Cranston und Athelstan hatten St. Erconwald bald erreicht. Während der Coroner es sich im Hause des Priesters gemütlich machte, schloß Athelstan die Kirche auf und kniete am Lettner nieder, um sein Stundengebet zu sprechen. Er hatte Mühe, sich auf die Worte des Psalmendichters zu konzentrieren, und die Worte »Ein Meer von Plagen« ließen ihn nicht los. Er hielt inne und dachte an die Probleme, die ihn und Cranston erwarteten, und an die Möglichkeit, daß der Regent sogar in dieser kleinen Pfarrgemeinde von St. Erconwald seine Spitzel hatte. Der Bruder hockte sich auf die Fersen und schaute zum Kruzifix hinauf. Er hoffte, die Prüfung heute abend würde die erste und die letzte sein; im stillen gelobte Athelstan, dann alle seine Kräfte diesem Ira Dei und den schrecklichen Mordtaten zu widmen, die im Rathaus und anderswo begangen worden waren.
Er spähte zu der neuen, wunderschön gemeißelten Statue des Hl. Erconwald hinüber, des Schutzheiligen seiner Pfarrei, und er lächelte. Erconwald war ein großer Bischof in London gewesen, ein Mann, der in dieser betriebsamen Stadt mit vielen Problemen zu kämpfen hatte, bevor er sich in die Einsamkeit eines Klosters in Barking zurückzog. Voller Mitgefühl betrachtete der Bruder das starre, fromme Gesicht und war so in Gedanken versunken, daß ihn eine sanfte Berührung an der Schulter zusammenfahren ließ.
»Pater, es tut mir leid.«
Athelstan drehte sich um und sah Benedicta, die besorgt auf ihn herabblickte.
»Pater, Ihr habt doch gesagt, ich soll zur Vesper wieder herkommen?«
Athelstan rieb sich die Augen und lächelte. »Benedicta, schön, daß du gekommen bist. Warte hier.«
Er stieg die Altarstufen hinauf, öffnete das Tabernakel und nahm die Heiligen Öle heraus und aus der Sakristei eine Flasche mit Weihwasser und ein Aspergillum. Er tat alles in eine kleine Ledertasche und kam wieder in die Kirche.
»Ich nehme an«, sagte er mit gespielter Strenge, »daß in der Pfarrei alles in Ordnung ist?«
»Still wie das Meer vor dem Sturm«, neckte sie.
Sie verließen die Kirche, schlössen ab und gingen hinüber zu Cranston, der mit weit offenem Mund und zurückgelegtem Kopf auf Athelstans einzigem Stuhl saß und schnarchte, was das Zeug hielt, während Bonaventura zusammengerollt auf seinem breiten Schoß ruhte.
»Oh, du dummer Kater«, flüsterte Athelstan und hob ihn behutsam herunter, ehe er Cranston wachrüttelte.
Der Coroner erwachte wie üblich mit einem Schmatzen, begrüßte Benedicta und ging dann auf Athelstans Drängen in die Speisekammer, um sich Hände und Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen. Erfrischt kehrte er zurück und dröhnte, nun sei er bereit, es mit dem Teufel und jedem anderen aufzunehmen.
Die drei verließen St. Erconwald, ein jeder versunken in seine Vorstellung von dem, was geschehen würde, und sie wanderten durch die engen Gassen und Sträßchen von Southwark. Es war kurz vor der Abenddämmerung. Geschäfte und Stände waren geschlossen, und die Menschen gingen nach Hause. Die Geschäfte des Tages waren getan, und die wilden Nachtfalken von Southwark, die wüsten Zecher und Bewohner der Unterwelt, würden erst aus ihren Rattenlöchern kommen, wenn es vollends dunkel wäre. Bevor sie die breite Hauptstraße überquerten, die zur London Bridge führte, blieben sie stehen und sahen zu, wie ein Trupp Ritter zu Pferde vorüberzog, strahlend bunt in ihren vielfarbigen Wappenmänteln. Mächtige Kriegshelme schwangen an den Sattelhörnern. Knappen und Pagen folgten ihnen mit Schilden und Lanzen sowie zwei Reihen von staubigen Bogenschützen, die von Southwark zur alten Straße nach Süden, nach Dover, marschierten.
»Jetzt sind viele von denen unterwegs«, bemerkte Cranston. »Die Franzosen greifen inzwischen alle wichtigen Häfen am Kanal an, und der Regent braucht verzweifelt Soldaten. Wenn er noch mehr aus Hedingham und den anderen Burgen nördlich von London abzieht, könnte das schließlich den Aufstand auslösen.«
Cranston sah zu, wie die Bogenschützen vorübermarschierten, abgehärtete Männer mit kurzgeschnittenen Haaren und wettergegerbten Gesichtern, Veteranen, die mit jedem Bauernaufstand kurzen Prozeß machen würden.
