Als Cranston und Athelstan ins Rathaus kamen, war alles seltsam still. Bewaffnete säumten die Gänge und Korridore und bewachten die Ein- und Ausgänge zu den verschiedenen Höfen. Der Diener führte sie hindurch und schüttelte auf Cranstons bohrende Fragen immer nur den Kopf. Er brachte sie in den Garten mit seinen Kräuterbeeten, dem Springbrunnen und dem Kanal, den Holz- und Steinbänken, der Laube und den weichen, grünen Rasenflächen, einen der angenehmsten Orte um das Rathaus. Ein paar Männer standen am Springbrunnen und sprachen miteinander. Sie verstummten und drehten sich um, als Cranston und Athelstan näher kamen.
»Mylord Coroner, wir warten schon auf Euch.«
»Euer Gnaden«, antwortete Cranston und schaute den dunklen, goldbärtigen Regenten an, John von Gaunt, den Herzog von Lancaster. »Wir sind gekommen, sowie der Bote uns gefunden hatte.«
Cranston blickte rasch in die Runde, während Gaunt die anderen vorstellte. Er kannte sie alle: Sir Christopher Goodman, rotgesichtig und froschäugig, war der Bürgermeister. Die übrigen prächtig gekleideten Männer mit den stolzen Gesichtern waren die Gildemeister: Thomas Fitzroy von den Fischhändlern, der Cranston mit seinen vorgewölbten Lippen und den glasigen Augen immer an einen Karpfen erinnerte; Philip Sudbury von den Eisenwarenhändlern mit seinem roten Gesicht und roten Haaren, ein eingefleischter Trinker; Alexander Bremmer von den Tuchhändlern, mager und mit niederträchtigem Blick, ein habsüchtiger, raffgieriger Mann; Hugo Marshall von den Gewürzhändlern, dessen Kopf so kahl war wie ein Taubenei; schließlich Sir James Denny von den Kurzwarenhändlern, ein Mann mit fleischigem Gesicht, gekleidet wie ein Hofgeck in seiner engen Hose und der gesteppten, am Halse offenen Jacke.
Cranston nickte allen zu, und auch dem Hauslehrer des Königs, Sir Nicholas Hussey, der trotz silbergrauem Haar und Bart noch jung aussah. Der letzte war Sir Adam Clifford, Gaunts wichtigster Helfer; er trug ein braunes Gewand, das gut zu seinem glattrasierten, sonnenverbrannten Gesicht und seinem akkurat frisierten schwarzen Haar paßte. Gaunt beendete seine Vorstellung.
»Mylord?« Cranston war erbost über das beleidigende Benehmen des Regenten, der Athelstan nicht einmal zur Kenntnis genommen hatte. »Mylord, ich denke, Ihr kennt meinen Secretarius und Schreiber Bruder Athelstan, den Pfarrer von St. Erconwald in Southwark?«
Gaunt lächelte herablassend und nickte. Cranston warf dem grinsenden Denny einen erbosten Blick zu.
»Ihr habt uns rufen lassen, Mylord Regent. Man hat uns gesagt, Sir Gerard Mountjoy sei ermordet worden. Wo, wann und wie?«
Mit einer Handbewegung deutete Gaunt zu dem kleinen Laubengang am anderen Ende des Gartens; die offene Rathaustür und ein hohes, efeubewachsenes Spalier verdeckte ihn vor Cranstons Blicken.
»Dort?« fragte Cranston.
»Ja. Da liegt Sir Gerard.«
Gaunt klang zornig, aber auch sarkastische Heiterkeit schwang mit. Er bedeutete ihnen hinzugehen.
»Ihr habt hoffentlich mehr Glück als wir.«
Verwundert gingen Cranston und Athelstan am Zaun entlang und schauten über ein kleines Tor in den Laubengang hinein. Beide machten einen Satz rückwärts, als zwei große Wolfshunde sich knurrend und bellend gegen die Pforte warfen, die Lefzen hochzogen und beißwütig die gelben Zähne fletschten.
Die Laube war geschickt angelegt, ein Garten im Garten. Vor dem Spalierzaun stand eine Rasenbank, ein schmaler, gepflasterter Weg führte zu einem Tisch, der auch als Vogelbad diente, und auf Hochbeeten wuchsen duftende Kräuter: ein friedlicher, freundlicher Ort für einen Spätsommertag, hätte da nicht der Mann am Zaun gelegen, dem ein schmaler Dolch tief in der Brust steckte. Ein grotesker Anblick: Der Mund stand offen, und die Augen blicken ein wenig scheel, als starre der Tote verblüfft auf die blutige Wunde, die sein rostbraunes Gewand befleckte.
