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Die Nacht war zuende. Der Autor öffnete die Augen. Hellichter Tag. Morgensonne. Er zog die fremde Frau an sich, doch da war niemand. Dabei hatten sie gerade noch einander umfangen, wie kein Paar je einander umfangen hatte. Liebe? Die Frau hatte ihn spüren lassen, daß sie für ihn war. Was war denn so Besonderes daran? Für ihn war es das Wunder. Und jetzt am Morgen schnappte er nach ihr, lechzte nach ihrem Körper im Leeren. Ja, gab es die Frau denn gar nicht? Doch, sie existierte, außerhalb des Traums, und wie, aber sie gehörte nicht ihm. Ah, der Schmerz über ihre Abwesenheit. Endgültig entzweit war er.

Und wo waren wir anderen, die nachtlangen Zuhörer auf dem Schiff, der Freund aus Porodin, der Zahnarzt aus Velika Plana, der ehemalige Offizier und nun Champignonzüchter, der Nachwuchsdichter, der arbeitslose Advokat, der arbeitslose Lehrer, der Nachtportier? Auch von uns keine Spur; von einem »wir« keine Rede; der Autor war allein im Salon, nicht einmal der Busnachlaufhund zu seinen Füßen; der Blick nach »uns« in die Runde: abermals ins Leere. Dabei war es gedacht gewesen, daß die Geschichte endete mit uns allen an Bord, unter dem Sonnensegel, und zwar nicht mehr an der Morawa, sondern nach deren Einmündung weiter nordwärts, mitten auf der zehnmal so breiten Donau, Richtung Schwarzes Meer, wohin wir im Morgengrauen getuckert wären, wieder einmal auf der Flucht. Nichts da. Ah, sein Schmerz, der große: das ewige Getrenntsein.

Nicht einmal ein Fluß, nicht einmal die Morawa vor den Fenstern, die ganz und gar keine Bullaugen waren. Auffällig das grelle Licht in den Ritzen der Schwingtür mit der Aufschrift »KUHINJA«, Küche. Die Tür aufgestoßen – und wieder nichts, wieder die Leere. Geblendetes Stehen in der Sonne. Keine Spur von einem Schiff, von der MORAWISCHEN NACHT? Was gerade noch ein Schiff gewesen war, schrumpfte zum Einbaum, und der Einbaum sank. Und der Fluß, die Morawa? Die Morawa versiegte. Und Porodin war doch keine Enklave, nie eine gewesen. Die balkanische Enklaven lagen woanders.

Was hatte er bloß bei den Verlorenen auf dem Balkan zu suchen gehabt? Warum sie nicht ihrem Schicksal überlassen? Aber war das überhaupt noch der Balkan? War das nicht eher das Rattern von Vorortzügen als das Tosen von der Balkanautobahn? Weiterwirkend dabei der Nachhall der Nacht, wie des Tosens der Fernlaster so auch des Rauschens der Morawa, des Brüllens der Rehböcke, des Quäkens der Frösche im Uferschilf. Und wie der Nachhall so auch die Nachbilder. Der Verlorene, war das nicht in Wirklichkeit er? Ein Griff in den Staub war das Unternehmen der Nacht gewesen?

Ein dritter Engel trat zuletzt auf in seiner Geschichte: nach dem Schutz- und dem Warnengel der Beschwichtigungsengel. Und der beschwichtigte ihn. Und er ließ sich von ihm beschwichtigen. Das ist das. Und das ist das. To je to. I to je to. – Geographie der Träume, bleib bei mir jetzt und in der Stunde meines Todes.

