch werden sie verehrt, und man betet zu ihnen. Auch diejenigen, die heute Christus folgen und das Knie beugen vor seinen Symbolen, respektieren in ihrem Denken die alten Götter und die Bräuche der Vorfahren.«
Eadulf fühlte sich unbehaglich. In seiner Jugend war er mit den Göttern der Sachsen aufgewachsen, mit Wodan, Donar, Tyr und Freya, bis ein Wandermönch aus Hibernia ihn zum Neuen Glauben bekehrt hatte. Doch in Zeiten starker Erregung rief auch er die alten Götter an. Gegen Iarnbuds Darlegung ließ sich nichts einwenden.
Der spürte das Unbehagen des Angelsachsen und lächelte vielsagend. »Du verstehst mich wohl recht gut, Sachse«, brummte er und wandte sich an Fidelma. »Du bist zu Schiff hierher gereist. Ist dir aufgefallen, wie sich Seeleute und Fischer verhalten? Haben sie den Glauben aufgegeben, dass ihnen die alten Götter des Meeres Schutz gewähren? Gewiss nicht. Sie verehren sie und opfern ihnen, besonders der Mondgöttin, der Beherrscherin der Meere. Aus Furcht vor ihr nennen die Seeleute sie nicht einmal bei ihrem wahren Namen, sobald sie die Schiffsplanken betreten.«
Fidelma räumte ein, dass das auch auf die Fischer in ihrer Heimat zutraf. Viele verhüllende Namen wurden als Umschreibungen für die Mondgöttin gebraucht, zum Beispiel »Die Strahlende«, »Die Glanzvolle«, »Die Königin der Nacht« oder »Die prächtige Stute«. Es fröstelte sie, und sie schaute sich um. Ob Iarnbud sie insgeheim auslachte?
Eadulf war bemüht, seine gereizte Stimmung zu überspielen. »Was kümmert uns das heute! Fast alle haben jetzt den Neuen Glauben angenommen.«
»Der Neue Glaube ist nichts als ein Deckmantel, unter dem sich die Anhänglichkeit zum Althergebrachten verbirgt«, behauptete Iarnbud und sah Eadulf an. »Als deine sächsischen Horden auf der Insel Britannien landeten, hatten die Britannier sich längst zum Neuen Glauben bekehrt und haben euch anfänglich willkommen geheißen und wollten mit euch über Frieden reden, nach dem Glaubensgebot ›Du sollst nicht töten‹. Doch deine Leute haben ihren Schlachtengott Wodan angerufen, haben sie niedergemacht oder außer Landes getrieben.«
Eadulf biss die Zähne zusammen. »Bin ich verantwortlich für die Taten meiner Vorfahren?«, murmelte er. »Ich lebe hier und heute.«
»Und die sächsischen Königreiche bekehren sich jetzt alle zum Neuen Glauben«, unterstützte ihn Fidelma.
Iarnbud musste lachen. »O ja, von den Mönchen aus Hibernia wurden sie bekehrt. Hast du jemals erlebt, dass Britannier die Sachsen bekehren? Die Britannier sind da klüger. Eines Tages werdet ihr Hibernier das noch bereuen.«
Trifina räkelte sich träge und gähnte. »Ihr müsst mich bitte entschuldigen«, sagte sie und erhob sich. »Es wird spät, und ich muss mich zurückziehen.« Sie blickte in die Runde und entschwand.
Eadulf wartete, bis ihre Tritte auf den Stufen verhallt waren, und fragte dann Iarnbud: »Was hast du im Sinn mit deiner Äußerung, die Britannier wären klüger?«
»Als Gregor, der Bischof von Rom, den Benediktiner Augustinus nach Britannien entsandte, um die Angelsachsen zu bekehren – keine hundert Jahre ist das her –, hielt der es für angebracht, die Bischöfe der Britannier zu sich zu rufen. Augustinus war ein hochmütiger Kerl und glaubte, was die Sachsen ihm über die Britannier erzählten, nämlich, dass sie unzivilisierte Wilde seien. Er schlug sein Lager im Grenzgebiet der Britannier auf und holte die Bischöfe zu einer Unterredung zusammen. Als sie erschienen, blieb er sitzen, erhob sich nicht einmal, um seine Mitbrüder zu begrüßen, was der Brauch verlangt hätte. Er tadelte sie, weil sie noch keinen Versuch unternommen hätten, die Angeln und Sachsen zu bekehren, und ließ danach eine Strafpredigt los über ihre Sitten und Gebräuche und ihre Art, den Gottesdienst zu gestalten. Er verlangte, sie sollten ihn dabei unterstützen, die Sachsen zu bekehren, auch sollten sie seine Kirche im alten Hauptort der britannischen Cantii als ihr geistliches Zentrum anerkennen.«
Eadulf grübelte. »Die Cantii?«
»Ihr nennt die Stadt oder die Burgsiedlung der Cantii Canterbury. Augustinus war herrschsüchtig und ungebildet. Hatten die Britannier nicht bereits größere und ältere Zentren ihres Glaubens? Da waren das von Ninian gegründete große Candida Casa mit seiner reichen Bibliothek oder Dewis Abtei Menevia. Die britannischen Bischöfe ließen sich nicht einschüchtern und waren nicht bereit, sich diesem ungehobelten Emporkömmling aus Rom zu unterwerfen. Der verlor die Beherrschung und drohte ihnen an, die Sachsen würden über sie kommen und an den Britanniern dafür Rache nehmen, dass sie sich weigerten, sich seinen Bedingungen zu beugen. Augustinus begab sich zu seiner neu bekehrten sächsischen Gemeinde zurück, ernannte Ethelbert, den König von Kent, zum Bretwalda, zum Herrscher über alle Britannier.« Iarnbud hatte sich in Zorn geredet. »Daher flohen die Britannier weiterhin vor der Anmaßung der Sachsen und suchten sich neue Lande, in denen sie in Ruhe und Frieden leben konnten.«
Bleidbara stand unvermutet auf. »Verzeiht. Ich muss früh am Morgen an Bord meines Schiffes sein und da meinen Pflichten nachkommen.« Der Krieger wünschte allen »eine gute Nacht« und ging zu der Tür hinaus, die in den Küchenbereich führte.
