Athelstan erwartete sie im Bankettsaal. Der Aufwärter hatte die Tafel so gedeckt, wie sie am Abend des Mordes an Fitzroy gewesen war; an jedem Platz stand ein silberner Teller. Auf Athelstans Wunsch nahmen Gaunt, Hussey und die übrigen ihre Plätze ein. Eine Zeitlang herrschte Gemurmel und Gemurre, aber die Lektion, die Cranston ihnen im Garten erteilt hatte, erfüllte alle mit banger Erwartung.
Athelstan setzte sich auf Fitzroys Platz und lächelte Goodman zu seiner Linken und Denny zur Rechten zu. Er wartete, bis das Gemurmel erstarb, während Cranston sich an Lord Clifford wandte, der an der Tür stand.
»Mylord, Ihr könnt Bruder Athelstans Platz einnehmen.« Cranston wandte sich ab. »Ich weiß, daß Ihr nicht da wart, als Fitzroy starb.«
Der junge Edelmann, der nervös mit dem Griff seines Dolches spielte, gehorchte stumm. Noch einmal schaute sich Athelstan im Raum um; zwei der Gildeherren waren bereits in seine kleine Falle gegangen. Gaunt schlug mit der Faust auf den Tisch und verlangte, daß es weitergehe. Athelstan stand auf.
»Euer Gnaden, an dem Abend, da Fitzroy starb, befanden wir uns mitten in einem prächtigen Bankett, nicht wahr?«
»Vorzüglich beobachtet«, versetzte Gaunt spitz.
»Nein, Euer Gnaden, das ist wichtig. Sagt mir«, fuhr Athelstan beharrlich fort, »war das Bankett schon beendet?«
Gaunt rutschte auf seinem Platz hin und her. »Natürlich nicht. Der Hauptgang war serviert worden, und die Köche bereiteten den Nachtisch zu, als Fitzroy dem Fest ein makabres Ende machte.«
»Ja«, sagte Athelstan. »Das hatte ich vergessen -bis zu dem Tag, da ich eine kandierte Pflaume aß. Ich geriet in Verlegenheit, weil Zucker und Honigsirup mir an Gaumen und Zähnen klebten und ich mir die Stücke aus dem Mund stochern mußte. Als ich danach meine Hände in einer Schüssel wusch, fiel mir ein, daß ich das letztemal so viel Zucker an den Händen gehabt hatte, als ich Fitzroy unmittelbar nach seinem Tod untersuchte. Ich fragte mich, warum der tote Gildeherr so viel Zucker im Mund hatte, obwohl der Nachtisch noch gar nicht aufgetragen worden war.« Er schaute sich in dem stillen Saal um. »Euer Gnaden, Ihr Herren, erinnert Euch, was an jenem Abend serviert wurde. Kann einer von Euch sich entsinnen, daß wir etwas bekommen haben, was dick mit Zucker oder Sirup überzogen war?«
»Fitzroy könnte so etwas gegessen haben, bevor er zum Bankett kam«, wehrte Hussey ab.
»Nein, nein«, antwortete Athelstan. »Wir haben bereits festgestellt, daß Fitzroy, wenn er ein solches Gift vorher zu sich genommen hätte, binnen einer Stunde gestorben wäre«. Athelstan lächelte, denn wieder war ein Gildemeister in seine Falle gegangen.
»Was meint Ihr damit?« blaffte Gaunt.
»Ich meine damit, Euer Gnaden, wir haben bereits festgestellt, daß Fitzroy das Gift nicht vor dem Bankett genommen hat. Wir haben außerdem festgestellt, daß nichts von dem, was er beim Bankett gegessen oder getrunken hat, vergiftet war. Und doch«, fuhr Athelstan fort, »wurde Fitzroy ohne Zweifel hier in diesem Raum vergiftet, weil er etwas aß, das niemand sonst aß.«
»Was denn?« rief Hussey und beugte sich vor. »Genug der Rätsel, Bruder!«
»Fitzroy wurde von jemandem vergiftet, der wußte, daß er ein Schleckermaul war. Jawohl, Fitzroy hatte eine große Vorliebe für Zuckerwerk. Manche bezeichneten ihn sogar als Vielfraß. Ich glaube, es geschah folgendermaßen: Jemand, der wußte, wo Fitzroy sitzen würde, legte irgendein Zuckerwerk, etwas sehr Süßes, neben seinen Silberteller, bevor das Bankett begann. Nur der dicke, klebrige Zucker verbarg die Tatsache, daß diese Köstlichkeit mit Gift getränkt war. Und dieser Zucker war es, was ich im Mund des Töten entdeckte. Und so, vermute ich, wurde Fitzroy getötet.«
»Unsinn!« rief Goodman, sein arrogantes Gesicht war jetzt totenbleich. »Hätte Fitzroy das nicht merkwürdig gefunden?«
»Nein«, sagte Athelstan. »Erstens war er ja zu einem Bankett gekommen. Vielleicht dachte er, ein Diener habe die Süßigkeit fallengelassen oder als besondere Aufmerksamkeit für ihn hingelegt. Und zweitens …« Athelstan lächelte. »Ihr habt Euch alle hingesetzt. Vor jedem von Euch steht ein kleiner silberner Teller. Neben jeden habe ich, bevor Ihr hereinkamt, eine Süßigkeit gelegt. Wie viele von Euch haben sie inzwischen aufgegessen? Haben sie geistesabwesend in den Mund gesteckt?«
Denny, Goodman und Bremmer grinsten verlegen.
