Sechs

Umringt von einer Schar junger Erwachsener und Kinder, saß Athelstan im Mittelschiff seiner Kirche. Es war ein Werktag; die Eltern waren zur Morgenmesse gekommen und gingen jetzt ihren Alltagspflichten nach. Athelstans Schule, wie Cranston es scherzhaft nannte, kam zweimal in der Woche vormittags für zwei Stunden zusammen; der Ordensbruder versuchte, der Jugend Lesen und Schreiben sowie die Grundlagen der Arithmetik und der Geometrie beizubringen. Natürlich bekamen sie auch Unterricht in ihrem Glauben, und Athelstan war überrascht, wie gewitzt und eifrig sich manche seiner Schüler zeigten.

Er schaute in die Runde, und sein Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen, als er die schmalen, schmutzigen Gesichter sah, die geflickten Kleider und die zerfetzten Sandalen. Sie saßen im Kreis, auch Bonaventura fehlte nicht, und Athelstan versuchte ihnen zu erklären, daß Gott überall sei.

Hin und wieder warf er einen verstohlenen Blick auf Pikes Sohn Thomas, der so dicht neben Watkins schöner Töchter Petronella saß, wie es nur ging. Athelstan betrachtete das rabenschwarze Haar des Mädchens, die glatte weiße Haut und die seegrünen Augen. Wie hatten Watkin und seine füllige Frau nur ein so schönes Kind hervorbringen können? Thomas war so sehr verliebt in sie, daß er Athelstan kaum eines Blickes würdigte.

»Weiter, Pater!« rief Crim.

»Natürlich.« Athelstan rieb sich die Augen. Die Mühen des vergangenen Tages hatten ihn müde gemacht. »Natürlich ist Gott überall; Er sieht alles und hört alles.«

»Ist er auch in meiner Hand?« fragte Crim.

»Natürlich.«

Crim schlug die Hände zusammen. »Dann sitzt er fest. Ich habe ihn!«

»Nein, nein«, erklärte Athelstan lachend. »So ist das nicht, Crim.«

»Aber Ihr habt gesagt, er ist überall.«

»Crim.« Athelstan lehnte sich zurück und verzog schmerzlich das Gesicht, als sein Knie knackte. »Gott ist wie die Luft, die wir atmen. Er ist in uns, ist ein Teil von uns, und zugleich ist er außerhalb von uns. Wie die Luft: Du atmest sie ein, und sie ist gleichzeitig in deiner Hand.«

Mugwort, der Glöckner, kam in die Kirche gestürmt, und Athelstan verzog das Gesicht, als der kleine, koboldhafte Mann in der Turmnische verschwand und wie ein Dämon am Glockenseil zu zerren anfing, um den mittäglichen Angelus zu läuten. Athelstan sprach das Gebet, erhob sich und klopfte seine Kutte ab.

»Ihr könnt jetzt spielen gehen. Crim, nicht aus dem Weihwasserbecken trinken. John und James!« Er schaute die beiden Kesselflickersöhne mit gespielter Strenge an; die beiden glichen sich wie ein Ei dem anderen mit ihren schmutzigen Gesichtern und dem fettigen Borstenhaar. »Der Taufbrunnen ist keine Burg. Ihr könnt draußen auf der Treppe spielen, aber nicht in der Kirche. Petronella und Thomas, bleibt bitte noch einen Augenblick hier.«

Die übrigen Kinder grinsten hinter vorgehaltenen Händen, und unter viel »Oooh« und »Aaah« trieb Athelstan sie zur Kirche hinaus. Daß die beiden ein Liebespaar waren, war in der Pfarrgemeinde wohlbekannt - das heißt, nur ihre Eltern wußten nichts.

»Pater?«

»Ja, was gibt's?« Athelstan schaute in das angestrengte, bleiche kleine Gesicht, das ihn unter der geteerten Spitzkappe hervor anspähte. »Was gibt's, Roland?«

Der kleine Junge flüsterte etwas, und Athelstan mußte sich niederhocken, um besser zu hören. Der Sohn des Rattenfängers Ranulf ließ ausrichten, daß sein Vater sich dringend mit ihm treffen wolle.

»Ja, ja«, sagte er dann und richtete sich auf. »Sag deinem Vater, wir sprechen uns morgen.«

Er biß sich auf die Unterlippe, um sein Lächeln zu verbergen. Der Kleine war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten; beide hatten die gleichen Gesichtszüge wie die Nager, denen sie nachstellten. Der Junge rannte davon, den übrigen nach, und Athelstan ging durch das Kirchenschiff zurück zu den beiden jungen Turteltauben, die vor dem Lettner saßen.