Cranston studierte das stumpfnasige, brutale, tote Gesicht eines der gefürchtetsten Sheriffs von London, dann ging er zu der Gruppe am Springbrunnen zurück.
»Wann ist das passiert, Mylord?«
Gaunt zuckte elegant die Schultern und wischte sich die Hände an seinem blauen Samtmantel ab.
»Heute morgen waren wir in der Messe und hatten dann eine Versammlung im Ratssaal. Wir bereiteten uns alle auf das Bankett heute abend vor; anscheinend hatte sich Sir Gerard in seine Privatlaube begeben, um ein bißchen frische Luft und einen Becher Rotwein zu genießen. Dort fand ihn die Wache so vor.« Er verzog das Gesicht. »Die verdammten Köter lassen uns nicht in seine Nähe.«
»Wenn sie Euch nicht lassen«, sagte Cranston und wies auf eine Gruppe von Armbrustschützen, die in der Livree von Lancaster geduldig warteten, »dann muß man sie abschießen.«
Athelstan stand neben Cranston und musterte diese mächtigen, reichen Männer. Zusammen mit Gaunt beherrschten sie nicht nur London, sondern das ganze Königreich. Ihr Silber unterhielt die königliche Armee, versorgte die Flotte und kontrollierte das Parlament. Er spürte, daß sie über Mountjoys Tod erschrocken, aber im stillen auch erfreut waren, einen mächtigen Rivalen abtreten zu sehen, denn Mountjoy, selbst ein Kaufmann, war machthungrig gewesen wie sie. Der Regent aber, ein Mann mit einem Gesicht aus Marmor und einem Herzen aus Stahl, hatte große Mühe, seine Wut im Zaum zu halten, denn sein Plan, diese mächtigen Kaufleute unter seine Kontrolle zu bringen, war durch Mountjoys Tod rüde durchkreuzt worden.
»Nun«, bellte Goodman, »Sir John, Ihr seid des Königs Coroner hier in der Stadt. Sir Gerard wurde ermordet, und zwar auf abscheuliche Weise. Wir wissen, wer es getan hat; also schafft die Hunde beiseite.«
»Ach?« Sir John lächelte ungerührt. »Ihr habt den Mörder auf frischer Tat ertappt?«
»Um Gottes willen, Mann!« schnarrte Goodman. »Schaut Euch die Laube an. An zwei Seiten ist der Gartenzaun, die hintere Mauer ist die Rathausmauer, und die vierte wird durch das Schirmdach geschützt.«
Cranston und Athelstan betrachteten das langgestreckte, schmale Schrägdach, das an die Pfeiler des Rathauses angebaut und mit alten Schilden gedeckt war; es bildete einen überdachten Gang zwischen der Küche und dem eigentlichen Rathaus.
»Wie sollte irgendjemand«, fuhr Goodman langsam fort, als wären Athelstan und Cranston schwer von Begriff, »den Garten betreten, Sir Gerard erstechen und in aller Ruhe wieder fortgehen können, ohne von den Hunden in Stücke gerissen zu werden?«
»Was der Bürgermeister sagen will«, warf Clifford ein, »ist, daß die beiden Hunde Sir Gerards ständige Begleiter waren. Mountjoy war Junggeselle. Sie ersetzten ihm Weib und Kinder, Familie und Anverwandte. Nur einer konnte sich dem Sheriff nähern, ohne die Hunde zu stören: sein Diener und Amtmann, Philip Boscombe.«
Cranston nickte und schaute wieder zu der Laube hinüber.
»Sir Gerard«, fuhr Clifford fort, »hatte immer Angst vor Attentaten. Niemand - kein Beamter, kein Ratsherr, kein Bürger - konnte sich ihm nähern, wenn der Sheriff seinen Hunden nicht befohlen hatte, freundlich zu sein. Boscombe war die einzige Ausnahme. Er muß es gewesen sein. Die Diener haben die Hunde nicht einmal bellen hören.«
Cranston ging zurück. Aus sicherem Abstand spähte er in die blutbespritzte Laube hinein. Die beiden großen Hunde lagen ihrem Herrn zu Füßen; ab und zu blickten sie zu ihm hoch, als erwarteten sie, daß er gleich aufwachen und sie rufen würde. Sie spürten, daß etwas nicht stimmte, und der Blutgeruch machte sie nur noch aggressiver. Knurrend wandten sie ihre Aufmerksamkeit dem Gartentor zu.
»Clifford muß recht haben«, flüsterte Athelstan, der auch herangekommen war. »Das Messer kann nicht geworfen worden sein. Es gibt keine Stelle, von der aus das möglich wäre. Und seht nur, wie tief es steckt, Sir John.«
Cranston nickte. »Wo ist Boscombe jetzt?« fragte er.