»Was wirst du tun?« fragte er Athelstan plötzlich. »Ich meine, wenn der Aufstand kommt?«
Der Bruder verzog das Gesicht. »Ich werde Benedicta fortschicken und jeden, der aus dem Auge des Wirbelsturms entfliehen will. Und dann werde ich in meiner Kirche bleiben.«
Auch Athelstan betrachtete die Soldaten. Sie erinnerten ihn an seinen Bruder Francis und an sich selbst, als sie mit den englischen Truppen ihren kurzen und ruhmlosen Feldzug nach Frankreich unternommen hatten. Er war heimgekehrt und hatte Francis in irgendeinem Massengrab zurückgelassen. Wie immer, wenn er an seinen Bruder dachte, schloß Athelstan die Augen und flüsterte ein kurzes Totengebet für den Frieden seiner Seele.
Sie setzten ihre Reise fort und erreichten schließlich das schmale, dreistöckige Haus der Hobdens. Athelstan schaute daran hinauf. Er sah eine einzelne Kerze in einem Fenster im Obergeschoß brennen, und ihn fröstelte.
»Christus und alle seine Engel mögen uns beschützen!« flüsterte er und klopfte an die Tür.
»Keine Angst!« drängte Cranston. »John Cranston ist da.«
»Ja«, flüsterte Benedicta. »Ich glaube, Engel gibt es in allen Formen und Größen.«
Cranston wollte gerade zu einer schnippischen Antwort ansetzen, als die Tür sich öffnete. Walter und Eleanor Hobden begrüßten sie. Athelstan empfand sofort Abneigung gegen alle beide. Der Mann wirkte verschlagen und heimlichtuerisch, und Eleanor mit ihren scharfen Zügen und dem bohrenden Blick sah aus wie eine richtige Hexe.
»Pater, seid willkommen.«
Die Hobdens traten beiseite und ließen sie eintreten. Als Athelstan in den dunklen Hausflur trat, bemühte er sich, seine bange Unruhe und das Frösteln der Erwartung niederzukämpfen; er war angespannt, als erwarte er einen Schlag.
»Ich habe Sir John mitgebracht«, erklärte er stockend. »Sir John Cranston, den Coroner der Stadt. Und das ist Benedicta, ein Mitglied meines Gemeinderats.« Er lächelte unsicher. »In solchen Fällen ist es am besten, wenn man Zeugen hat.«
Die Hobdens standen rechts und links vom Feuer und schauten sie nur mit harten Augen an; Athelstan hatte Mühe, sein wachsendes Unbehagen zu unterdrücken. Was mochte hier vorgehen? Wieso machte dieses Haus ihm solche Angst? Er kannte die Hobdens kaum, und doch fand er die Atmosphäre in ihrem Haus bedrückend und vom unsagbar Bösen erfüllt.
»Wo ist eure Tochter?« fragte er und merkte wohl, wie bedrückt auch Cranston und Benedicta geworden waren. Er warf einen Blick über die Schulter. Cranstons sonst so fröhliches Gesicht wirkte jetzt ernst und düster, als habe das Haus seinen gewohnten Überschwang verschluckt.
»Elizabeth ist oben«, murmelte Walter Hobden. »Pater, habt Ihr Ol und Weihwasser mitgebracht?«
»Natürlich.«
»Es wird bald anfangen«, sagte Eleanor Hobden. »Sobald es dunkel wird, erscheint der Dämon.«
»In welcher Weise?« fragte Cranston knapp, bevor Athelstan ihn daran hindern konnte.
Walter hob die mageren Schultern. »Pater Athelstan weiß es«, sagte er in winselndem Ton. »Elizabeth spricht, aber mit der Stimme ihrer Mutter. Dann ist da ein Klopfen in den Wänden, und dieser Geruch, und die Beschuldigungen …« Seine Stimme brach.
»Wie ist deine Frau gestorben?« fragte Athelstan. »Ich meine, deine erste Frau?«
»An einem Abszeß in ihrem Inneren«, antwortete Eleanor schroff. »Wir haben die besten Ärzte gerufen, aber sie konnten nichts tun. Sie schwand einfach dahin. Ich war eine entfernte Cousine von Sarah, und als sie krank wurde, kam ich her, um sie zu pflegen. Pater, man konnte wirklich nichts tun.«
Athelstan drehte sich um, als eine alte Frau wie ein Schatten ins Zimmer geschlichen kam.
