Neun

Auch Athelstan brütete, als er am nächsten Morgen nach der Messe auf den Altarstufen kniete. Bonaventura nicht mitgerechnet, waren nur drei Pfarrkinder beim Gottesdienst gewesen: Pemel, die Flamin, die Hure Cecily in ihrem bunten Taftkleid und Benedicta, die eben gegangen war. Die Witwe hatte Athelstan versprochen, Elizabeth Hobden und ihre Amme Anna am Vormittag zu den Minoritinnen zu bringen.

Athelstan nagte an den Fingerknöcheln und beobachtete die halb offene Kirchentür. Er war zornig und gekränkt und hoffte nur, daß er sich bei der bevorstehenden Begegnung würde beherrschen können.

Er bekreuzigte sich, stand auf, als er Schritte hörte, und ging durch das Kirchenschiff auf Pike, den Grabenbauer, zu, der voller Unbehagen am Taufbrunnen stand.

»Pater, Ihr habt mich rufen lassen?«

»Ja, Pike, das habe ich. Bitte mach die Tür zu.«

Pike ging zurück, schloß die Tür und drehte sich erstaunt um, als sein sanfter Pfarrer plötzlich wie ein angreifender Ritter auf ihn zugestürmt kam. Athelstan packte Pike bei seinem schmierigen Wams und stieß ihn rückwärts gegen die Tür. Der Mann wehrte sich nicht; die Wut, die in Athelstans Augen loderte, versetzte ihn in Angst und Schrecken.

»Pater, was ist denn?« stammelte er.

»Du verfluchter Judas!« Athelstan schüttelte ihn.

»Pike, ich bin dein Priester, und du hast mich verraten!«    

»Was meint Ihr damit?«

Aber Athelstan sah die Wahrheit im nervösen Blick des Grabenbauers. Er ließ ihn los, stieß ihn von sich und ging das Kirchenschiff hinauf.

»Lüg nicht, Pike!« donnerte er, und seine Worte hallten durch die Kirche. »Du weißt verdammt genau, was ich damit meine! Du warst der einzige, der gesehen hat, wie ich die Proklamation abgenommen habe, die Ira Dei an meine Tür genagelt hatte.« Athelstan fuhr herum. »Ehrlich gesagt, glaube ich, daß du sie dort angebracht hast! Na gut. Spiel du nur deine dummen, gefahrlichen Spiele von Aufstand und der Errichtung des Reiches Gottes hier in London. Aber sag mir, wissen deine Freunde, weiß die Große Gemeinschaft des Reiches, weiß Ira Dei, daß du ein Verräter bist? Ein Spitzel des John von Gaunt?« Athelstan kam zurück. »Und was würde mit dir passieren, wenn sie es herausfanden? Wie geht deine Geheimgesellschaft mit Verrätern um?«   

Pike ließ hilflos die Hände hängen, und Athelstans Zorn versiegte angesichts des blanken Entsetzens in Miene und Haltung des Mannes. Er blieb dicht vor dem Grabenbauer stehen.

»Um des Himmels willen, Pike, ich habe deine Kinder getauft! Ich gebe dir das Sakrament, ich habe dich bewundert, wie du von früh bis spät für einen Hungerlohn arbeitest, um deine Familie zu ernähren.« Athelstan holte tief Luft. »Du bist nicht wie ich, Pike. Ich habe keine Familie, um die ich mir Sorgen machen muß. Aber du bist ein guter Arbeiter, ein guter Ehemann, ein guter Vater. Um Gottes willen, warum spielst du den Judas bei einem Mann, der nicht nur ein Priester ist, sondern dein Freund? Konntest du mir nicht vertrauen?«

Pike wedelte hilflos mit den Händen, und Tränen rannen über seine schmutzigen Wangen.

»Herr im Himmel!« murmelte Athelstan. »Pike, ich will dir nicht drohen. Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Nicht einmal Sir John weiß etwas.«

Der Grabenbauer scharrte mit den Füßen. »So ist es ja nicht, Pater.«

»Was soll das heißen?«

»Vor drei Monaten«, antwortete Pike, »da haben ich und ein paar andere aus Southwark diesem wahnsinnigen Priester zugehört - Ihr wißt schon, der mit dem brennenden Kreuz vor St. James Garlickhythe. Da kamen die Soldaten, und wir wurden festgenommen. Ich hatte die Wahl: Ich konnte eine Buße zahlen oder Gaunts Spitzel werden. Die Strafe hätte mich vernichtet, und …« Seine Stimme versagte. 

