EPILOG
Unter vollen Segeln lehnte sich die Ringelgans in den Wind. Die Brise strich durch die Takelung und ließ die Rahen leise stöhnen. Vom auf und nieder gleitenden Bug breiteten sich Bänder schaumgekrönter Wellen aus und bildeten eine Schleppe hinter dem behäbigen großen Schiff. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder an Bord zu sein. Alles schien Fidelma und Eadulf vertraut und doch seltsam fremd. Anstelle von Murchad und Gurvan war nun Hoel am Ruder, ein hoch aufgeschossener, blonder Britannier. Breitbeinig stand er da, ging in leicht wiegender Bewegung mit dem schwankenden Deck mit und reckte das Kinn in den böigen Wind. Immer wieder wanderte sein Blick hoch zu den Segeln, nahm die leiseste Änderung der Windrichtung wahr, und entsprechend bewegte er die Ruderpinne.
Fidelma vertraute ihm voll und ganz; in seinen oftmals erprobten Händen würde die Heimreise sicher sein. Dass ihnen dennoch etwas fehlte, lag wohl daran, dass sie sich an Murchads Eigenheiten und an Gurvans geduldig knappe Erwiderungen gewöhnt hatten. Die beiden waren so sehr Teil des Schiffs geworden wie die geschnitzte Figur der Gans auf dem Bug oder die hohen Eichenmasten und Querstangen. Es war schwer vorstellbar, dass die Ringelgans fortan ohne sie segeln würde.
Sonst war aber alles wie vorher! Oder doch nicht? Wenbrit schien gesetzter, älter, war nicht mehr der sorglose Junge, der munter hin und her lief, um ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Er war … wie hieß doch das Wort, nach dem sie suchte? … reifer. Ja, das war es … reifer war er geworden. Selbst Luchtigern, der Herr der Mäuse, der schwarze Kater, der sonst selbstbewusst an Deck umherstolzierte, blieb lieber in den schattigen Ecken der Aufbauten, kam selten hervor ins Sonnenlicht. Und auch Hoel war ungewohnt schweigsam, ließ sich durch nichts von seiner Aufgabe als Kapitän ablenken.
Früher hatte sich die Mannschaft völlig ungezwungen gegeben. Jetzt wurde kaum über einen Witz gelacht, niemand leistete sich einen Scherz mit einem anderen, der immer gutmütig, wenn auch mit derben Worten, abgewehrt worden war. Bei allen hatte das Erlebnis seine Spuren hinterlassen.
Fidelma lehnte sich gegen die Heckreling und schaute ernst auf die Landzungen zurück, zwischen denen sich die gefährliche Durchfahrt zum Morbihan auftat. Neben ihr stand Eadulf, dem die Anstrengung der letzten Tage anzusehen war. Er schien ihre Gedanken zu erraten. »Ich wäre nicht traurig, wenn wir uns von der Inselwelt da hinten ein für alle Mal verabschiedet haben.«
»Bald die Küste von Mumhan wiederzuerblicken, wird herrlich sein«, stimmte sie ihm zu. »Und erst richtig daheim sind wir, wenn Cashel mit der Felsenburg vor uns aufragt und wir unseren kleinen Alchú in die Arme schließen können.« Sie machte eine Pause. »Und doch tut es mir leid, Brilhag zu verlassen. Auf Reisen zu gehen und andere Menschen zu treffen, bereichert das Leben. Hat man aber unterwegs Freundschaft geschlossen, stimmt einen der Abschied traurig, wenn die Zeit heran ist, weiterzureisen. Sich von neuen guten Freunden zu trennen, ist immer schmerzlich. Ich hoffe sehr, dass zwischen Trifina und Bleidbara alles wieder ins Lot kommt.«
»Davon bin ich überzeugt. Dass Bleidbara bei der Lage der Dinge misstrauisch werden musste, war ganz natürlich. Sie wird ihm verzeihen.«
»Wenn er sie ernsthaft liebt, hätte er ihr mehr Vertrauen schenken müssen.«
»So etwas zu beurteilen, ist schwer. Er ist ein Mann, der seine Pflichten sehr ernst nimmt. Und bei manchen steht die Pflicht höher als der Gehorsam gegenüber dem Herzen.«
Fidelma sah forschend zu ihm hinüber. War das als leiser Vorwurf zu verstehen?