»Das ist Anna«, erklärte Walter, »Elizabeths Amme.«
Die alte Frau kam näher, und ihr runzliges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln ohne Heiterkeit.
»Elizabeth hat sogar mich vertrieben«, jammerte sie. »Sie will nichts mit mir zu tun haben.«
Athelstan musterte Anna; sie hatte schwarze Knopfaugen, strähniges graues Haar und eine schmale Nase, und er ahnte eine Bosheit, die sein Unbehagen nur verstärkte.
»Möchtet Ihr einen Schluck Wein?« fragten die Hobdens.
»Nein, nein«, sagte Athelstan und packte seine Tasche mit dem heiligen Ol und der Weihwasserflasche noch fester.
»Kann ich helfen?« erbot sich Anna.
»Nein.« Eleanor Hobden fiel ihr schroff ins Wort. »Anna, geh wieder in die Küche. Walter und ich Kümmern uns um alles.«
Athelstan straffte sich, als er eine Stimme rufen hörte: »Walter! Walter!«
Er sah Hobden an, dessen Gesicht noch bleicher geworden war.
»Es fangt wieder an«, wisperte der Mann. »So fangt es jeden Abend an.«
»Still, Mann; es ist nur deine Tochter, die dich ruft.«
»Nein!« Hobden verdrehte die Augen wie ein verängstigtes Tier. »Sir John, ich schwöre, das ist die Stimme meiner toten Frau!«
Athelstan unterdrückte das Zittern seiner Knie.
»Wir gehen am besten hinauf«, sagte er entschlossen. »Master Hobden, würdest du mir den Weg zeigen?«
Wie ein Verurteilter, der die Stufen zum Galgen hinaufsteigt, führte Hobden sie eine dunkle, gewundene Treppe hinauf in den ersten Stock und durch einen Gang zu einer halboffenen Tür. Langsam schob er sie weit auf, blieb stehen, eine Hand am Türrahmen, und spähte in die von einer Kerze erhellte Kammer. Athelstan, Cranston und Benedicta standen dicht hinter ihm und schauten zu der jungen Frau hinein, die auf dem großen, vierpfostigen Bett lag; ihr dunkles Haar war hinten zusammengebunden und die weiße Gesichtshaut so straff gespannt, daß die hohen Wangenknochen deutlich hervortraten. Mit glasigen Augen starrte sie ihren Vater und die anderen an.
»So, du hast Besuch mitgebracht, Walter? Zeugen deines Verbrechens?«
Athelstan sah verwundert, daß die Lippen sich bewegten, während die Stimme hohl und körperlos klang.
»Elizabeth!« stöhnte Hobden. »Hör auf damit!«
»Womit soll ich aufhören, Walter? Du hast mich ermordet, getötet mit rotem Arsen, mich vergiftet, damit du eine andere Frau heiraten konntest.«
»Das ist nicht wahr!«
Walter wollte weitersprechen, als plötzlich das Klopfen einsetzte, langsam erst, undeutlich, doch dann breitete es sich vom Erdgeschoß des Hauses nach oben aus, als käme hinter der Wandtäfelung eine dunkle Kreatur aus der Hölle heraufgekrochen.
Benedicta wich zurück. »Pater«, wisperte sie, »seid vorsichtig!«
Athelstan trat ins Zimmer und ging auf das Fußende des Bettes zu. Die dunklen, glasigen Augen des Mädchens faszinierten ihn, ebenso die Lippen, die eine Litanei von Anklagen formten. Das Klopfen dröhnte wie Trommelschlag, und ein furchtbarer Gestank erfüllte die Kammer und ließ Athelstan würgen. Er nahm all seinen Mut zusammen.
»Elizabeth Hobden, im heiligen Namen Christi bitte ich dich, höre auf! Ich befehle dir aufzuhören!«
Er schnürte seine Tasche auf und nahm mit zitternden Händen die Weihwasserflasche und das Aspergillum heraus. Er sprengte das Weihwasser vor sich und schlug ein Kreuz, aber Elizabeth redete immer weiter. Mit schneidender Stimme wiederholte sie pausenlos die Anschuldigungen gegen ihren Vater. Athelstan bemühte sich, seine Angst zu verbergen, als er die eigentliche Exorzismuszeremonie begann und mit einer feierlichen Litanei Christus, Seine Selige Mutter und alle Engel und Heiligen anrief. Seine Worte gingen unter im Geschrei des Mädchens und dem furchtbaren Hämmern in den Wänden, und der Geruch wurde immer abscheulicher.