»Und …?«

Pike hob trotzig den Kopf. »Glaubt nicht alles, was Ihr hört, Pater. Ich bin keiner von diesen Fanatikern. Oh, am Anfang schon, aber jetzt nicht mehr. Nicht, wenn sie von Gemetzel reden und davon, daß sie jeden Priester umbringen und die Guten mit den Bösen verbrennen wollen.« Er lachte säuerlich. »Pater, jemanden zu verraten, an den man nicht mehr glaubt, ist nicht schwer. Und Lord Gaunt hat inzwischen festgestellt, daß ich nicht der allerfähigste Spion bin. Also erzähle ich ihm von einer Nachricht an der Kirchtür. Oder daß ein Mitglied der Großen Gemeinschaft des Reiches in Southwark war - drei Tage, nachdem der Mann weg ist. Keine Sorge, Pater: Gaunt kann nichts mit dem anfangen, was ich erzähle.«

Athelstan betrachtete den großen, stämmigen Grabenbauer, der da mit hängendem Kopf vor ihm stand. Du bist der Inbegriff des gemeinen Mannes, sann Athelstan, gefangen zwischen den Dämonen, die alles zerstören, und denen, die alles bewahren wollen. Er streckte die Hände aus.

»Es tut mir leid. Du bist kein Verräter, kein Judas.«

Pike ergriff seine Hand. »Könnt Ihr mir helfen, Pater?«

Athelstan schürzte die Lippen. »Ja, ich glaube, das kann ich. Aber es wird Zeit brauchen. Tu jetzt nichts Unüberlegtes, Mann. Und …«

»Und was, Pater?«

»Was weißt du von Ira Dei?«

Pike lachte. »Pater, ich bin ein sehr kleines Blatt ganz unten an einem sehr hohen Baum. Ich weiß nicht einmal, wer die Rebellenführer sind. Niemand weiß, wer Ira Dei ist. Er kommt im Schutze der Dunkelheit, verkündet seine Botschaft und verschwindet ebenso geheimnisvoll wieder. Jeder könnte es sein. Lady Benedicta, Watkin, sogar Sir John Cranston.« Pike grinste. »Obwohl ich glaube, daß die Leute ihn erkennen würden. Pater, ich weiß nichts. Ich schwöre es beim Leben meiner Kinder.«

»Aber könntest du ihm eine Nachricht übermitteln?«

»Ich könnte sie gewissen Leuten sagen. Wieso?« Pikes Gesicht wurde sorgenvoll. »Pater, seht Euch vor. Habt keinen Umgang mit so gefährlichen Leuten, ob es nun Adlige sind oder Bauern. Wißt Ihr, was ich glaube? Es ist ein Streit zwischen den Ratten und den Frettchen darüber, wer über die Hühner herrschen soll.«

Athelstan lächelte, gerührt von Pikes Sorge.

»Die Nachricht ist einfach. Sag ihnen, Athelstan von St. Erconwald möchte Ira Dei treffen.« Er ließ Pike den Satz wiederholen.

»Ist das alles, Pater?«

»Ja. Ich habe dich jetzt lange genug aufgehalten. Und entschuldige meinen Wutausbruch.«

Pike zuckte die Achseln. »Man kriegt, was man verdient, Pater. Aber Ihr werdet mir helfen?«

»Natürlich!«

»Das werde ich Euch nie vergessen, Pater.«

Pike verschwand. Athelstan dachten an den langaufgeschossenen Sohn des Grabenbauers, der so unsterblich in Watkins Tochter verliebt war, und er starrte Bonaventura an, der die beiden höchst aufmerksam beobachtet hatte.

»Ja, ja, mein schlauer Kater«, sagte er leise. »Vielleicht wird der Sonntagmorgen doch nicht so schrecklich werden, hm?«

Athelstan schaute sich in der Kirche um und dachte an das Versprechen, das er einem anderen Pfarrkind gegeben hatte. Er schloß St. Erconwald ab und eilte durch die Straßen zu Ranulf, dem Rattenfänger. Dessen Haus war eine kleine, zweigeschossige Behausung an der Ecke einer engen Gasse. Der Rattenfänger mit dem bleichen, verkniffenen Gesicht erwartete ihn schon. Seine Kinder, die alle so aussahen wie er, drängten sich hinter ihrem Vater in der Tür, um den Priester willkommen zu heißen. Als Athelstan den dunklen Hausflur betrat, entsann er sich, daß Ranulf Witwer war; seine Frau war fünf Jahre zuvor im Kindbett gestorben. Gefolgt von seiner Brut, führte Ranulf Athelstan in einen kleinen Söller, der zugleich eine Art Werkstatt war. Athelstan schnupperte, als er dem Stuhl des Rattenfängers gegenüber auf einem Schemel Platz nahm. Die Kinder umringten den Priester und ließen ihn nicht aus den Augen.