»Er beteuert seine Unschuld«, antwortete Goodman. »Er sitzt im Verlies unter dem Rathaus. Sir John, wir warten! Habt Ihr Angst vor den Hunden?«
»Bringt mir zwei Stücke rohes Fleisch!« rief Cranston. Diese aufgeblasenen Leute warten zu lassen machte ihm Spaß. »Und einen Napf Wasser.«
Goodman ging ins Rathaus, die anderen hörten ihn drinnen seine Anweisungen brüllen. Nach kurzer Zeit kam ein Diener heraus; er trug ein Tablett mit zwei blutigen Fleischstücken und einem Wassernapf, reichte es Cranston, warf einen furchtsamen Blick zu dem Laubengang hinüber und rannte zurück ins Rathaus.
»Bleibt, wo Ihr seid!« rief der Coroner. »John Cranston hat vor niemandem Angst. Und diese Hunde sind zu edel, als daß man sie umbringen dürfte.« Er trat an das Tor und sprach ruhig auf die knurrenden Hunde ein. Sie legten die mächtigen Pfoten auf das Tor und richteten sich auf; ihre großen, zottigen Köpfe überragten das Gartentor um ein ganzes Stück. Cranston trat zurück und redete weiter leise auf sie ein. Die Hunde bellten wild, verstummten aber schließlich. Sie legten sich hinter dem Tor nieder und schauten zu diesem Mann mit der sanften Stimme hoch, der das köstlich duftende Fleisch und den Wassernapf in den Händen hielt. Athelstan kam langsam näher. Sir John flüsterte mit den Bestien, als wären sie alte Freunde.
»Siehst du, Bruder«, murmelte er aus dem Mundwinkel, »kein Lebewesen, mit Ausnahme des Menschen, kann sich der Freundlichkeit verschließen.«
Vorsichtig öffnete er das Gartentor. Die beiden Hunde standen still und wedelten mit den Schwänzen. Cranston pfiff leise und lockte sie mit Fleisch und Wasser in den Garten hinaus. Dort legte er ihnen das Fleisch hin. Während sie es herunterschlangen, ließen sie sich von Cranston die mächtigen Schädel streicheln und die Ohren liebkosen.
»Brave Jungs«, flüsterte er. »Seid gute Freunde vom alten John.«
Einer der Hunde hörte sogar auf zu fressen und leckte ihm die Hand. Cranston ging zurück in die Laube. Die Hunde erhoben sich.
»Platz!«
Beide Hunde gehorchten, und, gefolgt vom grinsenden Athelstan, betrat Cranston die Laube.
»Mach die Augen zu, Bruder.«
Athelstan gehorchte, und er hörte das unverwechselbare Geräusch, als Cranston den Dolch aus der Leiche zog. Athelstan öffnete die Augen wieder und sah sich um.
Der Leichnam war umgekippt und lag mit dem Gesicht nach unten auf der Rasenbank. Ein Weinbecher lag unter dem Efeu, der an der Rathausmauer emporwuchs, und als Cranston den Dolch im Gras abwischte, wurde Athelstan klar, wie rätselhaft dieser Mord war. Mountjoy hatte unmittelbar gegenüber des mit dem Schrägdach überdeckten Ganges gesessen. Der Zaun war aus Holzplanken und die Lücken dazwischen zu schmal, als daß jemand ein Messer mit solcher Wucht hätte hindurchschleudern können. Die Mauer des Rathauses war eine unüberwindliche Barriere, und um das Messer vom Garten aus zu werfen, hätte man dazu am Tor stehen müssen. Athelstan schüttelte den Kopf. Sir Gerard und seine Hunde hätten nicht zugelassen, daß jemand mit einem gefährlich aussehenden Dolch dort stand; sie hätten geschrien und angegriffen.
Athelstan blickte auf den Kiesweg, der unter seinen Sandalen knirschte. Niemals hätte sich ein Attentäter lautlos über diesen Pfad zum Tor schleichen können, ohne daß die Hunde wie rasend gebellt hätten. Er schaute an der Stützmauer des Rathauses hoch, an die das Schrägdach angebaut war. Die einzigen Fenster dort oben waren schmale Schießscharten, zu hoch und zu schmal, als daß von dort ein Messer halbwegs kräftig und zielgenau hätte geworfen werden können. Er schaute Cranston an, der die Messerklinge eingehend betrachtete.