»Bruder Metellus wird wohl am besten aus der Sache herauskommen«, fuhr er fort, ohne ihren Blick bemerkt zu haben. »Er dürfte zur Wahl als Abt der Gemeinschaft von St. Gildas anstehen. Eine Wendung in seinem Leben, die er bestimmt nie erwartet hätte.«
»Und etwas, das er vielleicht nie anstrebte. Aus Macliau könnte dieses Abenteuer einen gefestigten Mann machen.«
»Möglich wäre es schon.« Eadulf war sich da nicht so sicher. »Wenn ich es richtig verstanden habe, wollte er Brilhag verlassen und Dichtkunst und Musik studieren; das gäbe ihm reichlich Gelegenheit, sein leichtfertiges Leben fortzuführen.«
»Die Ereignisse und die Gefahr, in der er steckte, sind nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Mir hat er gesagt, es sei ihm ein Bedürfnis, seinen Lebenswandel gründlich zu ändern. Hoffentlich gelingt es ihm.«
Eadulf zog ein Gesicht. »Wie dem auch sei, ich für mein Teil kann gut auf ein paar unserer neuen Bekanntschaften verzichten. Ich weiß, ich weiß«, entgegnete er auf ihre fragende Miene. »Du siehst deine Lebensaufgabe darin, Übeltäter aufzuspüren und ihnen ihre Verbrechen nachzuweisen. Das bringt es mit sich, dass wir an Leute wie Iuna geraten … die Taube des Todes.« Unwillkürlich überkam ihn ein Schauder. »Wie kann eine junge Frau derart gewissenlos und kaltblütig sein?« Er schaute Fidelma argwöhnisch an. »Sag mal, als du die Vorgänge aufgerollt hast, in deren Mittelpunkt Budic und Riwanon standen, war dir da eigentlich bewusst, dass du nichts wirklich beweisen konntest? Du hast nur Schlussfolgerungen ziehen können aus gewissen Umständen und aus dem Verhalten einiger Leute.«
»In der Gesetzessammlung des Fénechus ist festgelegt, dass auch indirekte Beweise in der Anklage vor einem Brehon vorgebracht werden dürfen. Du legst deine Indizien dar, und wenn der Angeklagte durch Mimik oder Gestik verrät, dass er sich getroffen fühlt, er zu zittern anfängt, errötet, blass wird, kaum noch sprechen kann, weil es ihm die Kehle zuschnürt, oder er sich sonstwie auffällig gebärdet, dann erhärtet das deinen Verdacht.«
»Aber zwingender Beweis sind solche Anzeichen doch nicht. In Hibernia mag das gelten, aber was wäre gewesen, wenn Budic nicht seine Schuld gestanden hätte?«
Fidelma konnte nur milde lächeln. »Ich bin Anwältin und nutze die Mittel, die mir das Gesetz an die Hand gibt. Unter den gegebenen Umständen hat sich das Verfahren bewährt.« Sie runzelte die Stirn. »Ich habe immer gedacht, auch dir sei es Herzenssache, dem Gesetz zu dienen. Schließlich warst du in deinem Land ein gerefa, ein Friedensrichter, und musstest Recht sprechen unter deinen Leuten. Weißt du noch, unter welchen Umständen wir uns kennengelernt haben? Das war in der Abtei St. Hilda, und zu verdanken haben wir die Begegnung der Tatsache, dass du ein gerefa in deinem Reich warst und ich eine dálaigh in meinem.«
»Seit dein Landsmann Fursa mich zum Neuen Glauben bekehrt hat, bin ich kein gerefa mehr. Ich habe auf der Hohen Schule Tuam Brecain studiert und gehöre nun der Bruderschaft der Mönche an.«
Wieder fragte sich Fidelma, ob Eadulf insgeheim ihre Haltung beanstandete. Eigentlich gehörte ja auch sie einer religiösen Gemeinschaft an, betrachtete sich aber zuallererst als Anwältin in der Rechtsprechung ihres Landes. Freilich rang sie schon seit Jahren mit sich, ob sie nicht auf die äußeren Zeichen einer frommen Schwester verzichten sollte. Schwerfallen würde ihr das nicht, denn sie empfand keine innere Bindung zum Klosterleben. Sie entschied sich, auf Eadulfs Bemerkung nicht weiter einzugehen und den Faden ihres Gesprächs wieder aufzunehmen.
