Zwölf
Athelstan erwachte am nächsten Morgen frisch und mit neuen Kräften. Er wusch und rasierte sich, wechselte die Kutte, fütterte Bonaventura und frühstückte rasch. Dann ging er hinüber in die Kirche, um das Requiem für die Mutter der Schweinehirtin Ursula zu lesen.
Benedicta erwartete ihn am Lettner, als er aus der Sakristei kam.
»Was gibt's, Benedicta?«
»Es tut mir leid, Euch zu stören, Pater, aber ich habe eine Nachricht von den Minoritinnen erhalten. Ihr sollt hinkommen. Elizabeth Hobden hat letzte Nacht versucht, sich aufzuhängen.«
Athelstan schluckte einen Fluch herunter; er wolle nur die Kirche abschließen, sagte er, und werde in einer halben Stunde auf den Stufen von St. Mary Overy auf sie warten. Rasch vergewisserte er sich, daß alles sicher verschlossen war, schüttete dem schnarchenden Philomel Hafer und Heu hin und eilte dann hinunter zu Benedicta.
»Was enthielt die Nachricht sonst noch?« fragte er atemlos, als sie zur London Bridge eilten.
»Nichts, Pater. Anscheinend wiederholte das Mädchen unentwegt dieselbe Geschichte. Spät nachts hörte eine Schwester dann ein Krachen aus ihrer Zelle, und als sie nachschaute, sah sie, daß das Mädchen versucht hatte, sich mit ihrem Bettlaken zu erhängen.«
Unter dem Tor zur London Bridge blieb Athelstan stehen und schaute hinauf zu den abgeschlagenen Verräterköpfen, die dort aufgespießt waren. Benedicta folgte seinem Blick.
»Pater, was um alles in der Welt… ?«
Athelstan zuckte die Achseln. »Ich finde es schwer zu glauben, Benedicta, daß Cranston tatsächlich jemanden jagt, der solche grausigen Dinge stiehlt.«
Sie verschränkte die Arme und starrte in den Dunst über der Flußmitte.
»Manchmal hasse ich diesen Ort«, murmelte sie. »Ich habe schon daran gedacht, irgendwohin aufs Land zu ziehen - wo es friedlich und sauber ist.«
»Das darfst du nicht.« Athelstan biß sich gleich auf die Lippe. Dann sah er sie an. »Wenn du fortgingest, Benedicta, würde ich dich vermissen.«
»Sehr wahr.« Sie grinste. »Und wer würde sich um Euch und Cranston kümmern?«
Sie hasteten über die Brücke und nach Eastchepe, folgten den Gassen zur Mark Lane und nach Aldgate und bogen dann nach rechts in die Straße, die zu den schimmernden Sandsteingebäuden des Minoritinnenklosters führte. Die Sonne ging auf, und Athelstan wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Wir hätten reiten sollen«, brummte er. »Der Himmel allein weiß, warum ich hier bin.«
»Sie hat doch sonst niemanden.«
»Aye«, knurrte er. »Das genügt als Grund.«
Die Nonnen begrüßten ihn freundlich und bestanden darauf, daß er und Benedicta sich im Refektorium erfrischten, bevor die Novizenmeisterin, eine stämmige, aber sehr freundlich blickende Nonne, ihnen erzählte, was in der vergangenen Nacht geschehen war.
»Wir fanden sie auf dem Boden liegend«, begann sie. »Halb erwürgt von dem Bettlaken, das sie sich um den Hals geschlungen hatte. Wenn es nicht gerissen wäre, und niemand das Gepolter gehört hätte …« Sie spreizte die Hände. »Dann müßte ich Euch jetzt mit Bedauern ihren Tod melden. Bruder Athelstan, was können wir tun? Wir haben hier ein Mädchen, ein Kind noch, das Selbstmord begehen könnte!«
Der Bruder stand auf. »Laßt mich zu ihr.«
Die Novizenmeisterin führte sie durch einen Torbogen auf einen kühlen Gang und klopfte an eine Zellentür. Eine andere Nonne öffnete, und die Novizenmeisterin führte sie hinein zu Elizabeth Hobden, die mit dunklen Augen und bleichem Gesicht drinnen auf der Bettkante saß. An ihrem zarten weißen Hals leuchtete ein violetter Bluterguß.
»Wie geht es Anna, ihrer Amme?« fragte Benedicta.
»Oh, der geht es gut. Sie ißt und trinkt, als wäre morgen der Jüngste Tag«, antwortete die Nonne.
Athelstan nahm einen Schemel und setzte sich zu Elizabeth. Er blickte zu den beiden Nonnen auf. »Schwestern, würdet Ihr uns bitte ein Weilchen allein lassen? Lady Benedicta bleibt bei uns.«
Die Nonnen gingen. Benedicta blieb an der Tür stehen, und Athelstan ergriff die schlaffe Hand des Mädchens.