»Es muß Boscombe gewesen sein«, sagte Athelstan leise. »Das Messer wurde nicht geworfen. Seht.« Er deutete auf das Spaliergitter, an dem Mountjoy gelehnt hatte. »Der Dolch ist ihm durch die Brust gedrungen und hat den Gitterzaun verkratzt.«
»Vielleicht ist jemand hinter Sir Gerard über den Zaun geklettert?« Clifford kam heran.
Athelstan schüttelte den Kopf.
»Das bezweifle ich, Mylord. Sir Gerard hat anscheinend gesessen, als er ermordet wurde. Der Mörder müßte auf den Zaun klettern, sich mit dem Dolch herunterschwingen und ihn dem Opfer in die Brust stoßen. Könnt Ihr Euch vorstellen, daß der Sheriff und seine Hunde das geduldig abwarten?«
Angeführt von Clifford und Gaunt, kamen die Gildemeister vorsichtig in die kleine Laube und schauten sich immer wieder furchtsam nach den beiden großen Wolfshunden um, die jetzt mit traurigem Blick im Gras lagen.
»Sind die Hunde nicht mehr gefährlich?« fragte Gaunt leise.
»Oh nein«, antwortete Gaunt abwesend. »Sie wissen, daß hier etwas nicht stimmt, aber uns betrachten sie nicht als Feinde.« Er lachte schnaubend. »Obwohl wir es ja vielleicht sind. Einer der Anwesenden auf jeden Fall.« Cranston schaute in die Runde. »Ich bin Sir John Cranston, Coroner des Königs in der Stadt«, erklärte er, »und dies ist mein Urteil: Ich finde Sir Gerard Mountjoy von einer oder mehreren unbekannten Personen ermordet auf.«
»Was ist mit Boscombe?« fragte Gaunt.
»Möglich, daß er es war. Aber habt Ihr diesen Dolch gesehen, Mylord?« Cranston hielt ihn in die Höhe.
Erst dachte Athelstan, es handele sich um einen ganz gewöhnlichen walisischen Stichdolch mit schmaler, langer, bösartiger Klinge und kleinem Griff und Heft. Aber unter den verschmierten Spuren von Cranstons Säuberung war etwas in die Klinge eingraviert. Athelstan nahm Cranston den Dolch aus der Hand und betrachtete ihn genauer.
»Ira Dei«, murmelte er und las die grob geritzten Zeichen laut vor.
Gaunt stampfte wütend ins Gras und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Bei der Heiligen Messe!« Er funkelte die anderen an. »Diese Bauernschweine bedrohen uns hier in unserer eigenen Stadt, in unseren eigenen Palästen.«
»Ira Dei?« Hussey, der königliche Hauslehrer, drängte sich nach vorn. »Der Zorn Gottes? Mylord Gaunt, was hat das zu bedeuten? Man muß es dem König berichten.«
»Mein Neffe wird es beizeiten erfahren«, erwiderte Gaunt gereizt.
Athelstan spürte die tiefe Ablehnung im Ton des Regenten und erinnerte sich an das Getuschel über zunehmende Rivalitäten zwischen ihm und dem Hauslehrer des Königs.
»Ira Dei«, wiederholte Gaunt langsam, »ist ein selbsternannter, geheimnisumwobener Führer.«
»Führer wovon?«
»Der Großen Gemeinschaft«, knurrte Gaunt. »Diesen Namen haben die Bauern dem geheimen Rat ihrer Anführer gegeben, der Verrat und Rebellion plant, in London und Umgebung. Sir, Ihr solltet besser Bescheid wissen.«
»Mylord«, antwortete Hussey geschmeidig, »wie Seine Gnaden der König weiß ich nur das, was man mir sagt.«
Verärgert wandte sich Gaunt ab. »Mountjoy ist tot«, flüsterte er. »Erstochen von seinem Diener, der offenbar gegen Bezahlung oder aus Überzeugung für die Rebellen arbeitet. Sir John, Bruder Athelstan, stimmt Ihr mir zu?«
Cranston betrachtete den Dolch, während Athelstan sich bemühte, den schweren Leichnam des Sheriffs auf die Rasenbank zu legen. Das Gewand des Mannes war dick verkrustet von Blut. Athelstan sprach flüsternd das Totengebet und untersuchte zugleich die Wunde in der Brust des Mannes, die Schramme im Zaun, an dem er gelehnt hatte, und das Blut an den Händen des Toten.
»Mylords«, erklärte der Ordensbruder schließlich schwer atmend und faltete die Hände des toten Sheriffs. »Sicher wird Sir John mit mir darin übereinstimmen, daß Sir Gerard durch einen Dolchstich in die Brust getötet wurde. Der Dolch kann nicht geworfen worden sein; die Laube ist ringsum geschlossen, und hätte der Mörder am Tor gestanden, dann hätte Sir Gerard ihn sehen müssen, von seinen Hunden ganz zu schweigen.«
»Vielleicht haben sie geschlafen, alle drei«, dröhnte Fitzroy töricht. »Sir Gerard trank gern Wein.«
»Aber die Hunde nicht«, gab Denny spöttisch zu bedenken.