»Gefallt Euch der Geruch, Pater?«

»Nun ja, Ranulf, abstoßend ist er nicht.«

Ranulf klopfte an seine schwarzgeteerte Jacke. »Ich habe sie mit Anissaat und Thymian eingerieben. Die Ratten mögen das.«

Er hielt inne, als seine älteste Tochter in einem zerlumpten schwarzen Kleid hereinkam und Athelstan und ihrem Vater mit feierlicher Miene eine wohlschmeckende Suppe servierte. Währendessen schaute der Priester sich um. In einer Ecke stand ein Käfig mit Spatzen, in einer anderen hingen Angelschnüre, ein Dachsfell, mehrere Senkbleie und Aalhaken.

»Mögt Ihr Ratten?« fragte Ranulf unvermittelt.

Athelstan starrte ihn an.

»Es gibt vier Arten, Pater. Scheunenratten, Gossenratten, Flußratten und Straßenratten. Die schlimmsten sind die Gossenratten - die sind schwarz.« Er schob den Ärmel seiner Teerjacke hoch und entblößte einen Unterarm, der von Narben übersät war. »Die schwarzen Ratten sind Drecksbiester, Pater. Entschuldigt, aber es sind wirklich Drecksbiester! Viermal bin ich an ihren Bissen fast gestorben. Einmal sind mir die Zähne der Ratte im Finger abgebrochen.« Er streckte die Hand aus. »Es war furchtbar schlimm - alles war geschwollen und faulte. Ich mußte die abgebrochenen Stücke mit einer Zange herausziehen. Überall haben sie mich schon gebissen, Pater.«

Athelstan fuhr zusammen, als ein kleines Pelztier, das von nirgendwo zu kommen schien, am Bein des Rattenfängers heraufrannte und auf seinem Schoß Platz nahm.

»Das ist Ferox«, erklärte Ranulf. »Mein Frettchen.«

Ungläubig starrte Athelstan das Geschöpf mit den kleinen schwarzen Augen und der zuckenden Nase an.

»Ferox bedeutet wild«, fuhr Ranulf fort, ohne daß Athelstan Gelegenheit hatte, etwas zu sagen. »Frettchen sind sehr gefährlich, aber Ferox ist gut abgerichtet. Er hat schon mindestens tausend Ratten zu ihrem Schöpfer heimgeschickt.«

Athelstan verbarg ein Grinsen; er aß seine Schüssel leer und gab sie dem Mädchen mitsamt dem Zinnlöffel zurück. Die übrigen Kinder standen immer noch da und starrten ihren Vater mit großen, bewundernden Augen an. Der Priester betrachtete die etwas vorstehenden Zähne des Rattenfängers, die spitze Nase und das bleiche Gesicht mit dem dünnen Schnurrbart, und er dachte an das Gespräch mit Pike. Ranulf war genauso: ein hart arbeitender Mann, ein guter Vater, einer der Kleinen auf Erde, so weit entfernt von Macht und Reichtum, und doch so nah bei Gott.

»Ranulf, du wolltest mit mir über die Zunft sprechen.«

»Ja, Pater. Wir möchten, daß St. Erconwald unsere Zunftkirche wird.« Ranulf schluckte nervös. »Die Zunft möchte in der Kirche zusammenkommen, und nachher würden wir gern unser Festmahl im Kirchenschiff einnehmen. Wäre Euch das recht, Pater?«

Athelstan nickte feierlich.

»Jeden dritten Samstag im Monat würden wir uns in St. Erconwald zur Messe treffen und hernach im Kirchenschiff unsere Zunftversammlung abhalten.«

Wieder nickte Athelstan.

»Und wir würden Euch jedes Vierteljahr zwei Pfund fünfzehn Shilling bezahlen.«

Athelstan vermutete, daß der Rattenfänger diesen Betrag für ziemlich niedrig hielt.

»Damit wäre ich überaus zufrieden«, antwortete er rasch.

»Seid Ihr sicher, Pater?«

»Natürlich.«

»Und Frauen und Kinder können auch dabeisein?«

»Warum nicht?«

»Und Ihr werdet unsere Frettchen und Fallen segnen?«

»Ganz ohne Zweifel.«

»Wißt Ihr auch einen Schutzheiligen für uns, Pater?«

Athelstan starrte ihn an. »Nein, Ranulf, da bin ich ratlos. Aber ich kann sicher einen für euch finden.«

Ranulf seufzte erleichtert und stand auf.

»Wenn das so ist, Pater, dann habt Ihr unseren Dank. Osric - das ist der oberste Rattenfänger von Southwark - wird den Vertrag aufsetzen. Er kennt einen Schreiber in St. Paul.«

»Ich kann das kostenlos machen«, sagte Athelstan und erhob sich ebenfalls.