»Elizabeth, schau mich an.«
Sie hob den Blick. »Was wollt Ihr?« murmelte sie.
»Ich will helfen.«
»Das könnt Ihr nicht. Sie haben meine Mutter ermordet, und jetzt bin ich eine Verfemte.«
Athelstan sah das Mädchen an; dann fiel sein Blick auf das Kruzifix, das hinter ihr an der Wand hing. Er nahm es ab und hielt es dem Mädchen vors Gesicht.
»Elizabeth, glaubst du an Christus?«
»Ja, Pater.«
»Dann leg deine Hand auf dieses Kruzifix und schwöre, daß dein Vorwurf wahr ist.«
Das Mädchen stürzte sich förmlich auf das Kreuz. »Ich schwöre es!« sagte sie mit fester Stimme. »Beim Leib Christi, ich schwöre es!«
Athelstan hängte das Kreuz wieder auf und hockte sich neben sie. »Jetzt versprich mir etwas.«
Das Mädchen starrte ihn an.
»Versprich mir, daß du keine Dummheiten mehr machen wirst. Gib mir eine Woche Zeit«, bat er. »Nur eine Woche. Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Das Mädchen nickte, und Athelstan zuckte zusammen, als er den Hoffnungsschimmer in ihrem Blick sah.
»Ich tue, was ich kann«, wiederholte er. Sanft tätschelte er ihr die Hand und ging dann hinaus.
»Was könnt Ihr denn tun?« fragte Benedicta, als das Tor des Minoritinnenklosters sich hinter ihnen geschlossen hatte.
»Ich weiß nicht«, antwortete Athelstan. »Aber vielleicht fällt Cranston etwas ein.« Er seufzte. »Ich hatte eigentlich vorgehabt, Sir John zumindest bis Montag in Ruhe zu lassen. Aber ich werde ihn wohl daran erinnern müssen, daß das Böse niemals ruht.«
Durch Aldgate und Cornhill gingen sie zurück in die Stadt. Der Pranger an der Ecke der Poultry war voll mit Übeltätern, die wegen Ruhestörung am Freitagabend verhaftet worden waren, und in dem großen Eisenkäfig am Wasserspeicher drängten sich Nachtschwärmer und Huren, die lärmten und johlten, als sie Athelstan mit einer Frau vorbeikommen sahen. In Poultry, Mercery und Westchepe dagegen war noch alles still, denn die Marktglocke läutete samstags erst spät. Lehrlinge bauten die Stände auf, während Straßenkehrer und Mistsammler halbherzige Versuche unternahmen, den Abfall und Müll des vergangenen Tages zu beseitigen.
Als sie bei Cranston klopften, öffnete ihnen eine Magd und teilte vergnügt mit, daß Lady Maude noch im Bett liege; Sir John aber sei nach St. Mary Le Bow zur Messe gegangen.
Athelstan verbarg sein Lächeln und führte Benedicta geradewegs hinüber zum »Heiligen Lamm Gottes«, wo sie den Coroner in seiner Lieblingsecke beim Frühstück mit Fleischpastete und einem Krug Ale antrafen. Er begrüßte sie stürmisch und gab keine Ruhe, bis auch Benedicta und Athelstan etwas aßen. Dann hörte er aufmerksam zu, während Athelstan von seinem Besuch bei den Minoritinnen erzählte.
»Was können wir tun?« fragte Athelstan schließlich leise.
Cranston versenkte die Nase in seinem Krug. »Nun, zunächst einmal haben wir keinen Beweis dafür, daß Walter und Eleanor Hobden ein Verbrechen begangen haben; nach dem Gesetz haben wir also kein Recht, sie zu verhören. Aber ich bin der Coroner des Königs in der Stadt, und ich habe die Befugnis, einen Leichnam zu exhumieren. Hobden sagte, seine Frau ist in St. James Garlickhythe begraben?«
Athelstan nickte.
»Gut. Dann fangen wir da an.«
»Dürfen wir das denn, Sir John? Was wird es beweisen?«
»Erstens darf ich alles. Und zweitens - wer weiß, was wir finden?« Cranston schaute aus dem Fenster. »Wir werden bis zum Abend warten müssen. Ein Teil des Friedhofs dort wird als Markt benutzt.«
Athelstan schloß die Augen und seufzte. In St. Erconwald gab es soviel zu tun, aber, wie Sir John sagen würde: »Aleajacta est - die Würfel sind gefallen.«
»Nun, bist du nicht froh?« fragte Cranston und hob den Krug halb zum Munde.