»Ich bezweifle es«, sagte Athelstan ruhig. »Solche Hunde hätten ihren Herrn vor jedem beschützt, und Sir Gerard wußte, wenigstens ein paar Augenblicke zuvor, daß er sterben mußte. Seht Ihr seine Hände? Sie sind blutig.«
»Mein Schreiber spricht aus, was ich dachte«, unterbrach Cranston ihn großspurig. Er zwinkerte Athelstan zu und ging zurück zum Tor. »Der Dolch wurde nicht geworfen. Der Mörder spazierte durch das Tor, vielleicht mit versteckter Waffe; sie ist lang und schmal und hat keinen großen Griff. Sir Gerard sitzt da und trinkt seinen Wein. Er blickt auf, und der Mörder sticht zu, rammt dem Sheriff den Dolch tief ins Herz und durchbohrt den Körper. Im Todeskampf zerrt Sir Gerard an dem Dolch, seine Hände fallen herab, er stirbt.« Cranston sah sich strahlend um. »Ich denke, als nächstes, Mylords, sollten mein Schreiber und ich den Gefangenen verhören.«
Gaunt war einverstanden, und man rief einen Bogenschützen, der Cranston und Athelstan ins Rathaus und in das klamme, muffige Kellergewölbe führte. Die Gänge waren von Fackeln beleuchtet. Vor einer Tür mit eingelassenem Eisengitter standen zwei Bogenschützen Wache. Cranston spähte durch das Gitterfenster. Das Verlies war von einer Öllampe erleuchtet, die auf einem wackligen Tisch stand. Der Gefangene lag zusammengekrümmt auf einer schmalen Pritsche. Die Wachen schlössen die Tür auf, und Cranston und Athelstan schlüpften hinein. Stöhnend richtete sich der Mann auf.
Im trüben Licht der Öllampe sah er so elend und jämmerlich aus wie nur menschenmöglich. Er war klein und dick; seine Augen verschwanden zwischen Fettwülsten und waren noch dazu vom Weinen verquollen. Sein Haar war vom Kerkerschmutz verklebt.
Athelstan hockte sich neben ihn und schaute dem Amtmann des Sheriffs in das weichliche, verzärtelte Gesicht. Der Mann verschränkte die Arme und fing an, sich vor und zurück zu wiegen.
»Was kommt jetzt? Was kommt jetzt?« murmelte er, und Tränen rollten ihm über die Wangen. »Werde ich gefoltert? Soll ich hängen? Sir, Ihr dürft mir nichts tun!« Er wimmerte wie ein Kind, und Athelstan sah den Bluterguß an seiner Wange. Sanft berührte er die Hand des Mannes und sah sich dann nach Sir John um. Der Blick des Ordensbruders ließ keinen Zweifel: Athelstan hatte bereits entschieden, daß dieser kleine dicke Mann mit der teigigen Haut und den plumpen Händen kein Mörder war.
»Wir wollen dir helfen«, flüsterte Athelstan, stand auf und lehnte sich an den Tisch. Cranston stellte sich mit dem Rücken zur Tür. »Du mußt uns nur die Wahrheit sagen.«
Immer noch schniefend schaute der Mann zu Boden, und seine Schultern bebten.
»Sir Gerard ist tot«, jammerte er. »Und ich soll hängen. Sir, ich bin unschuldig - und dabei hat der Tag so gut angefangen!«
»Dann beginne mit dem Anfang«, drängte Athelstan. »Boscombe, der Regent hört auf Sir John Cranston. Wenn du die Wahrheit sagst und deine Unschuld beweist, dann hast du diese Zelle vielleicht heute abend schon wieder verlassen.«
Der Gefangene blickte auf, und Athelstan sah Hoffnung flackern in den dunklen, tränennassen Augen des Amtmannes.
»Der Tag fing so gut an«, wiederholte der Mann; dann hustete er, und seine Stimme wurde fester. »Sir Gerard gefiel, was da geschehen sollte: Er und der Regent wollten einen Freundschaftsbund zwischen den Gilden besiegeln. Seine Gnaden, der König, der Regent und die anderen kamen am Vormittag zur Messe in die Rathauskapelle. Sir Gerard war auch dabei. Ich und die übrigen Diener standen hinten. Die Messe begann; die Gildemeister, der Regent und Sir Gerard gaben sich den Friedenskuß, sie empfingen das Sakrament, und dann wurden die Schlüssel gesegnet.«
»Was?« unterbrach Cranston.