Athelstan versuchte fortzufahren, auch als eine kleine innere Stimme anfing, seinen eigenen Glauben in Zweifel zu ziehen. Er warf einen Blick hinter sich und sah Benedictas weißes Gesicht. Hobden stand schreckensstarr in der Tür. Von Cranston war nichts zu sehen. Ach, Sir John! dachte Athelstan. Jetzt, in der Stunde meiner Not…
Er wandte sich wieder dem Mädchen zu - die Augen blickten haßerfüllt, und Schultern und Kopf lehnten starr auf den weißen Kissen. Sie schien sich seiner Anwesenheit nicht bewußt zu sein und starrte an ihm vorbei ihren Vater an. Als Athelstan wieder zu beten anfing, hörte er plötzlich aus dem Zimmer unter ihnen einen Schrei. Jemand rief, und Schritte polterten die Treppe herauf. Cranston stürzte schwer atmend herein und hätte Athelstan beinahe umgerannt.
»Du verdammtes kleines Luder!« brüllte er das Mädchen an.
Athelstan starrte ihn verblüfft an. Er merkte, daß das Hämmern in den Wänden aufgehört hatte. Das Mädchen aber kreischte weiter seine Beschuldigungen, bis Cranston ans Bett trat und ihr rechts und links eine Ohrfeige verpaßte. Dann packte er sie bei den Schultern und schüttelte sie.
»Aufhören!« donnerte er. »Hör auf, du verlogene kleine Dirne!« Wütend sah er Athelstan an. »Du bist hereingelegt worden, Bruder!« Wieder schüttelte er das Mädchen. »Eine raffinierte kleine Verschwörung zwischen dieser Kleinen und ihrer Amme.«
Seine Worte hatten die gewünschte Wirkung. Das Mädchen verstummte. Das Feuer des Hasses in ihren Augen erlosch, und furchtsam schaute sie erst Athelstan und dann Sir John an. Cranston sank auf die Bettkante und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Diese kleine Hexe«, keuchte er, »und ihre Amme haben ein Gemisch von Lügen und Täuschungen zusammengebraut. Komm her, Mann!« Er winkte Walter Hobden herein. Der Vater des Mädchens trat zögernd ein, und sie barg das Gesicht in den Händen und schluchzte lautlos. »Bist du denn nie auf den Gedanken gekommen«, fragte Cranston den Mann höhnisch, »daß dies alles nur ein Mummenschanz sein könnte?«
»Aber sie hat Anna vertrieben«, klagte er.
»Hör zu, du Erbsenhirn«, erwiderte Cranston und stand auf, »das war doch Teil der Maskerade. Es sollte so aussehen, als seien die beiden verfeindet! Während Elizabeth hier oben Hof hielt, nutzte die gute Amme, die in die Küche verbannt war, allerlei Kaminlöcher und Lücken in der Wandtäfelung, um das Pochen erschallen zu lassen.« Er trat an den kleinen Kamin. »Dies ist ein altes Haus«, erklärte er. »Hier sind Essen und Rauchabzüge, Kamine und alte Spalten. Wenn du hinunter in die Küche gehst zur großen Feuerstelle, dann kannst du dort mit sorgfältig in den Schlot hinaufgeschobenen Stangen klappern und so im ganzen Haus Getöse erschaffen. Das habe ich schon öfter gesehen. Ein Kinderspiel, das man am Vorabend von Allerheiligen treibt.« Cranston klopfte an die Wandtäfelung. »Und das hier hilft wahrscheinlich. Es läßt das Echo noch lauter klingen. Ich war unten in der Küche, und da hockte die alte Anna wie eine Mitternachtshexe am Kamin und klapperte geschäftig mit ihren Eisenstangen.«
»Aber die Stimme?« Eleanor Hobden kam herein.
»Ach, um Himmels willen, Weib!« antwortete Cranston verächtlich. »Hast du noch nie gehört, daß jemand Stimmen nachahmt?« Er sah den verblüfften Athelstan an. »Ich glaube, dein Meßdiener Crim, so klein er ist, kann mich sehr gut imitieren, nicht wahr?«
Athelstan lächelte matt. Er war erleichtert über Cranstons unverhoffte Enthüllungen und den kurzen Prozeß, den der Coroner mit all diesem betrügerischen Mummenschanz gemacht hatte; verspürte aber immer noch ein tiefes Unbehagen.
»Aber dieser Geruch?« Athelstan schnupperte.
»Oh, ich bin sicher, auch dafür findet sich eine Antwort.«
Cranston kniete nieder, griff unter das Bett und förderte zwei kleine, unverschlossene Töpfe zutage. Dann ging er auf die andere Seite und fand dort das gleiche. Er nahm einen hoch, schnupperte daran und wich angewidert zurück; dann gab er ihn Athelstan.