»Pater.« Thomas stand auf. »Ihr müßt bald mit unseren Eltern sprechen.«

»Warum?« Nervös schaute Athelstan das Mädchen an. »Ist etwas passiert?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

»Pater«, sagte sie flehend, »wir sind gekommen und haben Euch unser Geheimnis verraten. Ihr habt ins Buch des Blutes geschaut und festgestellt, daß keine Verwandtschaft zwischen uns besteht, außer, daß Thomas' Ururgroßonkel mit einer Verwandten meiner Großmutter verheiratet war.« Das Mädchen zählte die Punkte an den Fingern ab. »Wir sind bereit, uns unterrichten zu lassen. Thomas hat eine gute Stellung beim Hafenmeister in Dowgate, und ich kann sehr gut sticken. Pater, ich war es, die diese Altartücher gemacht hat. Warum also kann nicht das Aufgebot bestellt werden?«

Athelstan hob die Hand. »Gut. Ich werde am kommenden Sonntag nach der Messe mit euren Eltern sprechen. Vielleicht kommen sie alle auf einen Becher Wein zu mir nach Hause, um die gute Nachricht zu feiern?«

Das starre Lächeln blieb auf seinem Gesicht, als die beiden Verliebten vor Freude aufsprangen und Hand in Hand durch das Kirchenschiff liefen.

»Oh Gott!« flüsterte er. »Nur noch fünf Tage Zeit, bis Sonntag der Bürgerkrieg ausbricht.«

»Ich sollte wohl besser auch dasein.«

Athelstan lächelte. »Benedicta«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Wie lange bist du schon hier?«

»Lange genug, um zu hören, wie Ihr mit Euch selbst sprecht, Pater.«

Athelstan drehte sich um und ging durch die Kirche auf die Witwe zu, die dastand, eine Hand an eine Säule gelehnt. Sie sah elegant und schön aus wie immer. Das glatte, olivfarbene Gesicht, von einer sahnegelben Haube umrahmt, diese Augen, die spöttisch, heiter, tränenfeucht, großzügig, traurig und seelenvoll blicken konnten, und diese Lippen… Athelstan schob die Hände in die Ärmel seiner Kutte, kniff sich in den Arm und dachte an die Worte der Schrift: »Und wenn du ein Weib nur begehrst mit den Augen des Herzens …«

»Benedicta, was führt dich her?«

Sie lächelte schalkhaft. »Wie geht's mit dem Backen für das Herbstfest voran?«

»Das ist meine kleinste Sorge«, antwortete Athelstan bedrückt.

Er erzählte von seinem Besuch im Rathaus am Tag zuvor und unterbrach sich nur, als Benedicta bei der Beschreibung Cranstons und seiner beiden Wolfshunde zu lachen anfing. Als er von den Mordtaten sprach, wurde ihr Gesicht ernst.

»Ihr solltet auf der Hut sein, Pater«, murmelte sie. »Der Tratsch breitet sich in Southwark aus wie Feuer auf einem trockenen Stoppelfeld. Man redet von einer großen Revolte, von Angriffen auf Steuereintreiber, und Pike, der Grabenbauer, führt auch wieder was im Schilde.«

»Sagt dir der Name Ira Dei etwas, Benedicta?«

»Ich habe gehört, daß man ihn sich zuraunt, und auch von der Großen Gemeinschaft des Reiches wird getuschelt. Pike, der Grabenbauer, weiß Bescheid.« Sie lächelte verschmitzt. »Zumindest behauptet er das. Aber Pike hat mehr Bier als Bosheit im Leib.«

»Ich hatte Cranston erwartet«, sagte Athelstan und schaute zur Tür. »Einer seiner alten Kameraden ist ermordet worden, und die Stadtväter verlangen nicht nur ihre Mordfälle aufgeklärt zu sehen und ihr Gold zurückzubekommen, sie wollen auch wissen, warum den Verrätern, die auf der London Bridge aufgespießt stehen, Gliedmaßen abgeschnitten und gestohlen werden.«       

»Das ist ein schweres Paket Sorgen«, sagte Benedicta. »Aber, Pater, ich muß diese Bürde noch vergrößern.«

»Wieso?« fragte er scharf.

»Gestern abend kam eine Frau in die Kirche.« Benedicta machte schmale Augen und versuchte, sich an den Namen zu erinnern. »Eleanor Hobden, so hieß sie.«

Athelstans Herz wurde schwer.