»Als Garantie für ihre guten Absichten«, antwortete Boscombe, »haben die führenden Gilden und auch der Regent je einen Goldbarren in einer eigens angefertigten, mit Eisenriegeln und sechs Schlössern gesicherten Truhe deponiert. Einen Schlüssel hat der Regent, die übrigen haben die Gildemeister.« Boscombe rieb sich die Wange. »Danach bekamen wir Marzipan und süßen Wein von der Kirche. Dann zog der Regent sich mit dem Bürgermeister, dem Sheriff und den fünf Gildemeistern zu einer geheimen Beratung in die Privatgemächer des Sheriffs zurück.« Boscombe fuhr sich durchs Haar, das verfilzt wie ein Wolfsfell war. »Danach löste sich die Versammlung auf, und mein Herr sagte, er wolle es sich in seinem Garten Wohlsein lassen.«
»Bist du auch hingegangen?«
»Ja, ich habe ihm einen Becher Wein gebracht. Er sonnte sich und sagte, der Vormittag habe einen guten Verlauf genommen und ich solle ihn nicht noch einmal stören.« Boscombe fing wieder an zu weinen. »Ihr Herren, ich war in meiner Kammer, als ich das Geschrei hörte, und dann kamen die Soldaten mich holen. Man zerrte mich in den Garten hinunter; da sah ich den armen Sir Gerard. Und jetzt«, klagte er, »soll ich hängen.«
Athelstan berührte ihn leicht bei der Schulter.
»Sei getrost, mein Freund. Du bist kein Mörder. Sir John wird dafür sorgen, daß Gerechtigkeit geschieht. Eine Frage noch: Hatte Sir Gerard, dein Herr, irgendwelche Feinde?«
Jetzt lächelte Boscombe schmal. »Feinde?« wiederholte er. »Ich habe meinem Herrn gut gedient, aber für ihn war ich auch nur ein Hund, der einen Tritt bekommt, wenn er etwas falsch macht, und einen Knochen, wenn es gut war. Ihr fragt Euch besser, Pater, ob es jemanden gab, der nicht Sir Gerards Feind war -denn Freunde hatte er nicht. Lord Gaunt ertrug ihn. Sir Christopher Goodman, der Bürgermeister, hielt es kaum mit ihm im selben Raum aus, und die fünf Gildemeister …« Boscombe verzog höhnisch den Mund. »Sie sind mächtige und gefährliche Männer und konnten Sir Gerard nicht ausstehen, nicht nur wegen seines Reichtums, sondern auch weil er ein so hohes Amt in der Stadt errungen hatte.«
Athelstan erhob sich. »Steh auf«, befahl er.
Boscombe rappelte sich hoch.
»Trägst du dieselben Kleider wie heute morgen?«
»Ja, natürlich - heute morgen allerdings, Bruder, war das noch mein Sonntagsstaat.« Boscombe zerrte an seinem milchweißen Wams und berührte die weiche, braune Wollhose; beides war schmutzig und starrte vor Dreck.
»Seht ihn Euch an, Sir John«, sagte Athelstan. »Hat dieser Mann Sir Gerard einen Dolch ins Herz gestoßen?«
»Nun …«, murmelte Cranston, und er packte Boscombes Handgelenke und betrachtete aufmerksam beide Ärmel. »Keine Blutspuren zu finden.« Er schlug dem Diener so herzhaft auf die Schulter, daß der arme Boscombe beinahe wieder auf das Bett gekippt wäre. »Du bist kein Mörder.« Cranston schmatzte plötzlich, und Athelstan merkte, wie lange der Coroner schon nichts mehr getrunken hatte. »Komm jetzt, mein Junge, wir gehen hinauf.«
Cranston hämmerte an die Tür. Die Wache öffnete, wollte Boscombe aber nicht gehen lassen.
»Verschwinde!« donnerte Cranston. »Wie kannst du es wagen, dich dem Coroner des Königs in den Weg zu stellen?«
Hastig wich der Mann zurück und murmelte eine Entschuldigung. Der Coroner schleifte den armen Boscombe an der Hand hinter sich her, durch den Korridor und ins Rathaus hinauf. Sie fanden den Regenten und die anderen im Garten, wo sie auf Holzbänken saßen und kühlen Weißwein tranken, als wäre es ein schöner Sommertag und alles in bester Ordnung. Den Männern des Haushalts, die den Leichnam des Sheriffs in Tücher gewickelt hatten und ihn jetzt in den Keller hinunterschleppten, um ihn zwischen Weinfässer zu legen, wo er kühl bleiben und nicht stinken würde, schenkten sie keinen Blick.