»Woher wißt Ihr, daß sie nicht vergiftet war?« bellte Cranston und genoß ihren verdatterten Gesichtsausdruck. Schwerfällig erhob er sich. »Aber Ihr habt getan, was jeder tun würde, der an einem Tisch sitzt und aufs Essen wartet. Ihr habt eine Leckerei gefunden und in den Mund gesteckt. Fitzroy war nicht anders. Ja, bei seinem Appetit konnte er wohl kaum widerstehen.«
»Ja, aber wer hat sie ihm hingelegt?«
Die Atmosphäre wurde eisig. Gaunts Frage hing wie ein Damoklesschwert über ihnen. Cranston deutete auf Lord Adam Clifford.
»Ihr, Sir, seid ein Verräter, ein Lügner und Mörder! Ich beschuldige Euch, in böser Absicht den Tod des Sir Thomas Fitzroy, des Peter Sturmey und des Sir Gerard Mountjoy herbeigeführt zu haben!«
Clifford sprang auf; seine Augen waren riesig und sein Gesicht rot vor Zorn. »Du fetter alter Trottel!« brüllte er. »Wie kannst du es wagen?«
Wie vom Donner gerührt lehnte sich Gaunt auf seinem Stuhl zurück; die Gildeherren starrten Cranston fassungslos an. Clifford kam drohend auf den Coroner zu, die Hand am Dolch. Sir John zog sein Schwert, aber Gaunts Gardehauptmann trat rasch zwischen die beiden Männer.
»Lord Adam, ich schlage vor, Ihr setzt Euch wieder hin«, sagte der Soldat leise und sah sich über die Schulter nach seinem Herrn um. Gaunt hatte seine Fassung wiedergefunden und nickte stumm, ohne seinen jungen Adjutanten aus den Augen zu lassen.
»Setzt Euch, Adam«, sagte er leise. »Mylord Coroner, fahrt fort. Aber sollten sich Eure Anschuldigungen als falsch erweisen, so werdet Ihr Euch dafür verantworten müssen.«
»Ich werde mich vor Gott verantworten«, erwiderte Cranston und schaute in die Runde. »Jetzt will ich Euch eine Geschichte erzählen«, begann er, »von einem Königreich, in dem der König ein Kind ist und alle Macht bei seinem Onkel, dem Regenten, liegt. In Abwesenheit eines starken Herrschers entstehen Fraktionen, die sich um die Macht balgen. Die Adligen bei Hofe vertiefen sich in tödliche Rivalitäten, in der Stadt wetteifern mächtige Bürger um die Herrschaft. Das arbeitende Volk draußen auf dem Land murrt und führt verräterische Reden. Es bilden sich geheime Zirkel und Gruppen, die Aufstandspläne schmieden.«
»Seht Euch vor, Sir John!« zischte Gaunt.
Athelstan schloß die Augen und betete, daß Cranston nicht zu weit gehen möge.
»Wenn ich lüge«, antwortete Sir John, »soll mir jemand widersprechen.« Er sah die Gildeherren an, aber alle schwiegen - auch Clifford, dem jetzt die Schweißperlen übers Gesicht rannen.
»Ein Führer tritt auf den Plan«, fuhr Cranston fort. »Ein geheimnisvoller Mann, der sich Ira Dei nennt, der ›Zorn Gottes«. Er führt die ›Große Gemeinschaft des Reiches‹, einen geheimen Rat von Bauernführern. Sie wissen nicht, wer er ist, und auch sonst weiß es niemand. Er kommt und geht und sät die Saat der Zwietracht. Und nun verändern sich die Dinge. Seine Gnaden der Regent beschließt, einen Freundschaftsbund mit den führenden Kaufleuten der Stadt zu schließen. Ira Dei möchte dies vereiteln, und er sucht sich einen Verräter in der Umgebung des Regenten. Den findet er in Mylord Clifford, einem jungen Mann, der seine bescheidene Herkunft nicht vergessen hat, zumindest nicht die seiner Familie. Entweder aus Idealismus oder aus eigennützigem Gewinnstreben - oder aus beiden Gründen - willigt Clifford ein, als Agent des Ira Dei die Pläne Lord Gaunts zunichte zu machen.«
»Lüge!« schrie Clifford, aber das Zittern in seiner Stimme trug nicht dazu bei, seine Gefährten zu überzeugen. Mit versteinerten Mienen starrten sie ihn an.