»Weiß der Himmel, was das ist. Wahrscheinlich Ziegenkäse.«
Athelstan roch daran und wandte sich voller Abscheu ab. »Ziegenkäse«, hustete er, »und noch etwas anderes.«
»Ein bekannter Trick«, bemerkte Cranston. »Man nimmt die Deckel ab, und verglichen damit duftet ein Schweinestall nach Rosen.« Er grinste. »Stell die Näpfe offen unters Bett, wedle mit den Decken, und ein Gestank aus der Hölle weht herauf.«
Athelstan betrachtete das schluchzende Mädchen. Ein Gepolter vor der Tür zeigte an, daß die furchterregende Eleanor Hobden jetzt die alte Amme die Treppe herauf zerrte. Mit verächtlichem Blick auf ihren Mann kam sie herein und stieß die widerstrebende Anna, die vor Angst einer Ohnmacht nahe schien, auf die Binsenstreu nieder. Dann ging sie zum Bett, packte Elizabeth bei den Haaren und riß ihr den Kopf in den Nacken. Trotz des bösartigen Spiels empfand Athelstan Mitleid mit dem Mädchen. Ihr Gesicht sah gespenstisch aus: rotgeränderte Augen und fahle, tränennasse Wangen. Sie hatte sich auf die Lippen gebissen, und Blut sickerte über ihr Kinn.
»Laß sie in Ruhe!« befahl er.
Bösartig riß Eleanor noch einmal an den Haaren des Mädchens. Athelstan packte sie beim Handgelenk.
»Um Himmels willen, Weib, laß sie in Ruhe!«
Widerstrebend gehorchte Eleanor, aber sie funkelte Cranston wütend an.
»Sie ist eines Verbrechens schuldig, oder? Vorgebliche Dämonenbeschwörung und das Benutzen dieses Gaukelkrams sind fast so schlimm wie die Schwarze Kunst an sich.«
Cranston, der eine tiefe Abneigung gegen die Frau empfand, nickte. »Du meinst also, ich sollte sie verhaften?«
»Wenn Ihr es nicht tut, werde ich sie und dieses Miststück von Amme auf die Straße werfen!«
»Eleanor!« stöhnte Walter. »Tu's nicht!«
»Ach, halt's Maul!« fauchte sie zurück. »Ich habe dir gesagt, diese kleine Dirne ist eine Lügnerin und eine Betrügerin!« Sie trat dicht an ihren Mann heran und reckte ihm ihr Gesicht entgegen. »Entweder die beiden gehen - oder ich!«
Cranston warf einen verstohlenen Blick auf Athelstan. Der Bruder sah hilflos das schluchzende Mädchen an; Anna kauerte wie ein Hund in der Binsenstreu. Eleanor ging zu dem Mädchen und krallte ihr die Finger in die Schulter.
»Raus aus diesem Bett und aus diesem Haus - auf der Stelle!«
»Oh, um der Barmherzigkeit willen!« rief Cranston.
»Mylord Coroner«, versetzte die Hobden, »Ihr wurdet nicht eingeladen, in dieses Haus zu kommen. Ihr seid hier als Beamter der Justiz. Ihr habt mitangesehen, wie ein Verbrechen begangen wurde, aber Euer Mitgefühl gilt nicht den Opfern, sondern nur der Täterin.«
Cranston warf einen Blick zu Walter Hobden hinüber, aber dieser Hampelmann stand nur da und rieb sich die Hände mit dem Mut eines erschrockenen Kaninchens.
»Um Himmels willen!« Benedicta durchquerte das Zimmer. Elizabeths Mummenschanz hatte ihr Angst gemacht, aber vor Eleanor Hobden zeigte sie keine Furcht. »Um Himmels willen!« wiederholte sie. »Weib, dieses Kind ist vielleicht von Sinnen!«
Athelstan setzte sich auf das Bett, schlang einen Arm um das schluchzende Mädchen und schaute den Vater an.
»Warum erhebt deine Tochter solche Vorwürfe?« fragte er.
»Weil sie mich haßt«, gab Eleanor zurück. »Sie hat mich immer gehaßt, und sie wird es immer tun. Jetzt kann sie verschwinden.«
Flehend blickte Benedicta Athelstan an. Er bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, sie solle der alten Amme aufhelfen.
»Hör zu«, begann er. »Ich bestehe darauf, Frau -nein, ich verlange es, weil ich auf eure Einladung hergekommen bin. Es stimmt, Sir John wurde nicht eingeladen, aber auch ihm seid ihr etwas schuldig, weil er die Wahrheit an den Tag gebracht hat.«
Die Frau nickte.