Ranulf krähte entzückt und klatschte in die Hände. Seine Kinder ließen sich von seiner guten Stimmung anstecken und tanzten im Kreis um Athelstan herum, als sei er ihr Schutzpatron. Athelstans Blick fiel auf eine Falle an der Wand, und plötzlich mußte er an Cranstons armen Freund Oliver Ingham denken.    

»Sag, Ranulf, hast du schon einmal gehört, daß eine Ratte einen Leichnam angeknabbert hat?«

»Oh ja, Pater, die fressen alles.«

»Und du erlegst sie mit Fallen oder mit Frettchen?«

»Aye, und manchmal auch mit Gift, mit Belladonna oder Nachtschatten, wenn sie besonders gerissen sind.«

Athelstan bedankte sich lächelnd und ging zur Tür.

»Pater!«

Athelstan drehte sich noch einmal um. »Nein, Ranulf, bevor du fragst - Bonaventura ist nicht zu verkaufen. Aber wir können ihn ja als Mitglied eurer Zunft eintragen.«

Und Athelstan verabschiedete sich von Ranulf und seiner Familie. Er hatte die Gasse halb hinter sich, den Kopf immer noch voll von Ratten, Giften, Fallen und Frettchen, als er plötzlich mit offenem Mund stehenblieb: Er hatte eine Idee. Lächelnd schaute er hinauf zum heller werdenden Himmel.   

»Oh Herr, gesegnet bist Du«, flüsterte er. »Und wunderbar sind Deine Wege.«

Beinahe im Laufschritt kehrte er zum Haus des Rattenfängers zurück und hämmerte an die Tür. Ranulf geriet in helle Aufregung, als Athelstan ihn bei der Schulter packte.

»Pater, was ist denn?«

»Du mußt mitkommen. Sofort, Ranulf! Du mußt mit mir zu Sir John kommen! Ranulf, bitte, ich brauche deine Hilfe.«

Der Rattenfänger ließ sich nicht zweimal bitten. Er ging ins Haus, rief seiner Töchter ein paar Anweisungen zu, küßte seine Kinder, nahm Ferox mit, der wohlverwahrt in einem kleinen Käfig saß, und eilte mit Athelstan durch die Straßen von Southwark hinunter zur London Bridge.

*

Rosamund Ingham erbleichte, als sie auf Sir Johns beharrliches Klopfen die Tür öffnete. Sie blieb in der halb offenen Tür und funkelte erst den Coroner an, dann Athelstan, hinter dem Ranulf stand. »Was habt Ihr, Mistress?« begrüßte Cranston sie. »Ihr seht aus, als hättet Ihr ein Gespenst gesehen!«

»Was wollt Ihr?«

»Ihr habt mich gestern abend gebeten, die Siegel von der Tür Eures verstorbenen Gatten zu entfernen, und deshalb bin ich hier.« Er stieß die Tür weiter auf. »Wir können doch hereinkommen, oder? Ich danke recht sehr.«

Er sah Albric in dem mit Steinplatten ausgelegten Hausflur stehen, und schon aus dieser Entfernung konnte Cranston erkennen, daß der junge Stutzer sichtlich Angst hatte.

»Dann bringe ich Euch am besten gleich hinauf zu seiner Kammer.« Rosamund hatte ihre Fassung rasch wiedergewonnen, und auf ihrem schnippischen Gesicht stand wieder ein wenig von der alten Härte.

Athelstan winkte sie weiter. »Wenn Ihr so gut sein wolltet, Mistress.«

Cranston zwinkerte ihm zu. »Für einen Mönch, Bruder, hast du eine nadelspitze Zunge!«

»Ordensbruder!« zischte Athelstan.

»Na, noch besser«, wisperte Cranston, als sie die Treppe hinaufstiegen.

Athelstan senkte den Blick, um Mistress Inghams wippende Hüften nicht anzustarren. Durch und durch kokett, dachte er und wußte, daß Cranston ein gröberes Wort benutzt hätte. Er warf einen Blick zu seinem dicken Freund, der hinter ihm ging. Auf den Lippen des Coroners spielte ein Lächeln, aber seine hellblauen Augen waren hart vor Wut. Oben angekommen, riß Cranston die Siegel von der Tür und stieß sie auf.

»Warum sind die hier?« Rosamund deutete mit zierlichem Finger auf Athelstan und Ranulf.

