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Endlich dann zurück auf dem Balkan, der diesen Namen verdiente. Mochte er auch für die große Mehrheit ein Schimpfwort sein: für ihn, und ebenso für uns, seine Zuhörer in der Morawischen Nacht, war er etwas anderes. Wo hatte er begonnen, sein und unser Balkan? Schon lange vor der geographischen und morphologischen Grenzlinie. Balkan, das war zum Beispiel augenblicksweise die Steppe um das verschwundene Numancia in Altkastilien gewesen, als dort ein zerrissener blauweißer Plastiksack an einer Blaudistel hing und im Wind knisterte. Balkan: die getigerte Falkenfeder neben dem toten Rehbock, der sich bei dem Sturz von einem Kalkfelsen das Genick gebrochen hatte, im deutschen Harz. Die Pfahlhäuser an der Donau östlich von Wien, mit den im Leeren aufgehängten Reusen und dem Gerümpel unter den Häusern in dem Geviert der Pfähle, die ausgedienten Kühlschränke, Gasflaschen, Autoreifen: Balkan. Der Holz- und Kohlenrauch aus dem Rauchfang des Maultrommlerwirtshauses und die Äpfel dort zwischen den doppelten bodennahen Fenstern. Der Sägebock neben dem Großvater- und Bruderhaus, umgekippt, halbbegraben zwischen Getränkekisten, Steinhaufen, Teerpappe, Kohlstrünken, vertrockneten und neu austreibenden Zwiebeln. Das Tuten eines Zuges, von sehr weitem voraushallend in einer Karstschlucht. Die Schmetterlingspaare in der Sonne, wie sie einander wo auch immer auf der Reise durch Europa auf engstem Raum umtanzten, kaum mehr als daumennagelgroß, rotbraun, mit dem Muster eines orientalischen Teppichs aus Kreisen und Dreiecken auf den Flügeln, und die jeweils als drei, wenn nicht mehr erschienen: all das war schon im voraus der Balkan.

Einsprengsel waren das gewesen in der Zeit und in den Räumen, Vorwegnahmen, Inselchen, Inselmomente. Jetzt jedoch setzte er den Fuß auf das balkanische Festland, auf die terra firma, fern von jeder Art Küste und Meer. Zurück auch im Binnenland, durchströmt von Flüssen, alle bestimmt für die Donau und das Schwarze Meer. Stehendes Wasser? Kaum eins. Und all die Einbäume auf den Flüssen.

Weiter zu Fuß ging er, flußab und stromab, südostwärts querfeldein, querwaldein, über Stock und Stein, durch die pannonische Tiefebene, über den einen in ihr aufgebuckelten, zweitagesweglangen Hügelrücken namens Fruška Gora und von dort hinab im Zickzack zwischen den Klöstern des Südhangs und auf die Weiße Stadt zu, oder eher auf den zentralbalkanischen Busbahnhof im Zwickel der Savemündung in die Donau, von wo die Busse in jede gewünschte Richtung fuhren, immer noch, und so auch heim in die Enklave von Porodin, an die Morawa.

Bei seiner Ankunft auf dem fest- und binnenländischen Balkan war das ein Tag der Eintagsfliegen gewesen: wo er auch ging, flogen sie am Morgen ihre Kurzstreckenflüge, gerieten am Nachmittag ins Taumeln und setzten am Abend auf zum Sterben, waren dann, spätestens am folgenden Morgen, tot, ohne irgendwie umgefallen zu sein, nicht zur Seite, und erst recht nicht auf den Rücken, standen still und steif, aber so gar nicht totensteif auf ihren hohen gezackten Beinen da, auf den Fensterbrettern, auf den Fernsehern, auf den Betonmischmaschinen, auf den Gießkannen, mit der zarten, an einer Stelle verdickten Form eines Buchstabens, annähernd eines W, oder eines M, auf den durchsichtigen Flügelchen, den Hinterteil des Leibs leicht angehoben wie bereit zum Weiterflug. Einen Tag lang lebten sie angeblich nur, aber diesen einen Tag lang konnte ihnen niemand etwas anhaben, sie entwischten jedem, waren nicht zu fangen. Warum dann aber ihre taglange Panik, die ständigen Luftsprünge? Und wie gewichtslos sie dann waren, als Kadaver. Kadaver?