»Mylord Cliffords Vater«, fuhr Cranston fort, »war Hauptmann bei den Bogenschützen, ein erfahrener Schütze, der sein Wissen an seinen Sohn Adam weitergab. An dem Nachmittag, als Sir Gerard Mountjoy stirbt, kommt Clifford mit einem Jagdbogen oder einer präparierten Armbrust und schleicht sich, als alle ruhen oder ihren Geschäften nachgehen, wie der Schatten des Todes in den Gang. Er schießt den Dolch ab, Mountjoy stirbt unter mysteriösen Umständen, und wir verstricken uns in das Rätsel, wie er wohl gestorben sein mag, statt uns damit zu beschäftigen, wer ihn warum ermordet hat.« Cranston erquickte sich mit einem großzügigen Schluck aus seinem Weinschlauch. »Am folgenden Abend schlägt der Mörder wieder zu.«
»Unmöglich!« rief Goodman. »Wißt Ihr denn nicht mehr, Sir John, daß Lord Clifford bei dem Bankett gefehlt hat?«
Cranston drückte den Stopfen fest in seinen Weinschlauch. »Ja, er sagte, er habe anderswo Geschäfte, aber erst, nachdem er die vergiftete Leckerei neben Fitzroys Teller gelegt hatte.«
»Natürlich!« Gaunt sprang auf und deutete auf seinen Adjutanten. »Adam, Ihr wart für die Sitzordnung zuständig, und dann habt Ihr Euch entschuldigt und behauptet, Ihr hättet Geschäfte in der Stadt.« Gaunts Gesicht wurde fleckig vor Wut. »Ihr habt überaus hartnäckig darauf bestanden. Mylord Coroner hat recht: Nicht einmal ich wußte, wo jeder sitzen würde. Das blieb Euch überlassen, und Ihr habt es den Gästen gesagt.«
Auch der Bürgermeister sprang plötzlich auf. »Cranston!« rief er. »Ihr seid ein Dummkopf!«
»Sir Christopher«, schritt Athelstan behutsam ein, »erklärt Euch bitte.«
Der Bürgermeister trat in die Mitte des Saales, und ein selbstzufriedenes Lächeln leuchtete auf seinem Gesicht. »Seht Ihr das denn nicht, Mylord?« fragte er Gaunt. »Mountjoy wurde ermordet, Sturmey wurde ermordet, Fitzroy wurde ermordet. Aber den heimtückischen Überfall auf Mylord Clifford wollen wir doch nicht vergessen!«
»Oh nein«, sagte Athelstan. »Den wollen wir nicht vergessen. Schrammen und Blutergüsse. Nichts besonders Ernstes. Das weiß Lord Adam sicher selbst.«
Goodman biß sich auf die Unterlippe, als ihm bewußt wurde, wie töricht sein Ausbruch gewesen war.
»Ihr meint…?«
»Ich meine«, sagte Athelstan ruhig, »wenn man Lord Adam in Gewahrsam nimmt und untersucht, wird man feststellen, daß seine Blutergüsse und sogenannten Wunden nur oberflächlich sind.«
Goodman eilte zu seinem Platz zurück.
»Was für ein wunderbares Manöver«, fuhr Athelstan fort. »Aber überlegt doch: Wenn Ira Dei die Absicht gehabt hätte, Clifford zu töten, dann hätte er es getan.«
»Der Überfall war abgesprochen«, rief der Coroner Goodman zu. »Eine reine Ablenkung.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf Clifford. »Ihr wißt es, Mylord. Wenn Ihr anderer Meinung seid, zieht das Hemd aus, und zeigt uns diese schrecklichen Wunden.«
Stumm funkelte Clifford ihn an.
»Und Mylord Gaunt hat recht«, fuhr der Coroner fort. »Ihr wußtet, wo jeder von uns an jenem Abend sitzen würde.«
»Ich war nicht da«, murmelte Clifford.
»Lügner!« bellte Cranston.
Clifford schüttelte den Kopf, aber seine Augen verrieten ihn.
»Ein raffinierter Plan«, sagte Cranston. »Als Fitzroy starb, wart Ihr also nicht da. Aber wie, Mylord Clifford, konntet Ihr auch fehlgehen? Wenn Fitzroy sich woanders hingesetzt hätte, dann hätte vielleicht ein anderer die Süßigkeit gegessen. Begreift Ihr nicht?« Cranston grinste die Gildemeister boshaft an. »Es ging nicht darum, daß ausgerechnet Mountjoy und Fitzroy starben, solange nur überhaupt welche von Euch zu Tode kamen, ermordet unter geheimnisvollen Umständen; dies würde genug Chaos und Verwirrung hervorrufen, um alle Pläne des Regenten zunichte zu machen.«
»Und das Gold? Und Sturmeys Tod?« Nicholas Hussey ergriff das Wort, während der Regent sich vorbeugte und den Verräter am anderen Ende des Tisches anfunkelte.