»Erstens, weil sie Beamte sind wie ich!« blaffte Cranston. »Und zweitens, Mistress, weil ich sie hierhaben will. Ihr habt doch sicher nichts dagegen?«

Rosamund schob sich zwischen Sir John und die offene Tür. »Ihr habt die Siegel abgenommen!« zischte sie. »Jetzt geht!«

»Ach, wußtet Ihr das nicht?« Cranston zog die Brauen hoch. »Wenn der Coroner des Königs ein Zimmer entsiegelt, muß er sich davon überzeugen, daß alles so ist, wie er es verlassen hat. Ich habt doch sicher nichts dagegen?«

Die Frau preßte die Lippen zusammen, und Cranston ließ alle Schauspielerei fallen. »Ich bin nicht als Freund des verstorbenen Sir Oliver hier«, knurrte er und warf einen Blick auf Rosamunds schwarzes Kleid. »Ich nehme an, das Requiem war kurz und süß?«

»Es war vor einer Stunde zu Ende.«

Cranston schob sie beiseite. »Ich bin der Coroner des Königs«, erklärte er. »Ich wünsche diesen Raum zu besichtigen, und ich wäre Euch dankbar, Mistress, wenn Ihr und diese Kreatur da unten sich bereithalten würdet, mir gewisse Fragen zu beantworten.«

Rosamund rauschte davon, aber Athelstan sah die Angst in ihrem Gesicht und wußte, daß Sir John recht hatte. Sie war eine Mörderin und ohne Zweifel auch verantwortlich für den gestrigen mörderischen Überfall auf den Coroner. Als er Cranston in die Kammer folgte, betete er stumm, daß Rosamund und ihr windelweicher Liebhaber in die ihnen gestellte Falle gehen möchten, und daß auch Ranulf ihre Erwartungen rechtfertigen würde. 

Schweigend und ernst schaute Cranston sich in der Schlafkammer um. Stäubchen tanzten in dem Sonnenstrahl, der durch ein Glasfenster hereinfiel. Der Coroner öffnete die Läden vor einem zweiten Fenster, nahm einen Schluck aus seinem Weinschlauch und erlaubte Ranulf in einem Akt beispielloser Großzügigkeit, ebenfalls etwas davon zu trinken.

»So, mein Junge.« Er schlug dem Rattenfänger auf die Schulter. »Wie würde es dir gefallen, zum obersten Rattenfänger für die Stadtbezirke Castle Baynard, Queenshite und The Vintry ernannt zu werden?«

Ranulf strahlte vor Freude.

»Wenn es soweit ist, mein Junge, vielleicht. Aber vorher mußt du ein paar Ratten für mich finden -vorzugsweise tote.«

Ranulf nahm Ferox aus seinem kleinen Käfig, den er unter dem Mantel getragen hatte. Sofort wich Cranston einen Schritt zurück.

»Du weißt, was wir suchen, aber halte dieses verfluchte Biest fern von mir! Mir graut vor Frettchen. Ich kannte einen Mann, der einmal eines in seine Hose krabbeln ließ. Am Ende war er kastriert!«

Ranulf grinste und streichelte das neugierige Frettchen zwischen den Ohren. Das Frettchen starrte Cranston an, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Oh, zum Teufel damit!« sagte der Coroner.

»Sir John, wenn Ihr Euch wirklich fürchtet«, meinte Ranulf und deutete auf eine kleine Bank, »dann solltet Ihr vielleicht dort hinaufsteigen.«

Cranston schaute ihn mißtrauisch an, aber Ranulf verzog keine Miene.

»Lord Coroner, diesen Rat gebe ich allen meinen nervösen Kunden.«

»Tut lieber, was er sagt«, riet Athelstan lächelnd. »Ihr wißt, wie sehr Bonaventura Euch liebt. Ferox hat vielleicht ähnliche Neigungen.«

Cranston brauchte keine zweite Aufforderung; wie ein Riese stand er auf der kleinen Bank, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und kräftigte sich mit großen Schlucken aus dem wunderbaren Weinschlauch. Ranulf hielt Ferox an seine Lippen und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Was machst du da?« dröhnte Cranston.

»Ich sage ihm, was er tun soll.«

»Oh, verflucht, sei doch nicht albern, Mann!«

Behutsam setzte Ranulf Ferox auf die Bodendielen. Das Frettchen schnüffelte ein paar Augenblicke, dann lief es pfeilschnell unter das große, vierpfostige Bett. Athelstan trat an den kleinen Tisch und nahm den unverschlossenen Krug in die Hand.

»Darin war der Fingerhut, sagt Ihr?«

Cranston nickte stumm, ohne das Bett aus den Augen zu lassen.