Dann der Tag der Marienkäfer, jeder in balkanesischer Großspurigkeit mit mindestens fünfzehn bis zwanzig schwarzen Punkten auf seinem Roter-Stern-Belgrad-Buckel. Nach diesem der Tag der Weinbergschnecken, der Tragesack des Wanderers, als er ihn für eine Rast und Wegzehrung vom Rücken streifte, behangen mit Schneckenhäusern so wie der Sack eines Jakobspilgers mit Muscheln, nur daß die Schnecken lebendig waren, und wie!, ineinander verknäult, und ihre Gehäuse, anders als die Muscheln, sich fast lautlos aneinanderrieben, ohne ein Klappern, und er bei Gott kein Pilger war, und wenn, so entschlossen in der Gegenrichtung zu sämtlichen eingeführten Pilgerzielen.

Dann der Tag der Smaragdeidechsen, der goldgrünen, die einen reglos in der Sonne am Fuße der Klostermauern, die andern in einem fort, hin und her, bis zum Sonnenuntergang, vor ihm über die Landstraßen der Tiefebene rennend, drachengroß, vor allem der Kopf, so im Dahinpreschen, froschplatt dort, wo sie überfahren worden waren. Dann der Tag der Schwalben, die dir unversehens hoch oben in dem Blau des Himmels erschienen, von nirgendwoher geflogen, wie von dem Himmelblau selber hervorgerufen, und zwar zuhauf, und so binnen einer Sekunde den eben noch leerblauen Luftraum durchkreuzend, -segelnd, -kurvend, -flatternd, -flitternd. Und dann der Tag der Bienen in den weißen Kleeblüten, die davon zitterten. Und dann der Tag der sich paarenden Libellen, die so, gepaart, ineinander, gemeinsam weiterflogen. Und dann der Tag der Balkanpferde, wie sie die fast senkrechten Böschungen hinaufsprangen und -liefen, gemsengleich. Und dann der Tag des Springkrauts, wie es dem Wanderer platzte, leise, leise, in der hohlen Faust. Dann der Tag der »wirklichen« Balkanfalterpaare, das Handgelenk des Gehenden umflatternd als ein bewegliches Armband. Und dann, weißt du, der Tag des ersten Lindenblütendufts, ein Schwall aus den Zwischenräumen, in einer Plötzlichkeit, die alles andere tat als erschrecken. Der Tag des Irregehens. Der Fiebertag. Der Tag des Fliederhimmels. Der Tag des Schlafs in der Feldscheune. Der Tag, da er am Wegrand saß und zeichnete, vor einem Gewitter, und ihm da, weißt du, als der Blitz einschlug in der Nähe, der Zeichenstift ausscherte zu einem dicken Strich quer über das Blatt. Und zwischendurch der Tag des Hohen Sommers mit Grillenhören von sämtlichen Erdhorizonten. Und am Vortag: Wildentenzüge wie im Spätherbst.