»Du darfst aber auch nicht vergessen, dass wir bei allen unseren Fahrten den Guten genauso wie den Schlechten begegnen. Wir erleben nicht nur die Schuldigen, sondern auch die Unschuldigen.«
»Mich beunruhigt, dass selbst aus dem Guten Böses erwachsen kann«, erwiderte Eadulf, suchte Halt an der Reling und blickte hinauf zu den Segeln, die sich über ihm bauschten.
»Wie meinst du das?«
»Ich denke zum Beispiel an den jungen Heraklius.«
»Heraklius? Warum gerade an den? Er ist ein ernsthafter junger Mann mit festen moralischen Grundsätzen.«
»Doch seine Erfindung – pyr thalassion nennt er sie, ›flüssiges Feuer‹ –, die ist das Böse.«
»Er hat mir erzählt, dass sein Vater es erfunden hat, Kallinikos von Konstantinopel. Er hätte sich die Bestandteile gemerkt und lediglich versucht, alles nachzubauen.«
»Wenn man eine Erfindung als ungeheuerlich und böse bezeichnen kann, dann ist es dieses flüssige Feuer«, beharrte Eadulf.
»Nicht die Erfindung ist das Böse, Eadulf, verderblich wird sie erst, wenn gewissenlose Menschen sich ihrer bemächtigen.«
»Nichts gegen deine philosophische Betrachtungsweise. Nur, wenn eine Sache erst gar nicht erfunden wird, können die Menschen sie nicht verderbenbringend verwenden. Ich will nicht so weit gehen und behaupten, das Böse kam in die Welt, als Menschen den ersten Stock zuspitzten und als Waffe benutzten. Aber der Einfall, Feuer auf ein Schiff zu schleudern … also …« Ihn schauderte. »Das ist doch wirklich die verderblichste Waffe, die sich vorstellen lässt.«
»Dabei ist sie keineswegs neu. Ich habe mich mit Heraklius lange darüber unterhalten. Seine Waffe zeigte ungeheure Wirkung, das ist richtig. Doch sein Landsmann Proklus Oneirokrites hat eine ganze Flotte in Brand gesteckt, als er seinem König Anastasius half, einen gegen ihn gerichteten Aufstand niederzuschlagen. Das war vor hundertfünfzig Jahren. Einige Chronisten berichten, er hätte die Kraft der Sonnenstrahlen genutzt, hätte sie mit Spiegeln auf den Feind gelenkt; andere schreiben, er hätte brennenden Schwefel gegen die Schiffe geschleudert.«
»Mir ist das griechische Feuer unheimlich … Schon der bloße Gedanke, welch gewaltige Zerstörung es bewirken kann, ängstigt mich. Wollen wir hoffen, dass die Kenntnis davon bei denjenigen bleibt, die Gutes wollen. Wenn es in die Hände von Verbrechern gerät …« Er schüttelte sich angstvoll.
»Verhindern lassen dürfte sich so etwas nur schwer«, befürchtete Fidelma. »Wenigstens stellt es bei uns in den fünf Königreichen kein Problem dar. Lassen wir lieber die ernsten Themen und genießen die Rückreise, die uns nach Aird Mhór bringt.«
»Wann wird es uns auf die nächste Reise treiben?«
Fidelma nahm seine Bemerkung nicht allzu ernst, hielt sie mehr für nur so dahingesagt. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ich hoffe, wir werden eine ganze Weile zu Hause bleiben. Wir sind diesmal wirklich lange unterwegs gewesen. Ich fürchte, wir werden unseren kleinen Alchú kaum wiedererkennen.«
»Mich bedrückt mehr die Frage, ob er uns noch erkennen wird«, bemerkte Eadulf mit bitterem Unterton.