»Also«, fuhr Athelstan fort, »Elizabeth und ihre Amme werden heute nacht hierbleiben. Morgen früh wird Benedicta wiederkommen und die beiden zur Abtei von St. Mary und St. Frances bringen, die an der Kreuzung zwischen der Poor Jewry und der Aldgate Street liegt.«
Walter murmelte zustimmend. Seine Frau nagte an ihrer Unterlippe und starrte ihre Stieftochter finster an.
»Von mir aus«, schnarrte sie schließlich. »Aber bis zum Mittag ist das Luder verschwunden!«
*
An der Ecke der Bread Street und Westchepe blieb Cranston stehen und schaute zu seinem Haus hinüber.
»Ach«, seufzte er, »ich wünschte, Lady Maude wäre wieder da.« Er strich seinem Pferd über das Maul, leckte sich die Lippen und blickte hinüber zu dem verlockend warmen Lichtschein, der aus dem »Heiligen Lamm Gottes« drang. Er hatte Benedicta und Athelstan in Southwark zurückgelassen, war allein nach Cheapside gekommen und hatte dabei, wie so oft, laute Selbstgespräche über die Verhärtungen des menschlichen Herzens und den verstockten Haß von Leuten wie Eleanor Hobden geführt. Sein Pferd wieherte leise und stupste ihn vor die Brust.
»Ja, wahrscheinlich hast du recht«, brummte Cranston.
Er führte das Pferd durch eine Seitenstraße in den Hof des »Heiligen Lamms«, wo er und Lady Maude ihre Pferde einzustellen pflegten. Sir John brachte das Tier unter, widerstand allen Versuchungen, überquerte die verlassene Cheapside und ging zu seinem Haus.
Er hatte die Hand auf dem Türriegel, als er seinen Namen hörte. Zwei Gestalten lösten sich aus einem Durchgang an der Seite des Hauses und traten in den Lichtkreis der Lampe, die an einem Haken neben der Tür hing. Cranstons Lächeln verblaßte.
»Was zum Teufel wollt ihr?« knurrte er.
Rosamund Ingham schlug mit einer Hand die Kapuze ihres Mantels zurück; die andere ruhte leicht auf dem Arm des schlaffgesichtigen Albric. Ihr Blick war so herrisch und hart wie der Eleanor Hobdens. Cranston sah, wie ähnlich die beiden Frauen einander waren: schön, aber mit erbarmungslosen Augen und einem sauren Zug um den Mund. Er legte die Hand wieder auf den Türriegel.
»Ich habe gefragt, was ihr wollt?«
»Sir John, laßt uns in Ruhe. Wie Ihr wißt, wird mein Mann morgen früh beerdigt. Ihr werdet wohl nicht dabei sein?«
»Nein, das werde ich nicht! Ich habe Sir Oliver geliebt wie einen Bruder. Ich werde nicht in Gegenwart seiner Mörder vor Gott stehen!«
»Das ist eine Lüge!«
»Es ist die Wahrheit, und ich werde es beweisen.«
»Und wenn Ihr es nicht tut« - Rosamund reckte das Kinn vor -, »dann sehen wir uns vor Gericht, Sir John.«
»Verpißt Euch!« Seine Hand legte sich auf den Dolchgriff, als er sah, daß Albric einen Schritt vortrat.
»Nur zu«, höhnte Cranston. »Zieht Euer Schwert, und ich werde Euch am Hosenlatz kitzeln.«
Rosamund winkte ihren Liebhaber zurück. »Entfernt die Siegel vom Zimmer meines Manns«, verlangte sie. »Und laßt uns in Ruhe, sonst…«
Cranston trat vor. »Sonst, Mylady?«
Rosamund verzog höhnisch das Gesicht. »Ich fordere Euch auf, Sir John. Und ich werde Euch nicht noch einmal auffordern.«
»Gute Nacht, Mylady.« Er stieß die Tür auf und schlug sie hinter sich zu.
Freudig schnuppernd trat er in die Küche. Gerade zog Boscombe mit hochrotem Gesicht eine golden überkrustete Pastete aus dem Backofen neben dem Herd.
»Genau rechtzeitig, Sir John«, strahlte der kleine Mann. »Rindfleischpastete, gewürzt mit Lauch und Zwiebeln. Ein Glas Rotwein?«
Sir John strahlte. »Philip, wenn du eine Frau wärst, würde ich dich morgen heiraten.«
Er wusch sich die Hände in einer Schüssel Rosenwasser und setzte sich an den Tisch.