»Sie behauptet, ihre Tochter sei besessen«, fuhr Benedicta fort. »Sie sagt, sie will Euch heute nach der Vesper zu sich nach Hause holen. Was bedeutet das, Pater?«

Athelstans dunkle Augen schauten betrübt, aber sie widerstand dem Drang, seine Hand zu nehmen oder seine Wange zu streicheln.

»Sorgen«, murmelte der Priester. »Benedicta, wenn ich heute abend dort hingehe, willst du mitkommen?«

»Habt Ihr Angst?« fragte sie halb scherzend.

»Nein, nein. Aber ich werde auch Sir John bitten, mich zu begleiten. In solchen Fällen kann das Salz des gesunden Menschenverstandes oft mehr nützen als der Segen eines Pfaffen.«

»Hab' ich dich endlich erwischt, Mönch!«

Athelstan und Benedicta fuhren erschrocken herum. Cranston stand barhäuptig und breitbeinig in der Kirchentür und strahlte sie an.

»Oh Gott«, flüsterte Athelstan, »er war wieder an seinem wunderbaren Weinschlauch.«

»Hab' ich dich endlich erwischt!« dröhnte Cranston noch einmal und kam auf sie zu. Dann blieb er stehen und spähte umher. »Wo ist der verfluchte Kater?«

»Auf der Jagd.«

»Gut.« Cranston kam herbei, schlang einen Bärenarm um Benedicta und drückte ihr einen schmatzenden Kuß auf die Wange. »Reizendes Mädchen«, flüsterte er. Dann grinste er Athelstan an. »Sie wird jemandem ein reizendes Weib sein.«

»Sir John Cranston!« rief Benedicta in gespieltem Zorn.

»Halt den Schnabel, Weib!« neckte er. »Bruder, du mußt mitkommen.«

»Oh nein, Sir John - wohin?«

»Nach Billingsgate, Botolph Wharf. Gerade ist Sturmeys Leiche aus dem Fluß gefischt worden - mit einem Messer tief in der Brust, ganz ähnlich dem, das bei Mountjoy benutzt wurde. Anscheinend ist er gestern nachmittag verschwunden.«

»Was wollte er in Billingsgate?«

»Weiß der Himmel!« Cranston schmatzte und schaute sich bewundernd in der Kirche um. »Allmählich sieht es hier aus wie in einem Gotteshaus, und nicht mehr wie in einer Scheune.«

Athelstan zwinkerte Benedicta zu, drehte sich um und führte Sir John zur Tür. »Wie geht es Gog und Magog?«

»Die fressen, als käme morgen das Ende der Welt.«

Cranston blieb stehen, warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Boscombe ist sein Gewicht in Gold wert, aber auch er kann mir nichts weiter über Mountjoys Tod sagen. Was er mir indessen erzählt hat« - Cranston lachte wieder -, »ist, daß Gog und Magog den armen Leif einen Baum hinaufgejagt haben. Der dumme Trottel wollte stundenlang nicht wieder herunterkommen.«

Sein Gesicht wurde ernst. »Gaunt und die Gildeherren haben mich heute morgen zum Bericht befohlen. Sie haben mich daran erinnert, daß ich nur zehn Tage Zeit habe, um das Gold zu finden und den Mörder zu fangen.«

»Bestehen sie darauf?«

»Ja. Lord Clifford soll ebenfalls herausfinden, was er kann.«

»Sonst…?« fragte Athelstan neugierig.

»Was meinst du damit, Mönch?«

»Ich meine, was passiert, wenn die zehn Tage um sind?«

»Gaunt verliert seine Verbündeten, sein Gold und seine Macht.«

Cranston blieb stehen und betrachtete den Taufbrunnen. Er studierte die Steinmetzarbeiten, die den Rand schmückten. Johannes der Täufer stand bis zu den Hüften in einem Jordan, der den Coroner eher an die Themse erinnerte als an einen Fluß in Palästina. »Diese Gildeherren… Lady, ich bitte um Vergebung« - und er neigte auch den Kopf in Richtung Tabernakel -, »aber sie sind mordgierige Gauner! Wadenbeißer, Bauernfanger, Hunde mit steinernen Herzen und Eselsköpfen!« Er atmete aus. »Wie große Aspikklumpen saßen sie da: der glubschäugige Goodman, der glatzköpfige Marshall, der Stutzer Denny und Sudbury mit einem Gesicht, das ein Schwein in Verzweiflung stürzen würde. Was mich wütend macht, Mönch …«