Kaum war er fort, erhob sich auch Argantken und sagte aufgebracht etwas zu Macliau. Der junge Mann starrte kurz vor sich hin und hatte Mühe, seinen Blick auf das Mädchen zu richten. Für Fidelma war das ein Zeichen, dass er zu reichlich von dem Wein genossen hatte. Macliau entgegnete mit schwerer Zunge etwas. Sie gab ihm eine unverschämte Antwort und stampfte mit dem Fuß auf. Iarnbud zuckte nur die Achseln, doch Macliau wurde hochrot und beschimpfte sie wütend. Das Mädchen presste die Lippen zusammen und ging mit energischen Tritten durch den Saal und die Treppe hoch.
Macliau blickte die am Tisch Verbliebenen mit einem dümmlichen Grinsen an, das offensichtlich eine Entschuldigung andeuten sollte. Bruder Metellus tat, als sei ihm die Verstimmung nicht aufgefallen. »Wir haben alle unsere menschlichen Schwächen«, sagte er und lenkte zu dem eben geführten Gespräch zurück. »Augustinus war ein Fremdling in einem ihm fremden Land. Er war Mönch im Kloster auf dem Monte Celio in Rom gewesen. Vor seiner Mission unter den Angelsachsen hatte ihn der Papst zum Abt geweiht, doch über die Wesensart und die Geschichte der Britannier hatte man ihn falsch unterrichtet.«
»Entschuldigt Dummheit denn alles? Habt ihr Römer nicht sogar die Redensart ›ignorantia non excusat‹?«, stichelte Iarnbud.
Macliau lachte vergnügt und nickte zustimmend. »Gut pariert, Iarnbud. Immer wieder habe ich Spaß bei deinen Besuchen. An Streitfragen fehlt es dabei nie.«
Fidelma war aufmerksam geworden. »Demnach wohnst du nicht hier auf dem Burggelände, Iarnbud?«
Der bretat verneinte. »Mir ist es lieber, auf meinem kleinen Schiff zwischen den Inseln zu wohnen. Unter freiem Himmel zu leben, gefällt mir am besten.«
»Vor den Dieben und Mördern, die hier ihr Unwesen treiben, fürchtet du dich wohl nicht?«, fragte Eadulf.
Der Bleichgesichtige verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Ich und mich fürchten? Furcht habe ich nur davor, dass der Himmel einstürzt und mich zermalmt, das Meer sich erhebt und mich ertränkt oder die Erde sich auftut und mich verschlingt.«
Fidelma erkannte die uralte keltische Beschwörung, die besagte, man fürchte sich vor gar nichts. Sie schaute Eadulf an und hielt die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu verbergen. Er begriff sofort, erhob sich und verneigte sich knapp vor Macliau. »Wir haben einen sehr langen Tag gehabt und möchten uns mit deiner gütigen Erlaubnis zurückziehen.«
Sie gingen hinaus und ließen Macliau, Bruder Metellus und Iarnbud zurück, die sich weiter unterhielten.
Sobald sie in ihrem Gemach waren, machte Eadulf seinem Ärger Luft. »Ich jedenfalls habe Iarnbuds Beitrag zur Unterhaltung keineswegs als anregend empfunden, sondern als ziemlich verletzend«, begann er, doch Fidelma legte warnend einen Finger an die Lippen.