»Da ist noch etwas, Sir John.« Und Athelstan berichtete von der Nachricht, die Ira Dei ihm am Abend zuvor hinterlassen hatte, und versuchte, Benedicta zu ignorieren, die verärgert nach Luft schnappte, weil er ihr von der Gefahr nichts erzählt hatte.
Cranston wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Das heißt nichts«, sagte er dann. »Gaunt war dumm. Ira Dei würde dir kaum vertrauen.«
»Ja, aber warum antwortet er mir so schnell?« fragte Athelstan. »Wer wußte von meiner Botschaft an Ira Dei?«
»Gaunt und die Gildemeister. Als sie uns vom Überfall auf Clifford berichteten, wurde auch darüber gesprochen.«
Das Gespräch brach ab, als die Wirtsfrau mit einer Schüssel Zuckerpflaumen für Sir John an den Tisch trat. Ganz in Gedanken nahm auch Athelstan eine und steckte sie in den Mund. Er wollte weitersprechen, merkte aber, wie dick die Pflaumen mit Honig und Zucker umhüllt waren. Sie klebten an Zähnen und Gaumen. Er entschuldigte sich, ging zur Tür und versuchte, den klebrigsüßen Leckerbissen loszuwerden. Plötzlich hielt er inne und starrte auf seine Finger.
»Wann habe ich das zuletzt getan?« fragte er sich leise.
Er sah sich nach Benedicta und Cranston um, die die Köpfe zusammengesteckt hatten und miteinander tuschelten; zweifellos erzählte der Coroner, was sich im Rathaus zugetragen hatte. Athelstan ging zu dem Lavarium in der hinteren Ecke der Schenke, tauchte die Hände in Rosenwasser und wischte sie an einem Handtuch ab. Er empfand ein leises Hochgefühl, denn zum ersten Mal seit Beginn dieser grausigen Morde sah er ein Licht flackern in der Dunkelheit. Er schaute zu einem gesalzenen Schinken hinauf, der am Deckenbalken der Schenke hing, und dachte an die Worte seines Mentors Pater Paul: »Denke immer daran, Athelstan«, hatte der Alte dröhnend gesagt, »jedes Problem hat eine schwache Stelle. Finde sie, brich sie auf, und die Lösung wird nicht lange auf sich warten lassen.«
»Was ist los mit dir, Bruder?« brüllte Cranston.
Athelstan setzte sich wieder. »Sir John, seid Ihr heute beschäftigt?«
»Natürlich! Ich bin ja kein verdammter Pfaffe!«
Athelstan lächelte. »Sir John, laßt uns die Schritte unseres Mörders noch einmal zurückverfolgen. Ich will noch einmal zum Rathaus gehen, in den Garten, wo Mountjoy starb, und in den Bankettsaal, in dem Fitzroy vergiftet wurde. Benedicta, möchtest du mitkommen?«
Die Frau nickte.
»Was ist denn los, Bruder?« fragte Cranston neugierig.
Athelstan grinste. »Nichts weiter, Sir John. Aber der Mörder könnte an einer Zuckerpflaume klebenbleiben.«
Er ließ sich kein weiteres Wort entlocken. Murrend ging Cranston mit ihnen durch die Cheapside zum Rathaus und über Gänge und Höfe in den kleinen Garten, wo Mountjoy erstochen worden war. Ein aufgeblasener Beamter wollte sie aufhalten, ergriff aber die Flucht, als Cranston ihn anknurrte. Benedicta schaute sich um, bestaunte den bronzenen Falken auf dem Springbrunnen und das klare Wasser, das aus Leopardenmäulern in den kleinen, von Lilien und anderen Wildblumen gesäumten Kanal strömte. Sie huschte durch den Laubengang aus dünnen, mit Weidenschnüren zusammengeflochtenen Stangen und bewunderte die Weinranken und Rosen, die sich um sie rankten. Als sie herauskam, war ihr Gesicht ganz rot vor Aufregung.
»Das ist wunderschön!« rief sie.
Athelstan deutete auf die kleine, umfriedete Laube. »Der Schauplatz des Mordes«, sagte er nüchtern. »Dort wurde Mountjoy umgebracht.«
Sie blieben am Zaun stehen. Wieder fragte sich Athelstan, wie der Mörder an den wilden Hunden vorbei zu Sir Gerard hatte vordringen können.
»Kommt, Sir John, laßt uns ein Maskenspiel veranstalten.«
Athelstan zog den Coroner am Ärmel, öffnete das kleine Tor und führte ihn in den Garten. »Setzt Euch auf die Rasenbank.« Er grinste. »Benedicta, du mußt so tun, als seist du ein Wolfshund.«
Beide grinsten und zuckten die Achseln, taten aber, was Athelstan wollte. Cranston ließ sich auf die Rasenbank fallen und nahm einen großen Schluck aus seinem Weinschlauch.