Zeit seines Lebens hatte der Autor über Nacht an einem Buch geschrieben. Und über Nacht auch hatte er es jeweils beendet. Bloß war das Buch dann am Morgen nicht mehr da. Es war nächtens sogar als Buch erschienen, veröffentlicht gewesen. Im Tageslicht aber: verschwunden, verschollen. Der Griff nach ihm: ins Leere. Immer wieder auch war es vorgekommen, daß der Schriftsteller bei geschlossenen Augen das Buch noch eine Zeitlang vor sich hatte. Je eine Seite, eine einzige, zeigte sich so, und zwar als Handschrift. Diese Schrift war freilich nicht die seine. Klar war sie, und doch gelang es ihm nie, sie zu entziffern, kein Wort, höchstens einzelne Buchstaben. Es war auch, als sei das Buch nicht in seiner Sprache geschrieben. In einer anderen also? Welcher? In einer fremden, nein, in einer überhaupt unbekannten. Und trotzdem war es eine Seite seines über Nacht geschriebenen Buchs! Völlig erschöpft war er noch vom Schreiben, das Herz jagte, die Schreibhand schmerzte und zuckte nach im Krampf.

Und erstaunlich lange blieb jedesmal diese Schrift sichtbar. Und wenn sie zuletzt doch ins Flimmern geriet, durcheinanderflimmerte und verblich: welche Leere, welche Schwärze. Ein eigener Planet erschien so in der Schwärze, schrundig, zerklüftet mit sporadisch hellen Stellen, ein Chaos, das pulste, und dazu eine so stille und so duftige Musik, wie sie sich nie wieder hören ließe. Dazu das Flügelschlagen eines Riesenvogels, eines unsichtbaren, zu verwechseln mit dem Ausschütteln und Spannen eines Tuchs.

Nicht wenige solcher nächtlicher Bücher hatte der Autor im Lauf seines Lebens verfaßt, die vom Tageslicht in nichts aufgelöst worden waren. In nichts? Wirklich? Etwas blieb in ihm von ihnen allen, etwas Leibhaftiges, so daß er nicht glauben konnte, sie seien tatsächlich verschwunden, und es habe diese Bücher einer Nacht nie gegeben. Und als was empfand er das Bleibende, das Leibhaftige? Was ihm von einem jeden Nachtbuch blieb, war ein Geschmack. Das Buch gab es irgendwo; es war keine nächtliche Fata Morgana; es hatte Bestand; er konnte es schmecken. Und der Geschmack hatte jedesmal auch einen Vorgeschmack. Und es gab noch etwas, das ihm blieb von der Nacht: ein Wort aus des Autors arabischer Zeit, und das bedeutete »die Nacht im Gespräch verbringen«, und es lautete Samara. Wieder, nach Stara Vas und Samarkand, das dreimalige a.

Ein dunkler klarer Morgen war das, wie geschaffen zum Aufbrechen – und an Ort und Stelle Bleiben. Der Wald vor dem Fenster hier: kein Auwald? Der Fluß Morawa beim Dorfe Porodin im tiefsten Balkan: abgerauscht? Das Schiff namens MORAWISCHE NACHT ausgeschaukelt? Mit einem Ruck an Land gesetzt?

Und ein vierter oder fünfter Engel packte ihn am Schopf, der Am-Schopf-pack-Engel: Das Wipfelrauschen jetzt, hör doch, denk dir, hier wie dort. Und da, schau, stell dir vor, der Kirschbaum, über Nacht rot geworden: die Nacht der reifenden Kirschen! Und die Schwalben dir, hier wie dort in unserem Europa. Und die zitternden, die spielenden Sekunden hier wie dort. Und die Wolken hier wie dort. Und die Mücken hier wie dort. Und die Leute draußen auf der Straße waren euch doch wirklich die von Porodin, und ich grüßte sie dir zum Fenster hinaus in ihrer balkanischen Sprache, und – sie grüßten uns ebenso zurück. Und der Morgenbus, der vorbeifuhr, war ein Steyr-Diesel, und die Silhouetten drinnen waren mir vertraut.

Ein schräges Leuchten aus den Wolken, schau, das war manchmal das Leben. Daß du der Sohn deiner Sekunde seist. Und daß die Sekunde dein Atem sei.

Auf sein Schiff hatte der Autor uns geladen mit einem »Kommt, her mit euch, ich muß euch eine traurige Geschichte erzählen!« Eine traurige Geschichte? Man würde sehen.

 

 

Januar – November 2007