Erlebte er sonst denn nichts? (Unser Zwischenrufer konnte es nicht lassen.) Doch: Der arme Wirt, bei dem er dir einmal zu Mittag aß, war taub und schabte für ihn die letzten Krümel zusammen: was für ein Geschmack! Und einmal saß er euch taglang an einer Landstraßenkreuzung. Und? In einem verlassenen Garten dort wuchsen Gladiolen. Und die Wolken kamen meistens von Osten. In den Schulbussen saßen die Kinder zusammengedrängt im Heck. Die Wahlplakate, selbst die frischen, wirkten alle ausgebleicht. Nußbäume und Zwetschkenbäume auch weit außerhalb der Dörfer, und er nährte sich von den Vorjahrsnüssen im Gras und von den am Baum gedörrten Zwetschken. Staubfahnen wanderten ihm voraus am Straßenrand oder drehten sich im Wirbelwind am Boden um sich selber. Und der Steg, der unvermutet durch einen abgelegenen Friedhof führte. Und in einem der Klöster, sagen wir, von Grgetek, das Wandbild, wo Jesus beim Letzten Abendmahl mit den Jüngern unter freiem Himmel saß, unter Bäumen, mit den Feldern im Hintergrund. Und das vielfältige Grünen, das unvergleichliche, das balkanische. Und das Blauen. Und die Nachtigallen bei Sonnenschein. Und einen Tag lang arbeitete er mit auf einem Feld, wie einst im Internat, beim Kartoffelpflanzen. Und die Tage begannen, sowie er ins Hören kam, oder sowie die Schatten zu spielen anhoben. Und mit der Zeit und mit dem Unterwegssein wurden euch die Schuhe zum Schuhwerk, und die Kleider zum Gewand oder »Beinkleid«, und das alte junge Europa erwachte in ihm, nicht der Erdkreis wie bei seinem Bruder, ausschließlich, seltsam, Europa erwachte in seinem dahingehenden Körper, in dessen Zwischenräumen, und weniger die Länder als diese und jene Winkel, und die Winkel verbanden sich, als andere Gelenke, ohne Grenzen, ohne eine Grenze.

Und Begegnungen mit Menschen? Langes Sinnen. Niemand? Niemand begegnete niemand? Doch: Einmal kam er mit jemandem ins Gespräch, oder hörte dem anderen eher bloß zu. Das war der Tag des Irregehens in dem Gebiet, welches Die Balkanische Wüste genannt wurde. Von der Landstraße führten da noch und noch Wege oder Pisten hinein. Nur brachen die dir alle mittendrin irgendwo ab, vor einem letzten Acker, in der Regel mit Mais, hinter dem allerseits im Rund sich eine unübersichtlich kleinhügelige, wasserlose Sand- und Lehmlandschaft ausdehnte, wo es von Horizont zu Horizont nichts mehr zu ernten gab, höchstens vielleicht, wie in der Taiga, zu sammeln oder zu jagen. Und hier, nach einem Mäander in einem wohl schon in der Vorzeit ausgetrockneten Bachbett, das einen Weg vortäuschte, traf er euch auf einen sehr alten Mann, der vor einer Böschung mit einem Muster von Vogeleinschlüpfen im Lehm auf den Fersen hockte, wie der Wächter des Ortes da; dessen Anschein der einer Urnengräberstätte. Und ohne zurückzugrüßen, fing er gleich damit an, daß er ein Flüchtling von jenseits der Drina, aus Bosnien, sei und seit dem Ende des Krieges, seit nun fast zwei Jahrzehnten, nach seinem verschollenen Sohn suche. Fast den ganzen Balkan hatte er inzwischen durchkämmt, ohne eine Spur von seinem Kind, und viele, sagte er, waren unterwegs wie er, auf der Suche, in der Regel die Väter, während die Mütter das Haus bestellten und dort warteten, wenn sie nicht gestorben waren. Und der alte Mann erzählte, wo der Verschollene zum letzten Mal gesehen worden war; beschrieb ihn – Augenfarbe, Ohrform, Narben – und zeichnete seine Gestalt in die Luft, insbesondere die Schultern und den Kopf, all das mehr für sich selbst als für das Gegenüber, das ihm bloßer Vorwand war, sein seit Jahrzehnten ständig sich wiederholendes Selbstgespräch laut werden zu lassen. Wenigstens einen Knochen von seinem Sohn wollte er mit nachhause nehmen. Der Knochen, an dem er dabei, die beiden Arme ausstreckend, in der Luft Maß nahm, war freilich der eines Riesen, so lang und so groß wie ein ganzer Mensch. – Und sonst wirklich niemand? Nein. Ah, doch: Alle die Fährleute, die ihn über die hundertundeins Flüsse brachten. Und der andere Greis, der andere Flüchtling, der mit den Kinderaugen, im Ex-Land einst als So-oder-so-Abweichler zum Tode verurteilt, durch die Flucht ins Ausland zum Philosophen geworden, welcher, kurz vor dem Sterben, immer noch die ganze Welt umdenken wollte: »Ein neues Denksystem muß her!« Und die Frau mit den Kirschenaugen. Und der sonnverbrannte Pope auf Wanderschaft, mit nichts als einem Zahnstocher zwischen den Lippen. Und bei den doch so friedlichen Flugzeuggeräuschen, von sehr hochoben, das allgemeine Kopfeinziehen. Und das heimliche alte Liebespaar, beide weißhaarig und mit gleichermaßen geröteten Wangen. Und vieles schien einfach. Und nichts war dann einfach. Verletzte Völker waren das, von Winkel zu Winkel, wissende Völker, weise.