Cranston und Athelstan traten beiseite, als die Bediensteten, unter ihrer grausigen Bürde fluchend und murrend, vorüberhasteten. In der hinteren Ecke des Gartens lagen die beiden großen Wolfshunde einsam im Gras, als wüßten sie, daß ihr privilegiertes Leben nun vorbei war. Sir John trat schwungvoll vor die sitzenden Männer, den bleichen Boscombe immer noch bei der Hand. Goodman sprang auf, und die übrigen beobachteten Sir John mit schmalen Augen und mißbilligenden Mienen.
Eine unangenehme Bande, dachte Athelstan: Männer, die sich der Anhäufung von Macht und Reichtum verschrieben hatten, dunkle Seelen mit unheimlichen Gedanken und gewaltigem Ehrgeiz. Sie erinnerten ihn an Falken in einem Burghof, die an ihren Fesseln zerrten, bereit, ihren Sitz zu verlassen und zum Töten auf ihre Beute herabzustoßen. Goodman trat Sir John mit großer Geste entgegen.
»Dieser Mann ist ein Gefangener der Stadt!«
»Und ich bin der Coroner der Stadt«, antwortete Cranston. Er hatte Mountjoy auch nie leiden können, aber Goodman verabscheute er als einen Mann, der seine eigene Mutter verraten würde, solange der Preis stimmte.
»Ihr seid aber nicht ermächtigt, ihn freizulassen«, stammelte Goodman.
»Was gibt's, Sir John? fragte Lord Adam Clifford, der neben dem Regenten saß, in trägem Tonfall. Der junge Mann beschirmte seine Augen vor der Spätnachmittagssonne, als er aufblickte. »Gütiger Gott, Mann, Ihr wollt ihn doch jetzt nicht hängen, oder? Ich habe noch nichts gegessen, und dieser Garten hat für einen Tag genug Gewalttätigkeit gesehen.«
Cranston wandte sich an den Regenten. »Mylord, ein kleines Theaterspiel - wenn Ihr gestattet?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, machte Cranston kehrt, zwinkerte Athelstan zu und schob den armen Boscombe in Mountjoys Laube. Achselzuckend stellte der Regent seinen Weinbecher auf den Boden und folgte Cranston. Lord Adam lächelte Athelstan zu.
»Ein feines Theaterspiel«, murmelte er. »Tja, Gentlemen, ich denke, wir sollten Seiner Gnaden folgen.«
In der Laube wurde Boscombe wieder nervös. Er zitterte wie ein Aspik, als Cranston ihn zu der blutbefleckten Rasenbank führte.
»So!« Cranston strahlte Gaunt und die übrigen an, die am Tor standen. »Nun, Master Boscombe« - er zog seinen eigenen langen Dolch -, »jetzt sollst du mich ermorden.« Cranston ließ sich auf die Rasenbank fallen, ohne auf das geronnene Blut zu achten, und schaute grinsend zum Bürgermeister hinüber. »Sir Christopher, seid so gut - einen Becher von dem Wein, den Ihr da trinkt?«
Der Coroner wischte sich die Stirn und befeuchtete seine Lippen. Goodman wollte protestieren, aber Gaunt schnippte mit den Fingern. Der Bürgermeister eilte davon und kam mit einem randvollen Becher zurück, den er dem Coroner in die große Pranke drückte. Wortlos prostete Cranston dem Regenten zu und starrte dann den jämmerlichen Boscombe an, der mit spitzen Fingern den Dolch festhielt, als fürchte er, sich daran zu schneiden, von Sir John ganz zu schweigen.
»Also!« blaffte Cranston und nahm einen Schluck aus seinem Becher. »Erstich mich, Boscombe!«
Athelstan trat vor. »Na los, Mann«, murmelte er. »Mach schon.«
Mit vorgestrecktem Dolch tappte Boscombe auf Sir John zu. Was dann geschah, hätte Athelstan nicht genau sagen können. Cranston trank weiter von seinem Wein, Boscombe stieß zu - aber im nächsten Augenblick hatte der Coroner ihm den Dolch aus der Hand geschlagen und den Diener der Länge nach ins Gras geschleudert. Cranston trank seinen Becher leer und stand auf.