Sie verzog schmerzlich das Gesicht. Eadulf hatte recht, ihr war das durchaus bewusst, und es tat weh. Stets hatte sie ihre Berufung als Anwältin der Rechtsprechung über alle anderen Belange gestellt. Seit sie die Rechtsschule von Brehon Morann verlassen und sich in die weite Welt begeben hatte, war das immer so gewesen. Ihr Vetter, Abt Laisran, hatte ihr nahegelegt, in die Abtei Cill Dara einzutreten. Fast alle, die einen der gehobenen Berufe ausüben wollten, schlossen sich klösterlichen Gemeinschaften an. Denn nur so erlangten sie die nötige Sicherheit und Anerkennung, um als Ärzte, Anwälte oder Chronisten zu wirken. Wenn sie in einzelnen Fällen die Wahl hatte, wem sie dienen sollte, dem Kloster oder der Rechtsprechung, hatte sie sich stets für Recht und Gesetz entschieden. Im Inneren ihres Herzens war sie keine dem Glauben ergebene Nonne. Einige Grundsätze des Glaubens, die sie bedingungslos befolgen sollte, schienen ihr sogar fragwürdig.
War es jetzt an der Zeit, den Widerstreit zwischen ihren Neigungen und den sich selbst auferlegten Pflichten zu beenden? In ihrem Volk gab es sehr wohl eine Schicht rein weltlicher Gelehrter. Sie wurde das Gefühl nicht los, ihr Vetter Laisran hätte sie schlecht beraten. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass sie ihr Leben auch ohne den Schutz einer religiösen Gemeinschaft einrichten konnte. Die neuen Ideen, die von Rom kamen und denen zufolge sich alle den dort festgelegten Regeln zu beugen hatten, empfanden die meisten als nicht vereinbar mit ihrer bisherigen Lebensauffassung. Auch sie wollte einem auf solche Art vorgegebenen Pfad nicht länger folgen. War es zu spät, sich vom Kloster zu trennen?
»Du bist wohl ganz und gar in Gedanken versunken«, hörte sie Eadulf sagen, der sie aus ihren Tagträumereien weckte.
»Ich habe über das nachgedacht, was du vorhin gesagt hast.«
»Ich möchte nur, dass unser Sohn nicht fern von seinen Eltern aufwächst.«
»Auch ich möchte nichts sehnlicher als das.« Fidelma wurde rot. Sie stand vor der Frage, was ihr wirkliches Lebensziel war. Den Gesetzen ihres Landes Geltung zu verschaffen, bereitete ihr die größte Befriedigung. Im Vergleich dazu empfand sie ein Leben in klösterlicher Zurückgezogenheit und Hingabe als weniger erstrebenswert.
»Wenn wir wieder in Cashel sind, sollten wir uns in aller Ruhe über unsere Zukunft unterhalten«, schlug Eadulf vor.
Dass sie so rasch darauf einging, verwunderte ihn ein wenig. Nachdenklich schaute er sie an. »Wir sind lange genug und weit herumgereist. Das mag nun reichen. Wir sollten irgendwo sesshaft werden und besinnlicher leben. Vielleicht wäre die kleine gemischte Gemeinde in der Abtei des heiligen Ruan, nördlich von Cashel, ein geeigneter Zufluchtsort für uns. Wie heißt die Gegend dort? Der Eichenhain von …«
Er gab es auf, denn er merkte, dass sie ihm nicht mehr zuhörte. Ihr Blick schien in die Ferne gerichtet auf die im Dunst verschwimmenden Wogen der grauen See vor ihr. Noch ahnte er nicht, dass Fidelmas Gedanken sich in eine völlig andere Richtung bewegten.
Ihr war nicht danach zumute, sich in eine gemischte klösterliche Gemeinschaft von Männern und Frauen einzufügen und sich in die Wunder des Glaubens zu versenken. Vielmehr dachte sie daran, sich ganz von der Abtei zu lösen und endlich die Rolle zu übernehmen, die sie längst, wenn auch ohne öffentliche Billigung, ausfüllte, nämlich das Amt der Rechtsberaterin ihres Bruders Colgú, des Königs von Cashel.
Je länger sie dieser Vorstellung nachhing, je mehr gefiel sie ihr. Ja, das wäre die Erfüllung eines langgehegten Wunsches.
Sie sah Eadulf an. Sie spürte, er erwartete eine Antwort, und schuldbewusst senkte sie den Kopf. Schon wollte sie ihn ins Vertrauen ziehen, ihm erzählen, was sie bewegte, zögerte aber. Lieber wollte sie damit warten, bis sie in Cashel waren und sie die schwierige Entscheidung mit ihrem Bruder erörtert hatte. Eadulf jetzt mit solchen Gedanken zu belasten, schien ihr nicht angebracht. Daheim in Cashel würde sich alles richten.