»Ordensbruder, Sir John!«

»Wie gesagt, Mönch: Was mich wütend macht, ist die Tatsache, daß einer dieser Mistkerle ein Mörder ist, vielleicht sogar mehrere. Ich weiß es. Es muß so sein!«

Cranston hätte seine Litanei von Flüchen fortgesetzt, aber Athelstan führte ihn hinaus auf die sonnenüberflutete Treppe von St. Erconwald. Er schloß die Kirchentür und auch seine Haustür, packte seine Satteltasche und den Beutel mit seinem Schreibzeug und ging in den Stall, um Philomel zu holen. Cranston nahm noch zwei tiefe Züge aus seinem Weinschlauch, vergaß die »pockenkranken Gildemeister« und wandte sich wieder seinen ewigen Späßen mit Benedicta zu.

Endlich gelang es Athelstan, den widerstrebenden Philomel zu satteln. Er hängte seine Tasche ans Sattelhorn und stieg vorsichtig auf.

Sir John holte sein eigenes Pferd, das auf dem Friedhof graste, und schwang sich mit solcher Wucht in den Sattel, daß Athelstan schmerzlich zusammenfuhr. Kein Wunder, dachte er, daß Crim den Coroner nur den »Pferdezermalmer« nannte. Athelstan trieb Philomel an; er war nicht der beste Reiter und wäre beinahe gegen Sir John geprallt. Der Ordensbruder funkelte die grinsende Benedicta wütend an und warf ihr die Schlüssel zur Kirche und seinem Haus zu.

»Wirst du alles im Auge behalten, Lady?«

Benedicta biß sich auf die Lippe, um nicht zu lachen, und nickte.

»Und zur Vesper kommst du wieder her?«

Wieder nickte sie.

Philomel setzte sich in Gang; gefolgt von Cranston warf Athelstan Benedicta eine Kußhand zu. Dann verließen beide den Kirchhof und ritten zur London Bridge hinunter.

»Was gibt's denn zur Vesper?« fragte Cranston unvermittelt.

»Da treffen wir den Teufel, Sir John. Ihr, ich und Benedicta.«

Cranstons Rülpser klang wie ein Fanfarenstoß. »Verflucht, was soll das heißen, Mönch?«

»Abwarten.«

Jedes weitere Gespräch erwies sich als unmöglich. Es war Markttag, und die Straßen von Southwark waren voller Menschen; Athelstan mußte immer wieder Pfarrkindern zuwinken.

»Grüß Euch, Mylord Coroner!« blökten Pike, der Grabenbauer, und Tab, der Kesselflicker, die mit Alekrügen in den Händen vor einer Schenke hockten.

»Haut bloß ab!« brüllte Cranston zurück; ihr spöttischer Ton entging ihm nicht.

Sie kamen an der Taverne zum Gescheckten vorbei. Cranston warf sehnsüchtige Blicke durch die dunkle Tür und schloß die Augen, als er den Duft der würzigen Pasteten schnupperte, die dort gebacken wurden. Aber Athelstan weigerte sich anzuhalten. Schließlich mußten sie doch absteigen, um durch das Gedränge um einen Ausrufer zu gelangen, der die Neuigkeiten des Tages bekanntmachte.

»Die Franzosen sind in Rye gelandet und haben die Kirche niedergebrannt! Der Lord Sheriff ist tot, in seinem eigenen Garten ins Herz gestochen, genau wie Sir Thomas Fitzroy tot ist und verwest wie viele der Fische, die er einst verkaufte! Eine Hexe ward gesehen, wie sie flog über St. Paul, und ein Knabe mit zwei Köpfen geboren in einem Haus bei Clerkenwell!«

Immer weiter sang der Ausrufer und rezitierte, was er erfahren hatte, eine Mischung aus Halbwahrheiten und Lügen. Athelstan und Cranston zogen weiter. Bei der Brücke machten die Gemüsehändler gute Geschäfte; den Blick starr auf die Ware gerichtet, gingen die Leute vorbei und runzelten nachdenklich die Stirn. Auf den Ständen türmten sich die verschiedensten Gemüse und Früchte: dunkelrote Liebesäpfel, Bündel von weiß glänzendem Lauch, Sellerie mit rosigen Strünken und hellgrünen Spitzen, die weißen Knollen der Pastinaken und Kastanien in sattbrauner Schale. Die Händler brüllten: »St.-Thomas-Zwiebeln!« und »Lauch, ganz frisch aus dem Garten!« Träger drängten sich mit zusammengebissenen Zähnen durch das Gedränge; ihre Wämse waren durchgeschwitzt, und unter überquellenden Kiepen halb gebückt kämpften sie sich voran. Ein Vogelhändler, dessen Stiefel rot vom Staub des Ziegelfeldes waren, stand neben einem Stapel von Käfigen und bot Hänflinge, Dompfaffen, Goldfinken und sogar Nester mit Eiern feil. Ein kleines Mädchen in schwarzen Lumpen verkaufte Brunnenkresse aus einem kleinen Faß. Sie sah so jämmerlich aus, daß Athelstan für zwei Pence bei ihr kaufte; Philomel mampfte die Kresse im Handumdrehen weg.