»So«, flüsterte Athelstan. »Sir Gerard sonnt sich mit seinen Hunden im Garten. Irgendwann an diesem Nachmittag wird er erstochen. Die Klinge wird tief in den Körper gestoßen; dennoch leistet er keinen Widerstand, und auch die wilden Hunde versuchen nicht, ihn zu verteidigen.« Athelstan ging zurück zum Gartentor und deutete auf die Ziegelmauer des Rathauses, die den Garten zur einen Seite begrenzte. »Von dort konnte ein Mörder nicht kommen.« Er drehte sich um. »Über den Zaun hinter Sir Gerard konnte er kaum klettern, denn der Sheriff und seine Hunde hätten ihn sofort bemerkt. Auch durch das Tor konnte er mit gezücktem Dolch nicht hereinkommen.«
»Und wenn doch?« fragte Benedicta. »Wenn es ein Freund war, den die Hunde gewähren ließen, weil ihr Herr ihn herzlich begrüßte?«
»Mountjoy hatte keine Freunde«, knurrte Cranston.
»Nein.« Benedicta wedelte mit den Händen. »Der Mörder kommt ganz dicht heran, zieht erst dann seinen Dolch und stößt ihn Sir Gerard in die Brust.«
Athelstan schüttelte den Kopf. »Möglich ist es«, sagte er, »aber kaum wahrscheinlich. Sir Gerard hätte zumindest gesehen, wie der Dolch gezogen wurde; der Mörder dürfte ihn kaum in der Hand gehabt haben, als er den Garten betrat. Es wäre zu einem Kampf gekommen, und die Hunde wären alarmiert worden. Vergiß nicht, Sir Gerard wurde ermordet, ohne daß es die Spuren eines Kampfes gegeben hätte.«
Benedicta streckte ihm die Zunge heraus.
»Es gibt nur eine Möglichkeit«, brummte Cranston und deutete auf die Zaunpfähle am unteren Ende des Gartens. »Der überdachte Gang zwischen der Küche und dem Rathaus.«
»Da sind Lücken im Zaun«, fügte Benedicta hinzu.
Athelstan schüttelte den Kopf. »Zu schmal, um einen Dolch mit solcher Wucht und Genauigkeit hindurchzuwerfen. Paßt auf und wartet hier.« Er nahm Cranstons Dolch, der dem des Mörders ziemlich ähnlich war, ging zurück ins Rathaus den dunkel überdachten Gang hinunter. Er blieb stehen, und durch Lücken im Zaun sah er Cranston gegenüber auf der Rasenbank sitzen. Er schob den Dolch durch die Lücke, sie war breit genug, aber er hatte recht: Niemand konnte einen Dolch hindurchwerfen. Athelstan kratzte sich am Kopf und kehrte zurück in den Garten. »Ein Rätsel«, murmelte er. »Kommt, laßt uns in den Bankettsaal gehen.«
Cranston sah Benedicta an und zog eine Grimasse, aber er folgte dem nachdenklichen Ordensbruder in den Bankettsaal. Der Raum lag verlassen da, und die Tische standen noch so wie an jenem schicksalhaften Abend. Athelstan löcherte Cranston mit Fragen.
Wer hatte wo gesessen? Was hatten sie gegessen? Wie spät hatte es angefangen?
Dann spazierte er ohne weitere Erklärungen davon, sagte nur, er wolle mit dem Truchseß sprechen, der an jenem Abend anwesend war.
Cranston hatte nichts dagegen. Er wußte, sein »kleiner Bruder« war einem Hasen auf der Spur und würde sich solange in das Problem vertiefen, bis er eine Lösung gefunden hätte. Außerdem war der Coroner nur zu gern bereit, sich hinzusetzen und mit der reizenden Benedicta zu schwatzen, die ihn eingehend nach Athelstans Geschichte von einem Dieb befragte, der die abgeschlagenen Verräterköpfe vom Torhaus an der London Bridge stahl. Schließlich kam Athelstan zurück.
»Nun?« fragte Cranston. »Hast du was gefunden? Hattest du Lust, deine Einsichten mit gewöhnlichen Sterblichen zu teilen?«
Athelstan grinste und tippte sich an die Schläfe. »Es ist noch alles durcheinander«, erklärte er. »Ich muß mich hinsetzen, alles aufschreiben und nachdenken.«
»Dazu gibt es keinen besseren Ort als das ›Heilige Lamm Gottes‹«, meinte Cranston.