»Oh, das Gold«, knurrte Cranston. »Natürlich, das hat die Sache dann vollends besiegelt, nicht wahr? Leider hatten Mylord Bürgermeister und der verstorbene Sheriff sich für Peter Sturmey entschieden, einen berühmten Schlosser, der eine neue, mit sechs Schlössern gesicherte Truhe bauen sollte. Aber was Ihr, Sir Christopher, entweder vergessen oder nicht gewußt hattet, war, daß unser Meister Sturmey ein Doppelleben führte. Er liebte Knaben. Vor fünfzehn Jahren war er, wie mancher Große in dieser Stadt, in einen Skandal verwickelt gewesen. Gegen Sturmey gab es keine Beweise, aber ich bin sicher, er verfolgte seine heimlichen Leidenschaften von da an verstohlener und vorsichtiger.« Cranston verstummte und schaute den königlichen Lehrer an. »Sir Nicholas, ich glaube, Ihr gingt damals in St. Paul zur Schule?«
Hussey nickte, den Blick gesenkt, die untere Partie des Gesichts hinter den Händen verborgen. »Ich erinnere mich an den Skandal«, sagte er leise, »aber ich wußte nicht viel davon. Ich war damals noch ein Junge.«
»Ja«, sagte Sir John. »Ihr wart noch ein Junge, genau wie Ihr, Mylord Clifford, der Ihr als Page in einem mächtigen Londoner Haus wart - bei Sir Raymond Bragley, der damals Sheriff von London war. Wie sich Mylord Bürgermeister erinnern wird, ermittelte Bragley damals in dem Skandal, und Ihr, Mylord Clifford, müßt die wichtigen Botschaften gut gekannt haben, die Ihr in der ganzen Stadt befördert habt. Vermutlich wußtet Ihr von Sturmeys geheimen Lastern und auch, daß er ihnen immer noch frönte. Wer weiß? Vielleicht hat er sich sogar an Euch herangemacht - und so konntet Ihr ihn erpressen: Entweder er machte Euch einen zweiten Satz Schlüssel, oder er würde die Höchststrafe für Sodomie erleiden, den Tod auf dem Scheiterhaufen in Smithfield.«
Clifford starrte auf den Tisch und spreizte die Hände. Er leistete keinen Widerstand, als Gaunt dem Gardehauptmann zunickte und dieser ihm den Dolch aus der Scheide zog.
»Selbstverständlich mußte Sturmey sterben«, fuhr Cranston fort. »Deshalb locktet Ihr ihn hinunter nach Billingsgate, wo er am Kai auf Euch wartete. Ein vorzügliches Ziel, auf das Ihr aus einer dunklen Gasse schießen konntet.« Cranston zuckte die Achseln. »Was kann ich noch sagen?«
Clifford fuhr auf und hob den Kopf. »Ihr könntet zur Abwechslung einmal einen Beweis erbringen! Das alles sind Vermutungen, Hypothesen, Ihr habt nicht den Fetzen eines Beweises, um einen königlichen Richter zu überzeugen. Jeder könnte Mountjoy ermordet haben. Jeder könnte eine vergiftete Süßigkeit neben Fitzroys Teller gelegt haben. Und was Sturmey angeht - ja, ich erinnere mich an den Fall, aber Ihr habt seine geheime Werkstatt selbst gesehen! Jeder könnte ihn gezwungen haben, dort hineinzugehen und sechs Schlüssel zu machen.«
Cranston trommelte mit den Fingern auf den Tisch und bemühte sich, seine Panik zu verbergen. Unter buschigen Augenbrauen hinweg schaute er Athelstan an, der immer noch ganz gefaßt aussah.
»Lord Adam hat recht«, bekräftigte der Bürgermeister. »Ich stimme Euch ja zu, Sir John, aber habt Ihr einen handfesten Beweis dafür, daß Clifford den Dolch abgeschossen und die Leckerei neben den Teller gelegt hat?«
»Den haben wir«, sagte Athelstan. »Wir haben das Gold. Eine derartige Menge kostbarer Barren kann man nicht so leicht durch die Stadt transportieren oder auf dem freien Markt verkaufen.« Er sah den Regenten an. »Euer Gnaden, wenn Ihr Eure Soldaten zu Mylord Cliffords Haus schickt, dann, so meine ich, werdet Ihr das Beweismaterial finden. Ihr müßt nach einem Jagdbogen oder eher noch nach einer eigens präparierten Armbrust suchen. Nach Dolchen von der Art, wie sie gegen Mountjoy und Sturmey verwendet wurden. Und vor allem nach den sechs Goldbarren, die Mylord Clifford so geschickt aus der Truhe entwendet hat. Der Diebstahl blieb unbemerkt. Niemand würde auch nur im Traum darauf kommen, daß jemand einen zweiten Satz Schlüssel haben könnte; sollte der Raub also entdeckt werden, dann würde man dem armen Sturmey die Schuld geben. Das Dumme mit dem Gold ist nur: Was fängt man damit an, wenn man es einmal an sich genommen hat? Man kann es nur irgendwo sicher verstecken.«
Athelstan ging zu Clifford und blieb vor ihm stehen. »Warum?« fragte er.
Der junge Mann starrte ihn an.
»In der Logik«, fuhr der Ordensbruder fort, »und in der Mathematik ist die Suche nach einem gemeinsamen Faktor der erste Grundsatz. Ihr wart in Sturmeys Skandal verwickelt. Ihr hattet die nötige Geschicklichkeit, um Mountjoy zu töten. Nur Ihr kanntet die Sitzordnung an dem Abend, als Fitzroy starb.« Athelstan stählte seine Züge, denn was nun kam, war reine Spiegelfechterei. »Und schließlich: Ira Dei selbst hat Euch verraten.«
Clifford erschrak. »Wie das?«
Dann stöhnte er auf, als er begriff, was für einen schrecklichen Fehler er begangen hatte.