»Du kannst die Geschichte nicht ungeschehen machen, und du kannst die Leute nicht daran hindern, ihre Ansichten drüber zu äußern.«
»Und was hältst du von den albernen Geistergeschichten, denen zufolge Fischer in der Nacht die Seelen der Toten befördern?«
Fidelma verzog die Miene. »Mir scheint, dass Iarnbud, und wenn man es genau überlegt, auch Macliau und seine Schwester nicht wollen, das wir nachts seltsamen Lichtern an der Küste nachspüren. Ihre Gespenstergeschichte sollte uns abschrecken. Deshalb habe ich sie am Ende auch gelten lassen.«
»Du glaubst also nicht an solche Erscheinungen, wie sie Iarnbud geschildert hat?«
»Eigentlich müsstest du mich besser kennen«, rügte sie ihn. »Außerdem habe ich Prokopios gelesen.«
Eadulf runzelte die Stirn. »Prokopios?«
»Den byzantinischen Geschichtsschreiber, der in seiner Geschichte der Kriege Justinians auch über die Kriege mit den Goten berichtet hat. Es ist gerade hundert Jahre her, dass er diese Geschichte über die Verschiffung der Seelen aufgeschrieben hat als einen Volksglauben aus genau dieser Gegend in Gallien.«
»Nehmen wir an, die Geschichte wurde uns wirklich aufgetischt, um uns davon abzuhalten, herauszufinden, was sich unten am Ufer tut. Was gedenkst du nun zu unternehmen?« Eadulf war zum Fenster gegangen und betrachtete den Küstenbereich, in dem sie die Lichter gesehen hatten. Jetzt sah man dort keine Lichter und auch niemand, der sie hin und her trug. Lichtpünktchen von den entfernteren Inseln waren freilich erkennbar.
Das große Schiff hingegen war noch einigermaßen gut als dunkler Schatten, der in der Bucht lag, auszumachen.
»Jetzt ist es zu spät, aber wir sollten morgen an den Strand gehen, vielleicht können wir etwas entdecken. Vor allem möchte ich das Schiff genauer betrachten, möchte sehen, ob es schwarz ist und ob es eine Taube am Bug hat.«
»Ich bezweifele, dass wir etwas sehen werden«, entgegnete Eadulf und ging zurück zum Bett. »Sie sind doch gewarnt, nachdem sie erfahren haben, was uns zugestoßen ist, und haben Zeit fortzuschaffen, was wir nicht sehen sollen.«
»Aber warum überhaupt das ganze Theater? Sie könnten uns einfach mundtot machen. Der Piratenkapitän hatte nicht die geringsten Hemmungen, Bressal oder Murchad abzuschlachten.« Ein anderer Gedanke beschäftigte sie. »Ich versuche dahinterzukommen, was für eine Beziehung zwischen Macliau und Argantken besteht. Ihr geht doch jedes Benehmen und jegliches Feingefühl ab.«
»Nichts einfacher als das«, sagte Eadulf achselzuckend. »Sie ist seine Konkubine.«
Seine Schlussfolgerung wollte Fidelma nicht gleich einleuchten. »Würde der Sohn eines Gaugrafen seine Konkubine auf die Burg seines Vaters bringen? Sie weiß sich doch überhaupt nicht zu benehmen, hat keinerlei Anmut …«
»De gustibus et coloribus non est disputandum«, zitierte Eadulf. Über Geschmack und Farben lässt sich nicht streiten. Er wollte sich eben hinlegen, da hörten sie von unten Stimmengewirr. Zwei Personen stritten sich lautstark in der Sprache der Bretonen. Worum es ging, war nicht zu verstehen, doch die Stimmen kamen ihnen bekannt vor.
»Da hast du es«, frohlockte Eadulf. »Ich könnte wetten, Macliau und Argantken liegen sich in den Haaren.«
Fidelma schwang sich aus dem Bett, ging zum Fester und lauschte. Die Stimmen waren noch eine Weile zu vernehmen, dann war plötzlich Ruhe. Fidelma wandte sich um und versicherte ihm: »Die Wette würdest du verlieren.«.
»Warum? Wer könnte es sonst sein, wenn nicht die beiden?«
»Das war Trifina, und ich könnte schwören, die andere Stimme war die von Bleidbara.«
Eadulf schüttelte den Kopf. »Selbst wenn dem so ist, woher nimmst du die Gewissheit?«
»Ist dir aufgefallen, dass Bleidbara in Lady Trifina vernarrt ist, die ihn aber geflissentlich übersieht? Dabei macht ihm das Mädchen mit dem dunklen Haar, die uns bedient hat, ›Kuhaugen‹, er seinerseits aber tut so, als sei sie Luft für ihn.«
Der Ausdruck »Kuhaugen« war Eadulf nicht geläufig, dennoch verstand er die Bedeutung sofort.
»Worüber mögen die sich gestritten haben«, überlegte Fidelma, während sie die Bettdecke zurechtzog.
»Unerwiderte Liebe vielleicht? Manchmal willst du Dinge wissen, die uns nichts angehen«, stellte Eadulf fest und gähnte. »Wenn der junge Mann in Trifina verliebt ist, hat er möglicherweise dort unten die Gelegenheit nutzen wollen, ihr seine Liebe zu beteuern. Und wenn ihr das nicht behagte, dürfte sie ihn mit harschen Worten abgefertigt haben.«
Fidelma zog eine Flunsch. »Was heißt, Dinge wissen wollen, die uns nichts angehen? Manchmal verbirgt sich eben etwas dahinter. Jetzt bin ich wirklich müde. Reden wir morgen weiter.«