Er führte sie zum Rathaus hinaus und auf einen geschäftigen Marktplatz. Die Stände waren inzwischen aufgebaut, und das Tagesgeschäft konnte beginnen. Lehrlinge priesen lautstark ihre Waren an, riefen Preise, und versuchten ab und zu, Vorübergehende am Ärmel festzuhalten. An der Straßenecke stand Cranstons verhaßter Reliquienhändler und sang die Litanei dessen, was er zu verkaufen hatte. Der Coroner blieb stehen, als der Kerl Reliquien aufzählte, vom Stein, mit dem Goliath erschlagen worden war, bis zum Arm des Hl. Sebbi.
»Ich habe diese Reliquien«, schrie der Mann, »an einem geheimen Ort, und ich habe sie zu einem besonders hohen Preis vom Erzbischof von Köln gekauft. Der Kopf des Täufers Johannes, wunderbar frisch, ganz wie an dem Tag, da der große Märtyrer starb. Ich sage Euch, Ihr Damen und Herren, Ihr frommen Bürger von London, sein Haar ist rot und weich, seine Haut so glatt wie die eines Kindes.«
Cranston grinste verächtlich und schüttelte den Kopf.
»Warum macht ihr verdammten Pfaffen diesem dummen Gewerbe kein Ende?« knurrte er.
»Ich frage mich, woher er die Haare des Täufers Johannes haben mag«, sagte Benedicta.
Cranston glotzte sie an. »Was hast du gesagt?« flüsterte er.
»Wie kommt er an den Kopf von Johannes dem Täufer? Und woher weiß er, daß der Prophet rote Haare hatte?«
Cranston packte die überraschte Frau und küßte sie auf beide Wangen.
»Kommt!« flüsterte er. »Zum ›Heiligen Lamm Gottes‹!«
Der Coroner drängte sich durch das Gewimmel. An der Art, wie er die Leute anbrüllte, ihm Platz zu machen, sah Athelstan, wie aufgeregt er war. Als sie in der Schenke angekommen waren, wühlte er in seiner breiten Börse und holte eine Silbermünze heraus.
»Benedicta, geh damit zu dem Reliquienhändler. Sag ihm, du hast noch fünf davon und willst den Kopf von Johannes dem Täufer kaufen.«
»Oh, um Himmels willen, Sir John!« warf Athelstan ein. »Ihr wißt doch, daß der Mann ein Betrüger ist. Es wird keinen Kopf geben, nur irgendeine dumme Taschenspielerei oder Täuschung. Wer weiß, vielleicht wird Benedicta sogar ausgeraubt?«
»Still, Athelstan!«
»Aber Sir John!« flehte Athelstan. »Ihr wißt es, und ich weiß es.«
»Was wissen wir?« schnappte Cranston.
»Er kann den Kopf des Täufers nicht haben …« Athelstan sprach nicht weiter. Er grinste Cranston an. »Ah! Um den Hl. Paulus zu zitieren, Mylord Coroner, ich sehe wie durch einen dunklen Spiegel.«
Cranston klatschte in die Hände wie ein Kind, und Benedicta, der die Versicherungen der beiden Männer in den Ohren klangen, ging, Cranstons Silber fest in der Hand, zurück über die Cheapside. Athelstan und Cranston sahen ihr nach. Benedicta blieb bei dem Reliquienhändler stehen, flüsterte ihm etwas zu, und der Mann hüpfte flink wie eine hungrige Möwe von seinem Stand herunter. Er führte sie durch eine Gasse davon, und Athelstan und Cranston folgten den beiden eilig. Cranston war aufgeregt, und Athelstan fürchtete für Benedictas Sicherheit, aber der Mann schien harmlos zu sein. Endlich bog er in eine Gasse ein, die zur Old Jewry hinunterführte. Vor einer Haustür blieb er stehen und sagte etwas zu Benedicta; sie nickte, und beide gingen hinein. Cranston und Athelstan eilten ihnen nach.
»Laß dem Mistkerl ein bißchen Zeit«, raunte Cranston.
Athelstan nickte. Cranston zählte leise, und als er bei dreißig angekommen war, trat er mit aller Kraft gegen die klapprige Tür, daß sie aus den rostigen Angeln flog. In dem Haus war es schmutzig und muffig, und als sie durch den Flur liefen, ließ ein schrecklicher Gestank Athelstan würgen. Sie hörten laute Stimmen; auch Benedictas war darunter. Sie fanden sie in einer kleinen Kammer im Hinterhaus, zusammen mit dem Reliquienhändler und seinem jungen Gehilfen. Benedicta war kreideweiß, und auch die beiden Betrüger erbleichten vor Schrecken über den Tumult und Cranstons Gebrüll. Vor ihnen auf dem Tisch lag der abgeschlagene Kopf eines rothaarigen Mannes mit halbgeschlossenen Augen; die violetten Lippen klafften auseinander. Wenn die beiden Reliquienhändler hätten fliehen können, wären sie verschwunden, aber so kauerten sie sich in eine Ecke, als der Coroner den Schädel packte und hochhob. Benedicta hatte genug gesehen; sie preßte eine Hand vor den Mund und stürzte zur Tür hinaus auf die Straße.