»Du bist noch nicht in den seligen Stand der ehelichen Gnade eingetreten?«
Boscombe schüttelte den Kopf. »Keine Frau wollte mich haben, Sir John, und Sir Gerard war ein überaus harter Herr.«
»Wenn du das glaubst«, erwiderte Cranston, »dann hast du Lady Maude noch nicht kennengelernt.«
Gerade wollte er den Becher heben, als plötzlich Gog und Magog, die im Garten gelegen hatten, in die Küche stürmten. Gog warf Cranston vom Stuhl, und Magog sprang gewandt wie ein Falke im Flug in die Höhe und riß Boscombe die Pastete aus den Händen. Fluchend rappelte sich Cranston auf, aber jetzt hatten die beiden Hunde die Pastete, und ehe er sie zu fassen bekam, hatten die beiden sie schon verschlungen. Boscombe stand jammernd da. Cranston starrte die Hunde an; wenn Tiere dankbar grinsen konnten, dann taten die beiden das jetzt, dessen war er sicher.
»Brave Jungs«, sagte er leise.
Die beiden Hunde hatten ihren unerwarteten Festschmaus beendet und sprangen hoch, um ihm das Gesicht zu lecken und die Ohren zu zwicken. »Genug ist genug!« brüllte Cranston und stieß sie weg.
Er schaute zu Boscombe hinüber, dem die Tränen über die Wangen strömten. Er ging zu ihm und tätschelte ihm die Schulter, daß der Mann beinahe hingefallen wäre.
»Hör schon auf, Mann«, knurrte er. »Wenigstens haben sie gut gegessen.«
Die beiden Hunde leckten sich die Schnauzen und betrachteten voller Bewunderung ihren neuen Herrn, der so großzügig mit seinem Essen umging. Wie Steinfiguren saßen sie da, als Cranston ihnen warnend mit dem Finger drohte.
»Versucht das niemals«, ermahnte er sie, »mit Lady Maude«
Die beiden Hunde schienen die Bedeutung des Wortes »Maude« zu spüren, und Gog warf sogar einen furchtsamen Blick zur Tür. Aber es war nur Leif, der sich da ins Haus stahl, angelockt von dem schweren, würzigen Duft.
»Zeit zum Abendessen, Sir John?«
Cranston grinste. »Da mußt du schon mehr Glück haben.«
Leif sah nervös die Hunde an. »Aber Sir John, ich habe den ganzen Tag kaum etwas gegessen.«
»Herr des Himmels!« Cranston ging in die Diele und holte seinen Mantel, und da ihm Rosamund Inghams drohende Blicke noch vor Augen standen, schnallte er auch seinen Schwertgurt um. »Komm, Boscombe. Du auch, Leif, du fauler Schurke! Wir gehen ins »Lamm Gottes‹.«
Die beiden Hunde wollten ihnen folgen.
»Nein, nein, seid brave Jungs. Hiergeblieben!«
Die beiden Tiere kauerten sich nieder, und Cranston schob den protestierenden Boscombe und den willigeren Leif vor sich her zur Tür.
»Sollten wir nicht abschließen?« fragte Boscombe, als sie auf der Cheapside waren.
»Hör mal zu, Mann«, erwiderte Cranston. »Was glaubst du, was diese braven Jungs machen würden, wenn irgendein Nachschwärmer versuchen wollte, da hineinzuspazieren?«
Boscombe grinste.
»Jetzt kommt«, drängte Cranston. »Diese Pastete hat köstlich geduftet. Ich will dir deine gerechte Belohnung geben.«
Zwei Stunden später, angefüllt mit Rotwein und der Zwiebelpastete der Wirtin, verließ Cranston das »Heilige Lamm Gottes«, den einen Arm um Boscombe, den anderen um Leif gelegt, und schaute über die Cheapside.
»Ihr wart also in Poitiers?« fragte Boscombe.
»Oh ja«, sagte Cranston. »Schlanker und hübscher war ich damals …«
Er sprach nicht weiter, denn er hatte einen leisen Hilfeschrei aus einer nahen Gasse gehört. Ohne auf Boscombes Warnungen zu achten, und dem Rotwein, den er getrunken hatte, zum Trotz, schoß er pfeilschnell in die Dunkelheit. Er sah zwei Gestalten in Schwarz, die mit erhobener Fackel über einem Dritten standen, der am Boden lag. Cranston sah Stahl blinken und hörte erneut ein mitleiderregendes Stöhnen. Er schlang sich den Mantel um den linken Arm und stürmte vorwärts wie ein wütender Bulle.
»Aidez! Aidez!« brüllte er den gebräuchlichen Hilfeschrei.