Gaunt schnippte mit den Fingern und befahl dem Gardehauptmann: »Nimm dir zehn Bogenschützen, und stell Cliffords Haus auf den Kopf! Sperr seine Diener ein! Wenn nötig, foltere sie!«
»Das ist nicht nötig.« Bleich wie ein Gespenst richtete Clifford sich auf. »Was hat es noch für einen Sinn?« murmelte er. »Das Spiel ist gespielt, und jetzt ist es vorbei.« Er leckte sich die Lippen. »Mylord Gaunt, Ihr mögt mich für einen Verräter halten, aber ich bin es nicht mehr als jeder andere hier im Raum. Ein paar Kaufleute, die die Armen ausquetschen wie einen feuchten Lappen. Brave Männer, die sonntags in die Kirche stolzieren und montags alle denkbaren schmutzigen Sünden begehen. Wölfe im Schafspelz!«
»Und was ist mit mir?« unterbrach ihn Gaunt. »Ich habe Euch vertraut.«
»Mylord Regent, Ihr vertraut niemandem. Und seht Ihr nicht das Unwetter, das sich zusammenbraut?« Er stieß mit dem Finger nach Gaunt. »Geht nicht auf die Jagd, Mylord. Reitet statt dessen durch die dreckigen Gassen von Southwark oder in die Dörfer in South Essex. Die Menschen werden Euch nachschauen, wenn Ihr vorüberreitet, und in ihren Augen wird die Wut lodern. Das Unwetter kommt!« Clifford machte eine schwungvolle Handbewegung. »Dieses ganze Kartenhaus wird einstürzen, ausgebrannt vom Keller bis zum Dachboden!« Er wischte sich den Speichel aus dem Mundwinkel. »Um Himmels willen!« schrie er Gaunt an. »Glaubt Ihr, ich sei der einzige? Ist Euch nicht klar, daß hier im Saal Leute sind, die bereits wissen, wie sie ihre Segel zu setzen haben, wenn der Sturm kommt?« Hingerissen von seiner eigenen Raserei, hielt Clifford inne.
Athelstan sah sich rasch um und schaute in die verschlagenen, heimlichtuerischen Gesichter der Gildeherren. Clifford war ein Mörder, aber er hatte recht. Gaunt wäre ein Narr, wenn er einem von ihnen Vertrauen schenken wollte.
»Ihr seid ein Verräter!« kreischte Goodman und sprang auf. »Ein Verräter und ein Schurke! Ein heimtückischer Mörder!«
»Ach, um Gottes willen!« brüllte Clifford, sprang ebenfalls auf und schüttelte die Hand eines Soldaten ab. »Mountjoy war ein raffgieriger Dämon, Fitzroy ein korrupter Vielfraß. Und was Sturmey betrifft - den habt Ihr ausgesucht, Mylord Bürgermeister, nicht ich.«
»Führt ihn ab!« befahl Gaunt.
Clifford drehte sich um und spuckte in Richtung des Regenten.
»›Als Adam grub und Eva spann‹«, schrie er, »›wo war da der Edelmann?‹« Denkt daran, Mylord, wenn sie Euren Palast beim Savoy niederbrennen!«
»Halt!« Goodman hatte seine Fassung als erster wiedergewonnen und plusterte sich jetzt in rechtschaffenem Zorn auf. »Woher wissen wir, daß dieser Mann nicht Ira Dei ist?«
Clifford warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Du dummer Hanswurst«, zischte er heiser. »Bist du wirklich so dämlich? Ich bin nicht Ira Dei. Aber vielleicht sitzt er trotzdem hier in diesem Raum?«
Gaunt wiederholte seinen Befehl. Soldaten führten Clifford hastig hinaus, und andere machten sich marschbereit, um Cliffords Haus von unten bis oben zu durchsuchen.
Cranston und Athelstan lehnten sich zurück und schauten zu, wie die Gildeherren, glücklich über die Aussicht, Gerechtigkeit zu erfahren, und noch glücklicher, weil sie wahrscheinlich ihr Gold zurückbekommen würden, einander darin überboten, Clifford zu verdammen und dem Regenten ihre Loyalität zu beteuern. John von Gaunt spielte mit, aber Athelstan sah, daß Cliffords Worte ins Schwarze getroffen hatten: Die Offenbarung, daß er einen Verräter gefördert hatte, war sehr schmerzhaft gewesen. Gaunt, der kaum seinem eigenen Schatten vertraute, war jetzt noch zurückgezogener und mißtrauischer. Er saß auf seinem Stuhl und empfing schweigend den Beifall seiner Kaufmannsfürsten. Er schien gar nicht zu bemerken, wie Athelstan und Cranston sich verabschiedeten und das Rathaus auf leisen Sohlen verließen.