Auf dem Busbahnhof der Weißen Stadt. (In den neuen Karten hieß sie wieder, wie einst in den Zeiten der Fremdherrschaft, »Weißenstadt« – wie war gerade Belgrad zu diesem Namen gekommen?) Warten auf den Bus zurück in die Enklave. Es fuhr nur noch ein einziger am Tag, und so blieb dem Heimkehrer, oder was er war, viel Zeit zum Sitzen und zum Schauen. Diesem war günstig auch die Sonne im Rücken, eine gewisse Müdigkeit und der Ort, der die Terrasse einer der rund um den großen Busplatz zahlreichen Gaststätten war. Und wie es sich traf, war sein Blickfeld ausschließlich das der ankommenden Busse. Klein war das Land geworden? Nach dem Bild der Busse hier an ihrem Zielort nicht. Nicht nur, daß eine Ankunft auf die andere folgte, pausenloser Szenenwechsel, der eine Bus, leer ab in die Remise, und schon die Einfahrt, oder der Auftritt des nächsten, vollen. Auch bot jeder Bus ein anderes Bild, einmal schon, was die Marke oder Bauart, das Alter, die Farben betraf, oder, versteht sich bei dem in Europa einzigartigen Vielvölkerland seit jeher, selbst oder gerade in seiner Geschrumpftheit, die Unterschiedlichkeit der von Bus zu Bus aussteigenden Passagiere – ein anderes Bild freilich sozusagen in erster Linie an den Fensterscheiben, und ein besonders klares da, nachdem alles ausgestiegen war, in dem kurzen Augenblick, bevor der geleerte Bus aus dem Bild fuhr. Die Sonne, indem sie durch das leere Gehäuse schien, verdeutlichte dabei das Fensterglas und konturierte die von der Fahrt daraufgebliebenen Spuren. Busscheiben ohne Spuren, oder mit alten, vielleicht wochen- oder monatealten Spuren, verkrusteten, verhärteten, hätten an eine Fahrt von unweit, bloß aus einem der Vororte, denken lassen. Aber solche Busse fuhren da nie vor. Alle die Busse, samt den Scheiben, waren spürbar vor Fahrtantritt gewaschen worden, und die Spuren am Glas waren ohne Ausnahme frisch, rührten allein von der jeweiligen, jetzt an ihr Ziel gekommenen Fahrt. Und alle die Fahrten hatten mehr oder weniger lange gedauert. Frisch waren die Spuren, das war ihre Gemeinsamkeit, und wie aber waren sie ansonsten verschieden. Wie verschieden beatmet die Busfenster allein schon: Das da ein Kinderatem, das dort ein Altenatem. Schlafatem. Angstatem. Schauensatem. Wutatem. Zager Atem. Verlassenheitsatem. Und an den einen Busscheiben in der Mehrzahl die Abdrücke der Nasen, im andern Bus mehr Stirnen, im dritten mehr Wangen, im vierten mehr Hände. Zu unterscheiden so auch, schon außen an den Scheiben, die Busse, die nur eine Tagesfahrt hinter sich hatten, von denen, welche die Nacht durchgefahren waren; die Busse aus den Bergländern von denen aus den Tiefebenen; die aus einer betauten Gegend von denen aus einer Regengegend; die aus einer Gewitter-mit-Hagel-Landschaft von denen, wo an den Fenstern am Morgen noch – das war zu sehen, es gab noch die Spuren – die Eisblumen geblüht hatten oder die angeweht worden waren von einem Schneesturm – auch dessen besondere Spuren, längst nach dem Flockenschmelzen, waren klar an die Busscheiben eingezeichnet, gleich wie die eines Sandsturms, eines Blütenschnees, einer Moskitowolke, eines Heuschreckenschwarms. Karten des Landes an den Busscheiben, anders detaillierte. Aber galten die? Ja, für den Augenblick, und noch eine Zeitlang darüber hinaus.