Die beiden Gestalten blickten auf, und er wußte sofort, daß hier etwas nicht stimmte. Sie wichen nicht zurück; sie hatten Masken auf den Gesichtern, und das »Opfer« sprang plötzlich auf. Cranston blieb schwer atmend stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Man lernt nie aus«, knurrte er und verfluchte sich dafür, daß er in eine altbekannte Falle gerannt und einem mutmaßlichen Opfer zu Hilfe geeilt war, nur um selbst in einen Hinterhalt zu tappen. Rasch sah er sich um und die Gasse hinauf, wo Boscombe und Leif langsam herankamen.
»Lauft zurück!« brüllte er.
Er zog sein Schwert und wich langsam zurück. Er wagte nicht, sich umzudrehen und zu rennen. Er könnte ausrutschen, oder ein fliegendes Messer könnte ihn zur Strecke bringen. Außerdem war er alt und fett, und die drei Angreifer bewegten sich geschmeidig wie makabre Tänzer auf ihn zu. Cranston zog sich weiter zurück und sprang unvermittelt zur Seite, um an einem schmalen Stützpfeiler an der Hauswand seinen Rücken zu schützen.
Die drei schwarzgekleideten Attentäter kamen näher. Jeder trug ein Schwert und einen Dolch. Im Näherkommen teilten sie sich, und Cranston erkannte sie als Berufsmörder, sehr viel gefährlicher als die Gassenratten, die der bloße Anblick von blankem Stahl in die Flucht schlagen würde. Er bemühte sich, beherrscht zu atmen. Wer mochte sie geschickt haben? Ira Dei? Cranston blinzelte. Nein, nein, das wäre allzu offensichtlich. Dann fiel ihm Rosamund Inghams haßerfülltes Gesicht ein, ihre unausgesprochenen Drohungen - und Wut verdrängte seine Angst.
Die drei glitten vorwärts; breitbeinig und mit ausgestreckten Armen vollführten sie den ausgeklügelten Tanz berufsmäßiger Kämpfer. Cranston behielt den mittleren im Auge und erhaschte einen kurzen Blick; dann wandte er sich den beiden Kumpanen zu, als bereiteten sie ihm größere Sorge.
»Na, kommt schon, ihr Böckchen!« höhnte er. »Jetzt habt ihr den alten John auf den Tanzboden geholt. Dann wollen wir doch auch ein Tänzchen wagen!«
Die beiden Mörder rechts und links rückten weiter vor. Cranston schaute weiter hin und her, aber er kannte die Sorte. Sie wollten ihn täuschen. Er schaute nach rechts und dann rasch geradeaus, als der mittlere Mörder vorsprang, das Schwert nach unten, den Dolch in die Höhe gereckt. Cranston schwang sein langes Schwert und ließ es in einem blinkenden Bogen nach vorn sausen. Der Mörder war tot, ehe er es recht begriffen hatte. Die spitze, scharfe Klinge von Cranstons Schwert hatte ihm die ungeschützte Luftröhre durchtrennt.
Cranston grinste und parierte erst nach rechts, dann nach links. Er spürte, daß der eine der beiden Angreifer unerfahren war und weiter zurückwich als nötig. Cranston fuhr herum und attackierte den anderen, daß es dem den Atem verschlug. Dann wich er zurück und rammte dem Kerl das Schwert mit aller Kraft in den Bauch. Als er sich umschaute, verschwand der dritte Angreifer wie ein Hase in der Dunkelheit. Cranston lehnte sich auf sein Schwert, sog die Nachtluft ein und betrachtete die beiden toten Angreifer.
»Tödliche Streiche«, murmelte er.
Der eine lag mit dem Gesicht nach unten auf den Pflastersteinen, der andere lehnte wie eine zerbrochene Puppe an der Hauswand. Boscombe und Leif kamen herangehoppelt und starrten entsetzt die beiden Leichen und einen vollkommen veränderten Sir John Cranston an. Sein Gesicht war hart wie Eisen im flackernden Licht der Fackel, die auf dem Pflaster lag, wo der eine Angreifer sie hingeworfen hatte.
»Sir John.« Boscombe berührte seinen neuen Herrn. »Sir John, es tut mir leid, daß wir nicht helfen konnten.«
Cranston schüttelte den Kopf. »Nein, ihr wart sehr klug«, antwortete er leise. »Aber, Master Boscombe, ich danke dir für deine Sorge. Das war nichts, womit der alte John nicht hätte fertigwerden können.«
»Aber warum?« schnaubte Leif.
Ein bitteres Lächeln auf den Lippen, schaute Cranston die Gasse hinunter. »Oh, ich weiß, warum«, brütete er. »Und jetzt ist der alte John am Zug.«