»Und Ihr sagt, er war umgestoßen und die Medizin ausgelaufen?«

»Ja, Bruder, ja, aber laß das jetzt! Was treibt dieses verfluchte Frettchen da?«

Cranstons Frage wurde beantwortet. Plötzlich erhob sich ein heftiges Geraschel unter dem Bett, und Ferox kam hervor. Seine kleine Schnauze war blutig, und er zerrte eine fette, langschwänzige braune Ratte ans Licht.

»Braver Junge«, flüsterte Ranulf.

»Das verfluchte Biest ist genauso blöd wie du, Ranulf!« brüllte Cranston. »Er ist nicht hier, um verfluchte Ratten umzubringen, sondern um tote zu finden!« Ranulf nahm die tote Ratte, öffnete ein Fenster und warf sie auf die Straße.

Ferox machte sich von neuem auf die Suche. Die Zeit verging. Athelstan beobachtete das fleißige kleine Frettchen und versuchte, nicht zu Cranston hinüberzuschauen, der nach etlichen Schlucken aus seinem Weinschlauch auf seiner Bank ziemlich bedrohlich zu schwanken begann. Immer wieder hob Ranulf das Frettchen auf und schob es unter Schränke und hinter Truhen. Manchmal kehrte das Tier gleich zurück, dann wieder ging ein gespenstisches Rascheln los, ein markerschütternder Schrei ertönte, und Ferox kam mit einer toten Ratte heraus. Athelstan mußte sich abwenden, als Cranston anfing, lautstarke Schmähreden zu führen. Einmal klopfte Rosamund an die Tür. Cranston brüllte, sie solle abhauen, und befahl seinem »grinsenden Mönch«, wie er Athelstan nannte, die Tür zu verriegeln.

Endlich war Ranulf fertig. Ferox kam wieder in seinen Käfig. Cranston kletterte von seiner hohen Warte herunter, und alle drei machten sich daran, das Bett und die Möbel zu verrücken. Ranulf stemmte sogar die Bodendielen hoch, aber sie konnten nichts finden. Schließlich standen alle drei mit hochroten Gesichtern und schweißüberströmt in der Mitte der Kammer. Cranston war sichtlich beschwingt. Er schlug Athelstan und Ranulf auf die Schultern und entschuldigte sich, weil er Ranulf angeschrien hatte.

»Ich spendiere dir den besten Rotwein in London«, schwor er. »Und für deinen kleinen Freund gibt's auch etwas zu trinken.«

»Er mag Malmsey, Sir John.«

»Von mir aus kann er in dem verfluchten Zeug ein Bad nehmen! Aber bist du sicher?«

Ranulf nickte.

»Wenn es so ist, sollten wir es mit dem Krug probieren.«

Er nahm den kleinen Krug, füllte ihn aus seinem Weinschlauch bis zum Rand und hob ihn zum Mund.

»Sir John, seid Ihr sicher?«

»Ach, um Himmels willen, Athelstan, ich werde es ja gleich herausfinden.« Er trank den Krug bis zum letzten Tropfen leer. »A lea jacta est.'« erklärte er. »Die Würfel sind gefallen! Jetzt laßt uns zu dem Luder hinuntergehen.«

Sie stiegen hinunter in den Söller, wo die verbissen dreinblickende Rosamund und ein sehr viel nervöserer Albric saßen und auf sie warteten.

»Sir John!« Die Frau erhob sich. »Ihr seid jetzt seit einer guten Stunde in meinem Hause. Verschwindet endlich!«

»Ich bin noch nicht fertig«, kläffte er und trat dicht vor sie.

»Ja, was wollt Ihr denn noch? Diese lächerlichen Anschuldigungen!«

Cranston holte tief Luft. »Rosamund Ingham und Ihr, Albric Totnes: Ich, Sir John Cranston, der Coroner des Königs in dieser Stadt, verhafte Euch wegen Mordes und Verrats.«    

Rosamund wurde bleich und starrte ihn an. Albric plumpste auf einen Stuhl und hielt sich den Bauch; seine Augen wurden feucht, und sein Mund stand offen. Er war die leichtere Beute, das erkannte Athelstan. »Oh Herr«, intonierte er, die Psalmen zitierend, »strecke aus Deine Hand und zeige Deine Gerechtigkeit.«

Rosamund hatte die Fassung rasch wiedergefunden. »Mord? Verrat? Was soll dieser Unsinn?«

»Das wißt Ihr ganz genau, Mistress.« Cranston holte den kleinen Krug, den er aus der Schlafkammer mitgenommen hatte, aus seinem weiten Ärmel. »In Anwesenheit von Zeugen gebt Ihr zu, Mistress, daß dieser Krug die Medizin Eures verstorbenen Gemahls enthielt, eine Tinktur aus Fingerhut oder Digitalis? Eine Medizin, die, wenn ich recht verstehe, das Herz kräftigen kann, wenn sie in kleinen Dosen verabreicht wird?«   

»Ja, so ist es. Was wollt Ihr sagen, Sir John? Daß mein Mann zuviel genommen hat? Er hat sich immer selbst eingegossen. Niemand sonst durfte den Krug anrühren.«

Cranston nickte. »Und würdet Ihr mir in Gegenwart von Zeugen auch zustimmen, daß dies der Krug ist, der in der Kammer Eures Gatten blieb, als ich die Tür versiegelte, und daß Euer Gatte ihn im Todeskampf umgestoßen hat?«

»Ja, ja.«

Ein Geräusch an der Tür veranlaßte Cranston, sich umzudrehen. Er rief den alten Diener herbei.