Cranston und Athelstan bahnten sich ihren Weg durch das Treiben, vorbei an Ständen mit Käsekuchen, Kämmen, alten Hüten und Schweinsfüßen; ein Klingenhändler, der Beile schärfte, beschimpfte einen Marktbeamten, der bei ihm Steuern kassieren wollte. Vor einer Schenke saß das Marktgericht und regelte den Betrieb des Marktes - oder versuchte es wenigstens. Die Luft war schwer vom Qualm und Gestank der Gerberei und der dichtgedrängten, schwitzenden Menschenleiber.

»Bei den Zähnen der Hölle!« schnaufte Cranston. »Das ist des Teufels Küche!«

Sie mußten einen Augenblick haltmachen, weil eine Schar verdrossener Büttel versuchte, eine Legion von Katzen und streunenden Hunden zu vertreiben, die sich um einen Marktstand versammelt hatten, wo Innereien feilgeboten wurden. Ab und zu warf die alte Frau hinter dem Stand faulige, schmutzige Fleischbrocken weg, was den Appetit der Streuner nur noch mehr anregte und der alten Vettel die Verwünschungen und Flüche ihrer Händlerkollegen eintrug. Athelstan führte Philomel am Zügel durch das Getriebe und lächelte Cecily zu, die auf den Stufen vor dem Marktkreuz saß und ernst auf einen jungen Laffen in liederlicher Kleidung und fleckiger Hose einredete. Sie winkte Athelstan zu und bedachte Cranston mit einem verführerischen Gurren; dieser wandte sich grunzend ab. Plötzlich schoß der Arm des Coroners vor und packte einen zerlumpten, kahlköpfigen kleinen Mann, der sich mit einem Schoßhund im Arm durch die Menge drückte. Während Philomel Athelstan um mehr Brunnenkresse anbettelte, sah der Ordensbruder erstaunt, wie der kräftige Coroner den kleinen Mann am Schlafittchen packte und samt Schoßhund in die Höhe hob.

»Ja, ja, wenn das nicht der alte Peterkin ist!« Cranston schüttelte den frettchengesichtigen Bettler. »Peterkin, der alte Hundefänger. Du rotznasiger kleiner Mistkerl! Was treibst du hier?«

»Gar nichts, Sir John. Ich habe diesen Hund gefunden und suche seinen Besitzer.«

Cranston schrie nach einem Büttel, und der triefäugige Beamte kam hastig heran.       

»Ich bin Sir John Cranston, der Coroner. Und das hier« - er schob dem Büttel Peterkin und den Schoßhund in die Arme - »ist ein kleiner Scheißer, der durch die Stadt schleicht, einer Lady den Schoßhund klaut und ihn dann gegen Belohnung zurückbringt. Kümmere dich um ihn!«

Cranston ließ den Büttel und Peterkin ohne ein weiteres Wort stehen und zwinkerte Athelstan zu; sie bogen um die Ecke und zogen die Hauptstraße zur London Bridge hinunter.

Stock und Pranger zu beiden Seiten der Straße waren voll von Missetätern, Nachtschwärmern, Taschendieben und allerlei Lumpenkerlen aus Southwark. Manche ließen die Demütigungen und den Schmutz, mit dem die Vorübergehenden sie bewarfen, stoisch über sich ergehen, als wäre es ein Berufsrisiko; andere heulten und jammerten um Wasser. Athelstan musterte rasch die Gesichter und sah zu seiner Erleichterung, daß keines seiner Gemeindekinder dabei war.

Am Zugang zur Brücke blieb Cranston stehen und hämmerte gegen die mit Eisennägeln beschlagene Tür des Törhauses. Als niemand kam, trat der Coroner, ohne auf Athelstans Fragen einzugehen, gegen die Tür und brüllte: »Komm schon, Burdon, du kleiner Dreckskerl! Wo steckst du?«

Jetzt wurde die Tür aufgerissen, und eine kleine Kreatur mit behaartem Gesicht erschien, ein wahrer Wichtel. Athelstan lächelte Robert Burdon an, den Vater von mindestens dreizehn Kindern und Konstabler des Torturms.