»So, so, meine Böckchen!« Cranston grinste. »Ihr seid beide verhaftet.«
»Weshalb?« rief der Reliquienhändler.
»Wegen Diebstahls von Eigentum der Krone, mein Freund, wegen Fälschung, wegen betrügerischer Handlungen und wegen Blasphemie. Das ist nicht der Kopf von Johannes dem Täufer; er gehört Jacques le Roux, dem französischen Piraten, der in der Themsemündung gefangengenommen und nach Recht und Gesetz hingerichtet wurde!« Cranston schaute sich in der Kammer um. »Mein Gott, hier stinkt es schlimmer als bei den Metzgern von Newgate!«
Athelstan vor sich herschiebend, ging er zur Tür hinaus; dann zog er den Schlüssel aus dem Schloß und sperrte die beiden sehr bedrückt aussehenden Reliquienhändler ein.
»Türen und Fenster gibt's hier nicht, Athelstan. Die Gauner können drinbleiben, bis ich den Schlüssel an die Bezirksbehörden übergeben habe. Jetzt wollen wir sehen, was dieses Schatzhaus noch so alles enthält.«
Athelstan folgte ihm, gab aber nach einer Weile angeekelt von den Dingen, die sie entdeckten, auf und ging zu Benedicta auf die Straße hinaus.
»Bei den Zähnen der Hölle!« flüsterte er, Cranston zitierend. »Man sollte das Haus bis auf die Grundmauern niederbrennen.«
Cranston aber kam stolzgeschwellt heraus. Er zog die Haustür hinter sich zu und schloß sie ab.
»Benedicta«, sagte er, »du bist ein Engel. Wo sonst soll ein Reliquienhändler einen Kopf finden, den er als Heiligenschädel verkaufen kann - wenn nicht auf dem Richtplatz?« Der Coroner rieb sich die Hände. »Wieder ein kleiner Sieg für den alten John, hm?«
Sie gingen zurück zur Cheapside und warteten, während Cranston die Behörden informierte und zu dem Haus schickte. Einer der Büttel aß gerade eine Fleischpastete und mampfte unverschämt, während Cranston mit ihm redete. Der Coroner grinste nur, als er die Männer davonmarschieren sah.
»Ich habe ihnen nicht gesagt, was sie erwartet«, sagte er heiter. »Aber der Kerl mit seiner Fleischpastete wird bald eine kurze, einprägsame Lektion erhalten.«
Er führte die beiden zurück ins »Heilige Lamm Gottes« und lachte laut, als Benedicta sich fragte, wie jemand dumm genug sein könne, solchen Gaunern zu vertrauen.
»Dumm!« wiederholte er. »Du kannst in jede beliebige Stadt in England, Frankreich oder jenseits des Rheins gehen, und du wirst Männer finden, Kirchenfürsten, hochgebildete und intelligente Priester, die ein Vermögen für einen schmutzigen Knochensplitter oder einen Lumpenfetzen ausgeben. Weißt du, hier in London habe ich von einem Kaufmann gehört, der hundert Pfund Sterling für ein Mundtuch bezahlt hat, mit dem St. Cuthbert sich die Lippen abgetupft hat. Bei den Eiern des Teufels!« Murmelnd entschuldigte er sich bei Benedicta. »Aber bei den Zähnen der Hölle! Ich wünschte, alles wäre so leicht. Bruder, hat unser Ausflug ins Rathaus irgendwas geklärt?«
Cranston ließ seinen mächtigen Hintern auf einen Stuhl sinken und schaute seinen Schreiber mitleidheischend an. »Athelstan«, flehte er, »früher oder später wird der Regent meinen Bericht verlangen.«
Der Bruder starrte auf die Tischplatte. »Mal sehen«, begann er langsam. »Wir wissen, warum Mountjoy und die beiden anderen ermordet wurden. Nicht wegen einer geheimen Sünde oder wegen persönlicher Rivalitäten, sondern um dem Regenten Knüppel zwischen die Beine zu werfen und um seine ehrgeizigen Pläne zu blockieren, mit denen er sich bei den Londoner Kaufleuten Unterstützung holen wollte. Nun, das ist gelungen, und so wird es keine Morde mehr geben. Zumindest vorläufig nicht.« Athelstan schwieg für einen Augenblick. »Ich bin sicher, daß man die Morde Ira Dei zur Last legen kann, habe aber den Verdacht, daß er nur der Architekt ist. In Gaunts Partei gibt es einen Verräter und einen Mörder: Goodman oder einer dieser mächtigen Gildeherren.«
»Warum, Sir John?« unterbrach Benedicta. »Warum ist der Attentäter dann nicht gegen Gaunt vorgegangen?«
»Weil der Teufel, den man kennt, Mylady, besser ist als der, den man nicht kennt. Jemand muß Regent sein - oder, um es unverblümter zu sagen, es muß einen geben, dem man die Schuld geben kann. Würde Gaunt beseitigt, käme einer seiner jüngeren Brüder auf seinen Stuhl. Nein, diese Morde dienen nur dazu, Gaunt die Flügel zu stutzen.«
»Hat unser Treffen mit den Gildeherren wegen Sturmeys Privatleben irgendwelche Folgen gehabt?« fragte Athelstan.