»Gerade zur rechten Zeit, mein Freund«, dröhnte er. »Ich könnte noch einen Zeugen gebrauchen. Sagt mir, Mistress« - er wandte sich wieder der Frau zu -, »habt Ihr schon einmal Fingerhuttinktur gekostet?«

»Selbstverständlich nicht! Sir John, Ihr habt ja getrunken.«

»Oh ja. Ja, das habe ich. Ich habe sogar aus diesem Krug getrunken.«

Athelstan warf einen raschen Blick zu Albric hinüber. Der Mann mochte ein Feigling sein, aber seinem Gesicht war anzusehen, daß er bereits erraten hatte, worauf Cranston mit seinem Verhör abzielte, und das schien sein Entsetzen nur zu steigern.

»Nun«, fuhr Cranston gleichmütig fort. »Fingerhut schmeckt beinahe nach nichts. Und so habt Ihr Euren Mann ermordet. Er bewahrte den Hauptvorrat seiner Arznei in einer verschlossenen Flasche in der Speisekammer auf. Er wußte nicht, daß Ihr vielleicht einen Monat vor seinem Tod die ganze Medizin weggeschüttet und durch ganz harmloses Wasser ersetzt hattet.«

»Seid nicht albern. Das hätte mein Mann doch gemerkt.«

Cranston grinste. »Und wo ist die Flasche?«

»Ich habe sie weggeworfen!« stammelte Rosamund.

»So, so«, erwiderte Cranston. »Und warum solltet Ihr das getan haben?«

»Weil sie nicht mehr gebraucht wurde.«

»Quatsch! Weil Ihr den Beweis vernichten wolltet. Er hätte nie etwas gemerkt. Schließlich«, fuhr Cranston fort, »sehen wir immer nur das, was wir zu sehen erwarten. Von meinen Medizinerfreunden weiß ich, daß Fingerhut in flüssiger Form klar und geschmacklos ist. Vielleicht habt Ihr etwas hineingerührt, um die Flüssigkeit dicker zu machen? Worum geht's hier, Weib? Da haben wir einen Mann mit schwachem Herzen, krank vor Sorgen wegen seiner treulosen Frau, dem seit Wochen die lebensrettende Medizin vorenthalten wird. Oh ja, Sir Oliver - Gott schenke seiner Seele die ewige Ruhe - starb an einem Herzanfall. Aber Ihr habt ihn herbeigeführt! Bruder Athelstan hier ist Theologe.« Cranston warf einen kurzen Blick auf Albric, der zusammengesunken auf seinem Stuhl hockte, die Arme fest vor der Brust verschränkt. »Athelstan wird Euch erklären, daß es zwei Arten von Sünde gibt: die tätige Sünde und die Sünde der Unterlassung. Albric, du weißt, was Unterlassung bedeutet?«

Der junge Stutzer schüttelte den Kopf.

»Es bedeutet, du hinterlistiger kleiner Scheißer, daß du eine böse Tat begehst, indem du etwas nicht tust. Du kannst einen Mann ermorden, indem du ihn in den Fluß wirfst. Aber du kannst ihn auch ermorden, indem du ihn nicht herausziehst.«

»Was für Beweise habt Ihr?« wollte Rosamund wissen.

»Genug, um Euch zu hängen«, versetzte Cranston scharf und trat vor. »Seht Ihr, als Euer Gemahl starb, mitten in seinem Herzanfall, da schlug er um sich und stieß mit der Hand den Medizinkrug um, so daß die Flüssigkeit herausfloß. Nun ist dieses Haus voller Ratten, und die Tiere sind neugierig und hungrig.« Cranston konnte vor Wut kaum sprechen.