»Gott sei Dank, das ist vorbei!« schnaufte Cranston. »Wir hatten sehr wenig Beweise, Bruder.« Er warf einen Seitenblick auf den ernsten Ordensbruder. »Du hast ihn sauber in die Falle gehen lassen.«
»Nein, Sir John, er ist sich selbst in die Falle gegangen. Er war der gemeinsame Faktor bei all diesen Todesfällen.« Athelstan verzog das Gesicht. »Und ihn zu überführen - das war eine bekannte Methode, Mylord Coroner, die mein alter Lehrer, Bruder Paul, oft benutzt hat; er behauptete, er habe sie von der Inquisition gelernt.« Athelstan streckte die Glieder. »Es ist eine Tatsache, Sir John, daß ein Mann, der in Wut gerät, weder das Rasen seiner Gedanken noch das Plappern seiner Zunge zügeln kann.«
Sie überquerten die geschäftige Cheapside; nach der Spannung im Rathaus allerdings erschien ihnen der Marktplatz still und heiter, und Cranston machte sich kaum die Mühe, wie üblich mit Falkenaugen nach seinen sogenannten »Freunden aus der Unterwelt« Ausschau zu halten.
»Komm, Athelstan. Selbst der Herrgott würde jetzt sagen, daß ich einen Becher Roten verdient habe -und mein Schreiber einen Humpen Ale.«
Sie betraten den von gastlicher Fröhlichkeit erfüllten Schankraum des »Heiligen Lamm Gottes«, und eine Zeitlang tranken sie nur und sannen über das Drama nach, dessen Zeugen sie geworden waren.
»Woher wissen wir, daß er nicht Ira Dei ist?« fragte Cranston schließlich.
»Oh, ich glaube, da hat er die Wahrheit gesagt.« Athelstan schüttelte den Kopf. »Weiß Gott, Sir John, er hat recht. Da braut sich ein Unwetter zusammen, und wenn es losbricht, wird diese Stadt nie wieder so sein wie früher.«
*
Drei Tage später verließ Athelstan den Tower, und als er das Gedränge um Billingsgate und die Bridge Street sah, beschloß er, mit dem Boot vom Wollkai auf dem Fluß nach Southwark zu fahren. Die Sonne ging unter wie eine Feuerkugel und tauchte den Fluß in blitzendes Rot, während er sich durch die Gassen seinen Weg hinunter zum Kai bahnte. Er war müde und wollte nach Hause zu seiner Kirche, aber zugleich war ihm unbehaglich, denn er war sicher, daß ihm jemand folgte. Ab und zu spähte er durch eine Gasse, sah den Fluß funkeln, hörte von fern die Rufe der Bootsleute und widerstand dem Drang zu rennen. Er mußte nur immer weitergehen, und die gewundenen, verschlungenen Gassen würden ihn zum Wollkai hinunterbringen. Endlich erblickte er die Treppe, an der die Bootsleute auf Kundschaft warteten. Er wollte schon schneller gehen, als plötzlich eine dunkle Gestalt aus einem Hauseingang trat, verhüllt und maskiert. Athelstan sah einen Dolch blinken und blieb stehen.
»Was willst du?« Er hatte Mühe, mit fester Stimme zu sprechen. »Ich bin ein armer Priester, ich habe kein Geld.«
»Wohl wahr, Bruder Athelstan.« Die Antwort kam mit verstellter, gedämpfter Stimme. »Arm in vieler Hinsicht, aber in mancher auch reich. Du hast den Schuldigen im Rathaus also gefunden? Und morgen stirbt Mylord Clifford auf dem Tower Hill.«
Athelstan stützte sich auf den Knüppel, den er bei sich trug. »Und du mußt Ira Dei sein.«
»Oder sein Bote.«
»Nein.« Athelstan schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, du bist selbst gekommen, um mit mir zu reden.« Er spähte über die Schulter des Mannes zum Wollkai.
»Nein, tu das nicht«, befahl die gedämpfte Stimme leise. »Ruf nicht um Hilfe, Bruder. Ich tue dir nichts.«
»Warum stellst du dann nicht deine Frage?« versetzte er.
»Wie lautet sie denn?«
»Ob ich weiß, wer du bist! Und die Antwort lautet: Nein. Ich will es auch nicht wissen; es kümmert mich nicht!«
Die verhüllte Gestalt trat einen Schritt zurück. »Du bist ein guter Pfaffe, Athelstan. Du liebst die Armen. Du bist ein Hirte, der an seine Herde denkt, und nicht nur an die Felle. Bald wird um uns herum ein Unwetter losbrechen, aber solange du dich nicht einmischst, wird dir nichts geschehen.«
»Ich habe auch eine Frage.«
»Stelle sie.«
»Clifford hat in deinem Auftrag gemordet?«
»Ja.«
»Und es gibt Leute bei Hofe und im Rathaus, die in deinem Sold stehen?«
»Du hast gesagt, du hättest nur eine Frage.«
Athelstan zuckte die Achseln. »Dein Publikum ist eben gebannt von dir.«
»Dreh dich um, Bruder.«
Athelstan wollte sich weigern, sah aber wenig Sinn darin, und so gehorchte er.