»Ach, Ihr seid's, Cranston. Was wollt Ihr?«

»Kann ich hereinkommen?« fragte Sir John.

»Nein, verdammt, das könnt Ihr nicht! Ich bin beschäftigt.«

Cranston spähte zu den Stangen über dem Torhaus mit ihrer grausigen Zierde: Dort steckten die abgeschlagenen Köpfe von Verrätern und Verbrechern.

»Gut«, sagte Cranston leise. »Aber wer stiehlt die Schädel?«

»Zum Teufel, das weiß ich nicht!« erwiderte Burdon und schob die Daumen hinter seinen Gürtel; seine kleinen dunklen Augen funkelten Athelstan an. »Was soll ich machen, Pater? Mein Auftrag ist sehr einfach: Ich soll das Torhaus bewachen und die Köpfe auf die Stangen spießen, und ich kümmere mich immer um sie. Aber wenn eine abscheuliche Viper kommt und sie stiehlt - was kann ich da machen?« Er plusterte seinen kleinen Brustkasten auf, so daß er Athelstan noch mehr an ein Sperlingshähnchen erinnerte. »Ich bin Konstabier, kein Wachsoldat.«

»Robert!« Die Frauenstimme, die von drinnen kam, klang sanft und verlockend.

»Meine Frau«, erklärte Burdon. »Sie wird Euch das gleiche sagen. Ich weiß nicht, was passiert ist, Sir John. Ich gehe ins Bett, die Köpfe sind da. Ich wache auf, und die Köpfe sind weg, obwohl jemand aufpaßt.« Er beugte sich vor. »Ich glaube, das sind die Hexen«, raunte er. »Die durch die Nacht reiten.«

»Blödsinn!« donnerte Cranston.

»Na gut, das ist die einzige verdammte Antwort, die Ihr von mir kriegt. Also macht Euch fort!« Burdon verschwand und schlug die Tür hinter sich zu.

Cranston schüttelte den Kopf und nahm einen großzügigen Schluck aus seinem Weinschlauch.

»Komm, Bruder.«

»Was glaubt Ihr, wer die Köpfe stiehlt?« fragte Athelstan, schlang sich Philomels Zügel um das Handgelenk und ritt neben Cranston her.

»Weiß der Himmel, Bruder. In dieser Stadt tummeln sich alle Dämonen der Hölle. Es könnte ein Zauberer sein oder eine Hexe. Die Gilden waren besonders wütend über das Verschwinden eines Schädels dieses französischen Kaperkapitäns, Jacques Larue du erinnerst dich, der vor Gravesend aufgebracht wurde. Rätsel über Rätsel.« Cranston seufzte und blieb vor der Kapelle des Hl. Thomas stehen, die mitten auf der Brücke thronte.

»Vergiß den Schädeldieb«, knurrte er. »Wen kümmert das schon? Burdon nicht, und die Wachen der Gilden sind halb hinüber vom Saufen.« Er deutete mit dem Kopf auf die eisenbeschlagene Kapellentür. »Vor Jahren, als ich noch rank und schlank war, ein wahrer Greyhound, da kamen Oliver Ingham und ich hierher, um unsere Gelübde als Ritter abzulegen und unsere Schwerter dem Dienst am König zu weihen. So viele Jahre ist das her.« Tränen brannten in Sir Johns Augen. »Jetzt bin ich fett und alt, und ein hartherziges Weib aus der Hölle läßt Oliver ermordet und stinkend in seinem Bett liegen, wo die Ratten an seiner Leiche nagen. Sie hat ihn umgebracht! Du weißt es, Athelstan. Ich weiß es. Sie weiß es.«

»Und Gott weiß es auch«, fügte Athelstan sanft hinzu. »Kommt, Sir John, laßt die Sache ruhen.«

Sie überquerten die Brücke und wandten sich nach rechts, nach Billingsgate, wo der Fischmarkt in vollem Gange war. Das Geschrei und der Aufruhr, den Händler und Käufer veranstalteten, summte in ihren Ohren wie ein Hornissennest. Der ganze Kai schien von Schubkarren bedeckt zu sein, manche mit Körben, andere mit Säcken beladen. Die verworrene Takelage der Fischerboote am Flußufer erinnerte Athelstan an Seehäfen. Der Geruch von Fischen und Muscheln, von Heringen, Sprotten und Kabeljau war überwältigend.