Und so saß er dann im Bus zurück nach Porodin und an die Morawa. Aufgebrochen war er südwestwärts, zurückkehrte er aus dem Nordwesten. Der Kreis schloß sich. Schloß er sich? Der Bus heim in die Enklave, anders als an dem Morgen der Abfahrt, war beinahe leer. Trotzdem hatte sich ein Passagier hinten neben ihn gesetzt, so als suche er Gesellschaft. Er sprach dann aber nicht, sondern faltete eine Zeitung auf, und der Heimkehrer konnte, wie seit jeher, und gegen seinen Vorsatz, während der Reise keine Zeitung zu lesen, nicht anders als mit ihm mitlesen. Neue Päpste, neue Weltmeister, neue Staatsoberhäupter, neue Weltstars, neue Vulkane, neue Epidemien, ein neuer Planet, eine neue Weinsorte, ein neues Schmerzmittel, ein neues Zahlenrätsel: So lange war er also unterwegs gewesen? Mitten im Blatt auf einmal eine Überschrift mit seinem Namen: Es war ein Bericht, eingangs »Erzählung« genannt, über seine, des Ex-Autors, Rundreise, verfaßt von dem Journalisten und Schriftsteller mit dem schönen Namen Melchior. Der war dafür bekannt, daß er jeden seiner Artikel gleichzeitig in allen Ländern Europas publizierte, übersetzt in die jeweilige Landessprache, und so auch hier im Ex-Land, dessen, wie hieß das, führende Zeitungen ja längst in fremde Hände übergegangen waren. Der Sitznachbar blätterte zwar bald weiter, aber er hatte immerhin einen Großteil des Artikels lesen können, auch weil der in einer Sprache geschrieben war, worin fast auf einen Blick, im Überfliegen, alles klar wurde; Klartext, so hieß das wohl, wobei sich schon nach den ersten paar Sätzen ein Weiterlesen erübrigte – wo man überhaupt von vornherein seine Zeit nicht mit Lesen verplemperte. Und was sprang ihm so in die Augen? Daß er, bereits laut Überschrift, mit seiner Reise nur vor sich selber geflüchtet war. Daß er allein dem Abseitigen nachgegangen war. Daß er die Augen geschlossen hatte vor der Realität. Den ernstzunehmenden Autoren brannten die Probleme der Gegenwart auf den Nägeln – und er? Er kaute höchstens ratlos an denen herum. Schicksale, Charaktere, Aktionen: nichts für ihn. Der Klimawandel; das Ozonloch; die Erotik; die alten und die neuen Wilden; das Massensterben der Pinguine; die Höhenangst der Irokesen, der doch einmal völlig schwindelfreien Wolkenkratzererbauer; die zunehmende Nachtblindheit der Katzen und sogar der Eulen; die Nonnenehen; der transgenetische Sauerampfer; die Rückverwandlung der Lurche in Fische: für ihn kein Thema. Nirgends zeigte er ein Herz für seine Zeitgenossen. Dafür begeisterte er sich an einem Glühwürmchen, einem Igel, einem Bach mit einem Stück Glimmer am Grund, einer alten Straße, einer Kuhflade, einem Kinderhaarwirbel, einem Mergelrot, einem Quittenblütenweiß. Und entsprechend abseitig er selber. Dabei die Augen doch überall, besonders auf den Hintern der Frauen. Laut geworden auf der ganzen Reise und ein Gefühl zeigend nur einmal: als ihm sein Handy ins Meerwasser fiel. Abseitig auch sein Ausüben der Religion – ein Rückfall ins Animistische: Wie anders es nennen, daß er unterwegs in einem fort nicht nur sich wendete und horchte nach dem leisesten Hauch, sondern auch selber ständig am Beatmen leblosen Zeugs war (Beispiel: der angerostete Klöppel der Schiffsglocke). Er entschuldigte sich bei einem Tisch, an den er stieß, bei einem Stein, sogar bei seiner eigenen Hand, wenn er sich diese einklemmte. Und andererseits bedrohte er eine quietschende Tür mit einem »Halt's Maul!«, ein reißendes Schuhband bekam von ihm zu hören: »Du Tunichtgut!, du Dreckskerl!, du Schlappschwanz!, du Saurüssel!«, und ein läutendes Telefon .wurde angeherrscht mit »Ruhe!«. Eine streunende Katze, die er streichelte, nannte er »Hure«, und »Na, kleiner Hund?« sagte er auch zu einem Weberknecht, während er dagegen die herrenlosen Hunde jeweils anredete mit einem: »Na, du krummer Vogel?!«. Und mehr als bloß ein paarmal wurde er beobachtet, wie er tote Tiere anhauchte, aus Leibeskräften, Fliegen, Spinnen, Käfer, Bienen, sogar Blindschleichen und Mäuse, als glaube er sich in der Macht, sie so wiederzubeleben – und nur da zeigte er Leidenschaft.