»Um deine Frage zu beantworten, Bruder: Der Verrat ist wie eine Weinranke. Er hat viele Zweige.«
Athelstan stand bewegungslos da und straffte die Schultern. Als er sich schließlich umdrehte, war die Gasse leer.
Der Bruder ging hinunter zum Wollkai, mietete sich ein Boot und lehnte sich im Heck zurück, als der grauhaarige, zahnlose Bootsmann ihn mit stählernen Armen kraftvoll zum anderen Ufer ruderte. Athelstan bezahlte und wanderte durch die Dämmerung heim nach St. Erconwald.
Im Haus und im Stall war alles still. Jemand hatte Philomels Trog gefüllt, und das alte Schlachtroß mampfte, als sei dies seine erste und seine letzte Mahlzeit. Athelstan ging nach vorn zur Kirche und sah erschrocken, daß die Tür angelehnt stand. Er stieß sie ganz auf, schlich auf Zehenspitzen hinein und spähte in die Dunkelheit.
»Wer ist da?« rief er.
Seine Worte klangen hohl und leer. Athelstan packte seinen Knüppel fester und ging durch das dunkle Kirchenschiff zum Lettner.
»Wer ist da?« rief er. »Dies ist das Haus Gottes!«
»Um Himmels willen, Mönch, du hast mich erschreckt!«
Athelstan fuhr herum und sah undeutlich die kräftige Gestalt Sir Johns, der an einen Säulensockel gelehnt dasaß, den wunderbaren Weinschlauch in den Armen.
»Sir John, Ihr sorgt noch dafür, daß ich graue Haare bekomme!«
»Du wirst sie alle verlieren, Bruder, und es wird dich einen Dreck stören, genau wie mich!« Cranston klopfte neben sich auf den Boden. »Komm her, setz dich. Wo warst du?«
Athelstan ließ sich neben seinen dicken Freund niedersinken.
»Willst du einen Schluck Wein?«
»Sir John, dies ist eine Kirche!«
»Ich habe mit dem Herrgott geredet; er hat nichts dagegen.«
»Wenn das so ist, Sir John …« Athelstan griff nach dem Weinschlauch und nahm einen großzügigen Schluck. »Es stimmt schon«, murmelte er. »Der Wein erfreut des Menschen Herz.« Er reichte den Schlauch zurück. »Sir John, ich habe Elizabeth Hobden bei den Minoritinnen besucht. Sie ist glücklich und zufrieden.«
»Ihr Vater und ihre Stiefmutter sind im Gefängnis in Marshalsea«, brummte Cranston. »Der Himmel weiß, was aus ihnen werden wird. Aber bis diese Dinge geregelt sind, bleibt das Mädchen unter der Vormundschaft des Gerichts. Und wo warst du noch?«
»In der Hölle, Sir John. Genauer gesagt, in den Verliesen des White Tower. Morgen bei Tagesanbruch wird Adam Clifford enthauptet. Er hat mich gebeten, ihm die Beichte abzunehmen.«
»Dich?«
»Ja, Sir John. Er sagte, beichten könne er nur bei mir.«
»Und was hat er gebeichtet?«
Athelstan schüttelte den Kopf. »Danach dürft Ihr mich nicht fragen, Sir John. Nicht einmal der Papst kann das Siegel des Beichtgeheimnisses brechen.«
»Aber wir haben den richtigen Mann verhaftet, ja?« fragte Cranston besorgt.
»Oh ja, Sir John.«
»Und tut es ihm leid?«
»Es tut ihm leid, daß er sterben muß. Aber er hat das ganze als Spiel betrachtet, fast wie ein Turnier -eine Sache von Geschicklichkeit und Glück.«
»Und Ira Dei?«
Athelstan holte tief Luft; er hielt es für das Beste, Sir John nichts von seiner Begegnung am Wollkai zu erzählen.
»Komm schon, Bruder«, drängte Sir John. »Du mußt Clifford doch danach gefragt haben. Das fällt doch bestimmt nicht unter das Beichtgeheimnis.«
»Ja, ich habe ihn danach gefragt.« Athelstan packte das dicke Handgelenk seines Freundes. »Sir John«, flüsterte er, »bei Gott, ich werde es Euch nur erzählen, wenn Ihr mir Euer Wort gebt, wenn Ihr schwört, es niemandem zu verraten.«
»Du hast mein Wort. Das genügt.«
»Nun, ich habe Clifford nach Ira Dei gefragt. Er hat sofort bestritten, irgend etwas zu wissen, und dann sagte er, seit seiner Verhaftung habe er über vieles nachgedacht. Was Ira Dei angehe, so sei er nicht sicher; er wolle jetzt seine letzte Beichte ablegen und werde bald vor Gott treten, und so wolle er seine Lage durch falsche Anschuldigungen nicht noch schlimmer machen, aber …«
»Na?«
»Bei den wenigen Gelegenheiten, da er Ira Dei tatsächlich begegnet ist, war der Mann verhüllt und maskiert, und seine Stimme klang verstellt und gedämpft. Aber die Intonation bestimmter Worte, die Art, wie der Mann sprach, brachte Clifford zu der Uberzeugung, daß Ira Dei kein anderer als Sir Nicholas Hussey sei.«
»Hussey!« rief Cranston.