»Mylord Coroner will sagen«, sprang Athelstan ihm ruhig bei, »wenn eine Ratte den Leichnam eines Menschen anknabbert, dann wird sie ganz sicher jede Flüssigkeit aufschlecken, die sie findet. Ich habe mir den Tisch angeschaut«, log er, »und dieser berufsmäßige Rattenfänger hat es ebenfalls getan. Auf dem Tisch sind Spuren von Ratten. Ihre Spuren und auch ihr Kot finden sich überall in dieser Kammer.« Er warf Ranulf einen Blick zu, und der nickte weise. »Was noch wichtiger ist«, fuhr er fort, »und mein guter Freund hier wird es beschwören: Wenn eine Ratte Fingerhuttinktur trinkt, dann wird sie gleich sterben. Aber wir haben keine toten Ratten in der Kammer gefunden.« Athelstan bemühte sich um eine überzeugende Miene. Er bluffte, denn kein Richter würde jemanden aufgrund solcher Beweise verurteilen. Als er Albric stöhnen hörte, setzte sein Herz fast aus. Der junge Mann löste die verschränkten Arme und wollte aufstehen.

»Das ist Unsinn!« fauchte Rosamund, und ihre Augen schimmerten triumphierend. »Erstens könnte sich die Ratte fortschleichen, um irgendwo zu verrecken, und tote Ratten haben wir im Haus schon gefunden, nicht wahr, Albric?« Der junge Mann war totenbleich; er nickte nur.

»Unmöglich!« Ranulf hatte die Lage erkannt und ergriff nun das Wort. »Fingerhut tötet eine Ratte auf der Stelle, das schwöre ich. Ja, ich könnte es Euch sogar vorführen.«

Albric setzte sich wieder und starrte Athelstan furchtsam an.

»Ihr habt von Verrat gesprochen.« Rosamund redete hastig, um ihre Verwirrung zu überspielen.

»Ja, das habe ich«, sagte Cranston leise. »Gestern nacht wurde ich von Strauchdieben überfallen. Ich schlug sie in die Flucht, aber einen konnte ich gefangennehmen«, log er. »Er hat mir gestanden, daß Ihr sie gedungen hattet, um mich zu ermorden.«

»Unfug!«

»Er hat Euren Namen genannt.«

»Ach, das ist lächerlich!« höhnte sie. »Ihr wollt mich beschuldigen, ich hätte drei Strauchdiebe gedungen?«

Cranston grinste. »Woher wißt ihr, daß es drei waren?«

Der Hohn in Rosamunds Miene erstarb.

»Dich haben sie auch genannt.« Cranston nickte Albric zu.

»Das kann nicht sein!« zischte der junge Mann und funkelte Rosamund wütend an. »Du hast gesagt, es besteht keine Gefahr dabei.«

»Oh, halt dein Maul, du Dummkopf!« Sie setzte sich und schlug die Hände vors Gesicht.

Athelstan atmete aus; er merkte, daß er sich die Fingernägel in die Handflächen gebohrt hatte. Er trat zu dem jungen Mann.

»Gesteht«, sagte er leise. »Macht Euch zum Zeugen der Krone, und wer weiß, was der Coroner alles für Euch tun kann.« 

Athelstan hockte sich nieder und tätschelte dem jungen Mann die Hand. Albric starrte nur zu Boden, und er richtete sich wieder auf.

»Ich werde gestehen«, murmelte Albric.

Rosamund reckte Athelstan ihr tränennasses, haßerfülltes Antlitz entgegen. »Halt's Maul, du verfluchter Pfaffe! Du zerlumpter Halbmann! Ich hab's für dich getan!« zischte sie Albric zu. »Für dich habe ich's getan!«

Er schüttelte den Kopf. »Wir sind fertig miteinander«, flüsterte er.

Cranston wandte sich um und winkte den Diener herbei. »Schnell, geh die Straße hinunter. In der Schenke zum Mond und Käfig findest du vier Wachsoldaten. Die bringst du sofort her!«

Der Hausdiener eilte davon. Athelstan und Cranston gingen zur Haustür und warteten auf die vier Soldaten der Stadtwache. Cranston erteilte ihnen flüsternd ein paar Anweisungen, dann ging er mit seinem Gefährten hinaus, während Rosamunds Zorn sich zur Hysterie steigerte. Rasend vor Wut kreischte sie Cranston und Athelstan hinterher, als die Soldaten sie und Albric in die Ketten legten, die sie mitgebracht hatten.

Draußen auf der Straße blieb Cranston stehen. Seine Augen schwammen in Tränen. »Ich bringe kein Wort hervor«, sagte er, schüttelte Athelstan und dann Ranulf förmlich die Hand und wischte sich eine Träne ab. »Kommt. Bei Olivers Totenmesse war ich nicht dabei, aber zu seinem Grabtrunk will ich euch einladen.« Er deutete auf Ferox, der jetzt friedlich in seinem Käfig döste. »Und unser kleiner Freund hier darf betrunken nach Hause gehen.«