»Feiner Kabeljau, der beste auf dem Markt!« schrie ein Standbesitzer ihnen entgegen. »Wunderschöne Hummer, gut und billig! Herrliche Krebse, alle lebendig!« rief ein anderer.

Cranston und Athelstan führten ihre Pferde vorbei an Ständen, auf denen Steinbutt mit perlmuttweißem Bauch neben scharlachroten Hummern schimmerte. Braune Körbe voll wimmelnder Aale standen um dampfende Kessel herum, wo Muscheln in Schalen lebendig gekocht wurden.

»Wo gehen wir hin?« fragte Athelstan leise.

Cranston deutete auf eine große Schenke, die schön für sich am anderen Ende des Marktes stand.

»Zum ›Narrenschiff‹«, erklärte er.

Athelstan stöhnte. »Oh, Sir John, Ihr habt genug Rotwein getrunken.«

»Scheiß darauf!« schrie Cranston durch den Lärm.

»Wir sind hier, um den Menschenfischer zu treffen.« Aber weiter wollte er nichts sagen.

Im Hof der Taverne nahm ein Stallknecht ihnen die Pferde ab, und sie betraten den großen Schankraum, in dem es nach Bier, Ale und Pökelfleisch stank.

»Euer Diener.« Ein krummbeiniger Kneipenwirt berührte die Locke auf seiner Stirn, und seine kleinen gierigen Augen blickten unverwandt auf die schwere Börse an Sir Johns Gürtel.

»Einen Becher Roten für mich, und ein wenig…«

»Ale«, half Athelstan.

»Ein wenig Ale für meinen Schreiber, und noch einen Becher Roten für den Menschenfischer. Ich bin Sir John Cranston, der Coroner, und wünsche ihn zu sprechen.«

Der Wirt wurde noch unterwürfiger. Er geleitete Cranston und Athelstan großartig wie zwei Fürsten zu einem kleinen Alkoven mit einem Tisch unter dem Fenster, das einen Blick über den Fluß gewährte. Er holte zwei große Becher Wein und einen Humpen Ale und versicherte Sir John wortreich, daß er bereits einen Jungen losgeschickt habe, der den Menschenfischer holen solle.

»Wer ist das?« fragte Athelstan.

»Der Menschenfischer«, antwortete Cranston und trank einen Schluck aus seinem Becher, »ist ein Beamter der Krone. Es sind insgesamt fünf, die alle am Flußufer arbeiten. Dieser hier ist zuständig von der Fish Wharf in St. Botolph bis Petty Wales beim Tower.«

»Ja, aber was tun sie?«

»Sie fischen Tote aus der Themse. Mordopfer, Selbstmörder, Verunglückte, Betrunkene. Fischen sie einen Lebenden heraus, erhalten sie zwei Pence. Für ein Mordopfer gibt es drei und für Selbstmörder und Verunglückte bloß einen Penny.«

»Sir John.«

Athelstan blickte auf. Eine hochgewachsene, dürre Gestalt war lautlos erschienen. Cranston deutete mit einer Handbewegung auf den Schemel und den Wein.

»Seid unser Gast, Sir.«

Der Mann trat aus dem Schatten hervor. Als er sich hinsetze, hatte Athelstan Mühe, seine Abscheu zu verbergen. Der Kerl hatte rotes, fettiges, strähniges Haar, das ihm bis auf die Schulter reichte und ein Gesicht umrahmte, das düster wie eine Totenmaske war: alabasterweiß, mit Fischmaul, Stumpfnase und schwarzen Knopfaugen. Cranston machte die beiden miteinander bekannt, und der Menschenfischer musterte den Ordensbruder mit ausdrucksloser Miene.

»Seid Ihr gekommen, um den Toten anzusehen?«

Athelstan nickte.

»Dümpelte an der Oberfläche herum«, sagte der Mann. »Dümpelte wie ein Korken. Wißt Ihr, die meisten Mordopfer werden mit Steinen beschwert, aber dieser war merkwürdig.«

»Wieso?«

»Na ja, seht Ihr, Sir John« - der Mann nippte an seinem Weinbecher; sein Gesicht war starr, und er zuckte nicht mit der Wimper , »es kommt sehr selten vor, daß ich meine Kunden kennenlerne, bevor sie sterben. Aber gestern, spätnachmittags, kurz nachdem der Markt geschlossen war, kam ich aus St. Mary at Hill, um meinen gewohnten Gang am Kai zu machen. Ich studiere gern den Fluß, die Strömungen, den Wind.« Der seltsame Bursche begann sich für sein Thema zu erwärmen. »Der Fluß verrät einem manches. Wenn das Wasser rauh ist oder ein starker Wind geht, dann werden die Leichen in die Strommitte hinausgetragen. Gestern denke ich noch: Der Fluß ist ruhig, er will mir wohl. Die Toten werden ans Ufer gespült.«

Athelstan verbarg ein Schaudern.