Der Artikelschreiber war auch schon informiert vom Ende der Reise, zu sehen an Zwischentiteln wie »Heimkehr mit leeren Händen« und »Auch die Gutgesinnten müssen Angst um diesen Unglücksritter haben«, und »Selbst die engsten Freunde sehen durch ihn durch«. (Gleich unter dem Artikel dann das Tageshoroskop mit dem ihn anders betreffenden Satz: »Sorgen Sie für Frieden.«)

Als der Heimkehrer von der Zeitung aufschaute, traf sich sein Blick mit dem des dritten Passagiers (mehr waren sie nicht in dem Bus). Der dritte, das war jemand, wie hieß das einmal? Blutjunger. Er saß ganz vorne, und hatte das Gesicht zu ihm gedreht, wie nicht gerade erst, sondern schon seit längerem. Und es schien, als wüßte der Junge da, das Fastkind, was sein Hintermann aus der Zeitung des Sitznachbarn sich zu Gemüte geführt hatte. Es schien so? Nein, er wußte es wirklich, wußte es buchstäblich, von Alpha bis Omega, und er bestätigte das auch in der Nacht auf dem Morawa-Schiff, war er doch einer von uns Zuhörern, der zuletzt noch Dazugeladene, der Überraschungsgast. Und der übernahm dann auch für ein paar Sätze das Erzählen von unserem Gastgeber: Der hatte sich beim Lesen des Artikels nämlich in den verwandelt, als der er dargestellt wurde, oder spielte den, probierte ihn an sich aus – knabberte andeutungsweise an den Fingernägeln, schloß die Augen (nicht ganz) beim Vorbeifahren des Busses an einer Unfallstelle, äugte, mit dem offenen Mund eines Idioten, hin und her zwischen seinen Schuhspitzen und dem Busdach, als sei dieses das Firmament, blies die Backen auf vor dem Vorhang am Busfenster, undsofort. Dazu wiegte er sich in den Kurven und warf, ohne auf den Sitznachbarn zu achten, die Arme in die Luft, wie um gleich abzuheben und beschwingt ins Freie zu fliegen; und am Ende grinste er nur noch und bewegte dazu die Lippen, von denen der Junge den kürzesten aller Balkanflüche ablas: »Die Maus soll dich ficken!« Wo war dieser Fluch unterwegs schon gehört worden?