Cranston schüttelte den Kopf. »Bis jetzt noch nicht.«
»Sir Nicholas Hussey war ein Kind, als der Skandal sich ereignete?«
»Noch sehr jung«, antwortete Cranston. »Weiß der Himmel, vielleicht erinnert er sich an Getuschel; aber nichts in den Akten weist auf seine Beteiligung hin, nicht einmal als Opfer. Naja.« Er stellte seinen Humpen auf den Tisch. »Was machen wir jetzt?«
»Abwarten, Sir John, nachdenken, überlegen. Wie gesagt, die Morde im Rathaus sind keine Verbrechen aus Leidenschaft, sondern aus kalter Berechnung begangen worden. Ich bezweifle, daß wir weitere Spuren oder Hinweise entdecken werden. Wir müssen zusammentragen, was wir wissen, uns der Logik bedienen, und so die einzig richtige Lösung herausquetschen.«
»Wenn es sie gibt«, ergänzte Cranston müde.
Das Gespräch versandete. Cranstons Hochstimmung nach der Verhaftung der beiden Reliquienhändler wich einer Wolke von Düsternis, und der Coroner versank in dumpfes Brüten. Benedicta verabschiedete sich; sie hatte genug von Kadavern und Geheimnissen. Sir John ging mit Athelstan nach Hause, aber Lady Maude hatte zu tun, und die Kerlchen waren mit ihrer Amme draußen in den Feldern nördlich von St. Giles. Cranston wurde allmählich unerträglich, und so ließ Athelstan ihn für eine Weile allein und beschloß, seine Brüder in Blackfriars zu besuchen.
*
Der Ordensbruder kehrte zurück, als der Markt in der Cheapside einem frühen Ende entgegenging und die Leute nach Hause eilten, um sich auf den Sonntag vorzubereiten. Cranston war ein wenig erfrischt; er schlug ihm auf die Schulter, und sie gingen wieder ins »Heilige Lamm Gottes«, um sich dort mit Cranstons Freund und Leibarzt, Theobald de Troyes, zu treffen, den der Coroner am Nachmittag aufgesucht hatte.
»Seid Ihr sicher, daß Ihr kommen wollt?« fragte Cranston.
»Sir John, ich stehe Euch jederzeit zur Verfügung«, antwortete der Arzt. »Weiß der Priester in St. James Bescheid?«
»Ich habe einen Konstabier hingeschickt. Es werden Arbeiter da sein, die das Grab öffnen und Sarah Hobdens Sarg heben.« Sir John leckte sich die Lippen. »Vielleicht vorher noch etwas zu trinken?«
Aber Athelstan und der Arzt lehnten schlankweg ab; sie nahmen den widerstrebenden Coroner in die Mitte und eskortierten ihn von Westchepe über die Watling Street zur Cordwainer und weiter die Upper Thames Street hinauf bis zu der ziemlich düsteren Kirche von St. James Garlickhythe. Pfarrer Odo, der Priester dort, ein fröhlicher Mann mit roter Nase um so röter nach einer üppigen Mahlzeit -, kam aus dem Pfarrhaus und führte sie auf einen überwucherten Friedhof, wo drei Arbeiter im kühlen Schatten einer Eibe warteten. Zunächst herrschte absolute Verwirrung, als Pfarrer Odo das Friedhofsbuch zu lesen versuchte, um herauszufinden, wo Sarah Hobden begraben lag.
»Ich finde es nicht«, murmelte er und schwankte dabei gefährlich.
Athelstan spähte ihm über die Schulter und sah, daß der betrunkene Pfarrer das Buch verkehrtherum hielt. Er nahm es ihm aus der Hand.