»Und da geht nun ein Mann auf und ab, auf und ab, als ob er auf jemanden wartet. Oh, denke ich, das ist ein Selbstmörder, ganz klar. Aber ich will nicht gierig sein, und gehe weiter. Der Mann steht hinter den Fischständen, zwischen den Ständen und dem Fluß. Ich höre einen Schrei. Ich drehe mich um. Der Mann ist weg.« Der Kerl nippte an seinem Weinbecher. »Ich renne am Kai entlang zurück, und da ist er: dümpelt im Fluß mit ausgebreiteten Armen, und aus einer Wunde in seiner Brust strömt das Blut. Ich werfe meine Angelschnur aus.« Der Kerl klopfte auf die Lederbeutel an seinem Gürtel. »Ich habe ihn hereingezogen, ihm mein Zeichen an die Brust geheftet und in meine Werkstatt gebracht.«

»Werkstatt?« fragte Athelstan.

»Ihr werdet schon sehen.«

Cranston warf Athelstan einen warnenden Blick zu.

»Sonst war niemand da?« fragte der Coroner. »Ihr habt niemanden in der Nähe gesehen?«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Keine Menschenseele. Ich sage Euch, Sir John, der Kai war völlig verlassen. Ich habe auch niemanden gehört.«

»Aber wie kann das sein?« fragte Athelstan. »Wie kann jemand auf Sturmey zugehen, ihm ein Messer ins Herz stoßen und verschwinden wie eine Rauchwolke?«

Der Menschenfischer zuckte die Achseln und leerte seinen Weinbecher. »Ich ziehe nur die Leichen heraus«, sagte er. »Ich kann nicht sagen, warum sie gestorben sind. Kommt, ich zeige ihn Euch.«       

Er führte sie von der Schenke zu einer Seitenstraße und bog dann in eine schmale Gasse ein. Vor einem langen, scheunenartigen Gebäude blieb er stehen und öffnete die mit einem Vorhängeschloß gesicherte Tür. Sofort bedeckte Athelstan Nase und Mund, denn der Gestank war gräßlich. Der Menschenfischer zündete Fackeln an; blakend geriet das Pech in Brand, und Athelstan schaute sich um. Etwa ein Dutzend Tische füllten den Raum. Einige waren leer, auf anderen lagen lederbedeckte Bündel.

»So, welcher ist nun Sturmey?« murmelte der Menschenfischer bei sich. Er zog eine Lederdecke beiseite. »Nein. Das ist der Selbstmord.« Er blieb stehen, legte den Finger an die Lippen und deutete dann auf ein anderes Bündel. »Und das ist der Betrunkene. Also ist das« - triumphierend schlug er die Decke zurück »Sturmey!«

Ausgestreckt lag der tote Schlosser da; das Gesicht war gespenstisch weiß, sein Haar und die Kleider waren naß. Auf seiner Brust war ein dunkelroter Fleck. Neben dem Leichnam lag ein langes Messer. Athelstan nahm es behutsam in die Hand.

»Das gleiche«, murmelte er, »wie bei Mountjoy.« Er warf noch einen Blick auf den Toten. Cranston wandte sich ab und labte sich geschäftig an seinem Weinschlauch.

»Woher wißt Ihr, daß es Sturmey ist?« fragte Athelstan.

»Er hatte eine Liste mit Besorgungen in seiner Tasche, und darauf stand sein Name«, antwortete der Menschenfischer. »Und Mylord Coroner hatte mich und die anderen meiner Zunft schon beauftragt, nach dem Mann Ausschau zu halten.« Sein Gesicht wurde noch länger. »Den Rest wißt Ihr. Habt Ihr genug gesehen?« 

»Bei den Zähnen der Hölle, ja!« blaffte Cranston. »Decke sein Gesicht zu!«

»Wenn Ihr mir die drei Pence bezahlt, Sir John, dann gebe ich den Leichnam frei.«

Cranston nahm noch einen Schluck aus seinem wunderbaren Weinschlauch. »In Ordnung«, erwiderte er verdrossen. »Um Himmels willen, Athelstan, laß uns hier verschwinden!«