»Nun, Sir John, Clifford hat nur einen Verdacht geäußert. Aber er wird sterben, und er hat keinen persönlichen Vorteil mehr davon; warum sollte er also lügen?«
Sir John lehnte sich zurück und stieß einen leisen Pfiff aus. »Wenn Hussey unser Mann ist«, meinte er, »dann heißt das, daß auch der junge König in die Sache verwickelt ist. Was für ein Spiel spielen sie da? Sich mit den Feinden des Regenten zu verbünden ist eine Sache - aber sie tatsächlich anzuführen?«
»Das dachte ich auch, Sir John; aber es deutet alles daraufhin.«
Athelstan zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Erstens, es wird einen Aufstand geben. Zweitens, dieser Aufstand wird sich gegen den Sitz der Macht richten, also gegen den Regenten. Drittens, Sir John, wenn Ihr ein wildgewordenes Pferd zügeln wollt, was tut Ihr dann? Hängt Ihr Euch ans Zaumzeug, oder versucht Ihr, im Sattel zu bleiben?«
Cranston nickte. »Natürlich, Hussey sitzt im Sattel. Ja, ja«, fuhr er aufgeregt fort. »Der Regent hat die Probleme nicht verursacht, aber wenn die Revolte kommt, wird Hussey dafür sorgen, daß Gaunt derjenige ist, der dafür verantwortlich gemacht wird. Richard dagegen wird die Rolle des unschuldigen jungen Königs spielen, der sich keines Verbrechens schuldig gemacht hat und seinen bösen Onkel nicht im Zaum halten konnte.«
»Genau, Mylord Coroner. Die Revolte wird vergehen. Gaunt wird vielleicht dahinfahren, die Rebellenführer werden verschwinden. Aber die Krone wird überleben.«
Cranston nahm noch einen Schluck aus seinem Weinschlauch und lachte säuerlich. »Bewahre uns, oh Herr«, flüsterte er, »vor den Lügen der Fürsten. Ich werde es niemandem sagen, Bruder. Aber ich werde ein scharfes und wachsames Auge auf Sir Nicholas Hussey haben!«
»Nun, es ist vorbei, Sir John.« Athelstan drehte sich um und spürten den kalten Säulenstein an seiner heißen Wange.
»Vorbei ist es nie, Bruder. Erinnerst du dich an Rosamund Ingham? Nun, sie hat im Fleet-Gefängnis Selbstmord begangen. Auf irgendeine Weise wurde ein wenig von dem Pulver, das sie dem armen Oliver vorenthalten hatte, zu ihr hineingeschmuggelt. Sie ist dem Henkersstrick entkommen. Und dabei war alles umsonst. Ich war bei Inghams Testamentseröffnung.«
»Und?«
»Er hat fast jeden Penny mir hinterlassen, und seiner Frau nur eine jämmerliche Kleinigkeit. Sein Haus, die bewegliche Habe, Gold und Silber - alles bekommt der arme John.« Cranston wischte sich die Tränen ab. »Bei Gott, ich würde alles zurückgeben, wenn ich nur noch einmal Olivers Gesicht sehen könnte.«
»Und was werdet Ihr mit dem Geld anfangen, Sir John?«
»Na, zum Beispiel diese gottverlassene Bude hier ein bißchen aufhellen.« Er stieß Athelstan in die Rippen. »Ein hübsches Fenster aus Buntglas, he? Eine passende Erinnerung an den alten Oliver!«
»Sir John, das wäre ein prächtiges Geschenk!«
Cranston kam taumelnd auf die Beine und streckte sich. »Und du, Bruder, was fängst du jetzt an? Wohlgemerkt« - er pustete die Wangen auf - »wir haben noch mehr Morde: Ein Schankwirt in einer Taverne in der Carter Lane ist in einem Faß Malmsey ersäuft worden. Eine junge Ehefrau in der Shoe Lane in Farrington hat man aus einem Karpfenteich gefischt. Und was noch schlimmer ist…«
»Ja, Sir John?«
»Mein Schwager Ralph wird nächste Woche über uns kommen. Herrgott, das Spatzenhirn wird schnattern wie ein streitsüchtiges Eichhörnchen!«
Athelstan grinste. »Da seid Ihr auf Euch selbst gestellt, Sir John. Meine Pfarrgemeinde und ich machen eine Wallfahrt zum Grabe des Hl. Swithun in Winchester.«
Cranston kratzte sich am Kopf. »Bruder, du machst Witze?«
»Nein, Coroner.«
Cranston half Athelstan hoch. »Komm, Bruder, wir trinken einen Becher auf den alten Oliver, noch ein letztes Mal, und ärgern den diebischen Halunken, dem die Schenke zum Gescheckten gehört.«
Cranston hatte ziemliche Schlagseite, und so schob Athelstan seinen Arm unter den des Coroner und führte ihn langsam aus der Kirche. Plötzlich blieb Cranston stehen.
»Habe ich dir das eigentlich schon erzählt, Bruder?«
»Was denn, Sir John?«
»Ich war eigentlich immer schon ein inniger Verehrer des Hl. Swithun …«