»Laßt mich helfen, Pater«, erbot er sich sanft.
Der Ordensbruder warf Cranston einen trotzfunkelnden Blick zu und warnte ihn damit, ja nicht zu lachen. Dann setzte er sich auf einen Grabstein und blätterte in den Seiten, bis er den Eintrag gefunden hatte: »Sarah Hobden, obiit 1376, Nordwest.«
»Wo ist das, Pater?«
Odo deutete in die hintere Ecke des Friedhofs. Athelstan reichte ihm lächelnd das Friedhofsbuch zurück.
»Pater, setzt Euch hin und ruht ein wenig aus.« Er klopfte dem alten Priester sanft auf die Schulter.
»Untersteht Euch!« zischte er Cranston zu, als dessen Hand sich zu dem wunderbaren Weinschlauch unter seinem Mantel tastete. »Der arme Mann hat genug, und ehrlich gesagt, Sir John, ich auch!«
Sie riefen die Arbeiter herbei und gingen zu dem Teil des Friedhofs, auf den Pfarrer Odo gedeutet hatte. Nach einigem Suchen fanden sie Sarah Hobdens Grab, heruntergekommen, überwuchert und vernachlässigt: Auf dem verwitterten, schiefen Holzkreuz stand immer noch verblichen ihr Name. Cranston schnippte mit den Fingern, und die murrenden Arbeiter fingen an, den festgestampften Boden aufzuhacken.
»Was wird das beweisen?« fragte Athelstan.
»Ah.« Cranston lehnte sich an einen Grabstein und wiegte seinen Weinschlauch im Arm, als wäre es eines seiner Kerlchen. Er tippte sich an die Nase und bedeutete dem Arzt: »Master Theobald, unterrichtet unseren unwissenden Pfaffen.«
Der Arzt zwinkerte Athelstan zu. »Als ich Sir Johns Einladung erhielt, studierte ich noch einmal sorgfältig die Ursache des Todes.«
»Und?«
»Nun, wenn es sich um Arsen handelt, vor allem um rotes Arsen, dann werden wir womöglich das sehen, was das gemeine Volk ein Wunder nennt. Laßt Euch überraschen, Pater.«
Der Arzt trat zu den Arbeitern und schaute ihnen zu; ihre Spaten und Hacken lösten jetzt einen hohlen Klang aus, denn sie hatten den Sargdeckel erreicht. Noch mehr Erde wurde ausgegraben. Athelstan schaute sich auf dem Friedhof um, und ihn fröstelte. Die Schatten wurden länger. Die Vögel waren verstummt. Nur noch das Schnaufen der Arbeiter und das Rieseln der Erde unterbrach die geisterhafte Stille.
»Warum ist es an solchen Orten nur so ruhig?« dachte Athelstan und spitzte die Ohren. Nur mit Mühe hörte er das Schwatzen und Lachen der Händler und Kesselflicker, die auf der anderen Seite der Kirche ihre Stände abräumten.
»Wir sind soweit, Sir John!« rief der Arzt.
»Dann hievt ihn hoch, Jungs!«
Ein Arbeiter sprang hinunter auf den Sargdeckel und befestigte ein paar Taue, und nach allerlei Zerren und Fluchen wurde der ausgebleichte, lehmbedeckte Sarg aus dem Grab gewuchtet. Cranston dankte den Arbeitern und schickte sie zu Pfarrer Odo. Dann zog er seinen langen Dolch und begann, den Sargdeckel aufzustemmen. Athelstan sah aufmerksam zu, als die Schließen aufgebrochen wurden. Langsam und knarrend öffnete sich der Deckel, fast als ob der Mensch, der darunter lag, ihn hochstemmte und aufzustehen drohte. Athelstan schob die Hände in die Ärmel, schloß die Augen und betete.
Es ist Gottes Gerechtigkeit, dachte er. Dies ist Gottes Werk.
Der letzte Beschlag brach. Cranston hob das zerschlissene Laken. Athelstan öffnete die Augen, als er Cranston nach Luft schnappen hörte. Der Arzt kniete neben dem Sargdeckel und untersuchte sorgfältig, was darunter lag.
Athelstan holte tief Luft, trat an den hohen Holzsarg und schaute hinein. Sprachlos starrte er das Gesicht der Töten an: Es war fettig, weiß und wächsern, als sei es aus Kerzentalg. Das Antlitz zeigte keine Spur von Verwesung. Die Züge der Töten waren recht hübsch, oval und regelmäßig; der Mund war großzügig, die Nase adlerhaft kühn.
»Um Gottes willen!« hauchte Athelstan. »Sie ist seit drei Jahren tot! Sie müßte verwest sein!«