»Der Lord Coroner hat klargemacht, worauf es ihm ankam«, stellte Athelstan taktvoll fest. »Boscombe kann einen Dolch nicht einmal richtig halten. Genau wie Sir John war Sir Gerard ein feuriger Mann. Er hätte Widerstand geleistet, von den Hunden ganz zu schweigen. Und was noch wichtiger ist, Mylord«, fügte Athelstan hinzu, an Gaunt gewandt, »wenn Boscombe ihm den Dolch so tief in die Brust gestoßen hätte, dann müßte er Blutflecken an Händen und Ärmeln haben. Aber«, schloß er und half Boscombe auf die Beine, »solche Flecken gibt es nicht.«
Gaunt starrte erst Athelstan, dann Boscombe an. Seufzend blies er die Wangen auf; dann wühlte er eine Münze aus seinem Beutel und warf sie Boscombe zu, der sie trotz seiner Nervosität geschickt auffing.
»Master Boscombe, dir ist schweres Unrecht geschehen. Warte dort drüben.«
Flink wie ein Kaninchen huschte Boscombe davon und ließ sich bei den großen Wolfshunden nieder. Gaunt trat auf Cranston und Athelstan zu und strich mit der Fingerspitze über den Rand seines Bechers.
»Wenn Boscombe es nicht war«, sagte er leise, »wer war es dann?«
Athelstan und Cranston starrten ihn wortlos an.
»Was noch wichtiger ist«, fuhr Gaunt fort, »wie wurde der Mord vollbracht? Der Garten ist nach allen Seiten geschlossen. Mountjoy war Soldat, und seine Hunde bewachten ihn. Wir haben seinen Weinbecher untersucht, der kein Betäubungsmittel enthielt. Wie also konnte jemand so nah herankommen und den Mann umbringen?« Gaunt deutete auf Sir John. »Mylord Coroner, Ihr und Euer Schreiber werdet heute abend bei dem Bankett meine Gäste sein. Ihr habt den Befehl, diese Sache so schnell wie möglich aufzuklären.« Er schaute seine Begleiter an. »Meine Herren, wir müssen diese Angelegenheit in die fähigen Hände des Lord Coroner legen.«
»Habt Ihr denn die andere Geschichte schon aufgeklärt?« fragte Goodman boshaft.
Cranston wurde rot vor Wut über das Gelächter, das diese Bemerkung auslöste. Sir Nicholas Hussey, den Cranston insgeheim schätzte, machte ein betretenes Gesicht.
»Um was für eine Geschichte geht es?« wollte Gaunt wissen.
»Oh«, blökte Goodman und trat vor, »auf der London Bridge und anderswo werden die abgeschlagenen Köpfe und blutigen Gliedmaßen von hingerichteten Verrätern gestohlen. Schon seit Wochen versucht Sir John, den Dieb zu fangen.«
Gern hätte Athelstan dem Bürgermeister in das rote, fleischige Gesicht geschlagen; statt dessen schaute er zu Boden und hoffte, Cranston werde seinem Jähzorn nicht nachgeben. Sir John enttäuschte ihn nicht; er baute sich vor dem Bürgermeister auf, das Gesicht nur noch eine Handbreit von dem seines Widersachers entfernt.
»Ich werde diese Angelegenheit nicht nur aufklären«, flüsterte er laut genug, daß die anderen es hören konnten, »sondern versichere Euch, Sir, daß, wenn die Sache erledigt ist, auf der London Bridge neue Köpfe auf die Stangen gespießt werden.«
Alle wandten sich zum Gehen und wollten gerade das Rathaus betreten, als Boscombe gerannt kam und sich dem Regenten zu Füßen warf.
»Mylord!« heulte der Mann und wandte das tränennasse Gesicht zu John von Gaunt empor. »Was soll ich jetzt tun? Mein Herr ist tot. Und die Hunde …?«
»Habt Ihr eine Stellung für ihn?« fragte Gaunt den Bürgermeister.
Goodman schüttelte den Kopf, und der Regent zuckte die Achseln.
»Dann, Master Boscombe, mußt du dich mit dem begnügen, was du hast. Wenigstens bist du frei.«
»Und die Hunde?« heulte der Mann.
»Vielleicht sollten sie ihrem Herrn nachfolgen. Es sei denn« - Gaunt warf Cranston einen Blick zu »der Lord Coroner wollte die Kosten für euch alle drei übernehmen.«
Cranston betrachtete den erbärmlichen kleinen Mann und die beiden riesigen Wolfshunde, die sich anscheinend mit ihrem Schicksal abgefunden hatten. Schon wollte er ablehnen, aber da sah er Goodmans höhnische Miene und die traurigen Augen der Hunde.
»Ich übernehme die Kosten«, erklärte er, bevor Athelstan ihn zur Vorsicht mahnen konnte.
Cranston stellte Boscombe auf die Füße, pfiff den Hunden und marschierte durch das Rathaus davon. Er grinste boshaft von einem Ohr zum anderen, als die Hunde ihm folgten und die mächtigen, arroganten Männer auseinanderstieben ließen.