Nicht darum ging es ihm im Erzählen. Immer wieder war es dem Jungen passiert, daß er sich in etwas verschaut hatte. Eine Baumkrone bewegte sich draußen im Schulhof, und er geriet dann im Schauen da mitten hinein. Ein Spatz badete in einem Sandloch, und er badete mit. Ein Kiesel rollte unten in der Strömung eines Wildbachs, und er rollte mit. War es tatsächlich ein Sichverschauen, ein Sichverlieren? Eher war das jeweils ein Schauen, aus dem, nach und nach, ein Übergehen in das Angeschaute wurde – worin er sich nicht verlor, im Gegenteil: übergegangen ins Angeschaute, ging dieses über auf ihn. Kaum je allerdings hatte er bisher solch einen Übergang angesichts von Menschen erlebt, höchstens vor seinen jüngeren Geschwistern, und auch nur, wenn er ihnen beim Schlafen zuschaute. Der Mann hinter ihm war der erste Fremde, mit dem ihm etwas dergleichen zustieß, und der Junge konnte nicht einmal sagen, warum er gerade bei dem so ganz Teilnahme wurde, wo doch an ihm nichts teilzunehmen war, schon gar nicht an seinem Gesten- und Mienenspiel. Wie auch immer: Das Fast-noch-Kind wurde in den Augenblicken des Übergehens auf den anderen, wo es zuletzt ganz dieser andere wurde, überrieselt von etwas, das, so oder so, sein Leben bestimmen würde.

Da hatte in der allmählich sich lichtenden Flußnacht, versteht sich, schon seit einigen Sätzen wieder der Bootsherr das Erzählen übernommen. Er hatte den Jungen unterbrochen, aber liebevoll, geradezu enthusiastisch. Und so fuhr er fort: An der Art, wie der junge Mensch im Bus ihn anschaute, an der »Osmose«, die da geschah an Leib und an Seele, hatte er, der abgedankte Autor, den zukünftigen erkannt. Der da derart ins Schauen kam bis zur vollkommenen und selbstvergessenen Teilnahme, und zwar unvorsätzlich und unwillkürlich, das war einer aus dem Nachwuchs. Den Nachwuchs für den Beruf, den gab es also noch, wer hätte das gedacht! Platz frei für den Nachwuchsspieler! Und daß der sich nicht etwa drückte vor dem, was ihm, und das nicht bloß für die eine oder andere Saison, sondern für sein ganzes Leben lang, noch bevorstünde! Sinnlos eine jede Ausflucht in einen anderen Beruf, in gleichwelchen: Wenn überhaupt etwas, konnte er nur das werden, ausüben und immer weiterüben, was sein Ureigenes oder, frei nach Jakob Böhme, sein Urstand war, oder, mit wieder anderen Worten, sein schönes und schreckliches Problem. Willkommen, Nachfolger, Wiederholer, Meldegänger. Sei gegrüßt, kleiner Bruder, mütterliches Kind. Hallo, neuer In-die-Luft-Schreiber, Neuwürfler, Frischbuchstabierer, Altes Haus, altes Haus. Und fürchte dich nicht: du bist es. Und fürchte dich: du bist es.