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Jedes Land hat sein Samarkand und sein Numancia. In jener Nacht lagen die beiden Stätten hier bei uns, hier an der Morawa. Numancia, im iberischen Hochland, war einst die letzte Flucht- und Trutzburg gegen das Römerreich gewesen; Samarkand, was auch immer der Ort in der Historie darstellte, wurde und ist sagenhaft; wird, jenseits der Geschichte, sagenhaft sein. Die Stelle der Fluchtburg nahm an der Morawa ein Boot ein, ein dem Anschein nach eher kleines, das sich »Hotel« nannte, in erster Linie aber, seit geraumer Zeit schon, dem Autor, dem ehemaligen Autor, als Wohnung diente. Die Aufschrift HOTEL war bloße Tarnung: Wer für die Nacht nach einem Zimmer, einer Kabine fragte, der wurde in der Regel mit einem »Ausgebucht« beschieden. Die Nachfrage blieb freilich nahe null, und nicht nur, weil das Boot jeweils an einer Flußstelle ankerte, zu der es keine rechten Zufahrtswege gab. Wenn einmal sich einer bis dahin durchschlug, dann höchstens angezogen von dem Namen des »Hotels«, der weithin durch die Finsternis der Flußauen leuchtete: MORAWISCHE NACHT.
Das Boot war nicht verankert, sondern bloß so an Bäumen oder Strommasten vertäut, und zwar derart, daß die Taue leicht und schnell zu lösen waren – eben zur Flucht, oder auch nur zum Mir-nichts-dir-nichts-Weiterfahren oder Wenden, flußauf oder flußab. (Die Morawa war zu jener Zeit, nach vielen Jahren nicht allein kriegsbedingter Versandung und Verschlammung, dank einer selbst die Grenzen unseres zur Kümmerecke Europas verkrachten Landes überschreitenden und – fast – allesheilenden Wirtschaft, auf große Strecken, bis hin in die Quellgebiete der Südlichen und der Westlichen Morawa in Maßen wieder schiffbar geworden.)
In der Nacht, da wir auf das Boot gerufen wurden, hielt dieses zwischen dem Dorf Porodin und der Stadt Velika Plana. Velika Plana liegt zwar näher am Fluß. Aber der Ruf kam vom Porodiner Ufer, von einer Stelle weitab von der die beiden Orte verbindenden Brücke, und so zickzackten wir, ein jeder für sich, aus dem Dorf, kreuz und quer, jetzt nach links, jetzt nach rechts abbiegend, über die von Feld zu Feld richtungwechselnden Ackerwege. Da wir uns alle gerade in Porodin oder in den Nachbardörfern aufhielten, verstreut in den Gehöften, fanden wir, des früheren Autors Freunde, Gefährten, ferne Nachbarn, Mitspieler – und jeder einzelne, für jeweils eine Etappe, sein Reisebegleiter –, uns bald zu einer Art Kolonne zusammen, in Autos, auf Fahrrädern, auf Traktoren, und der eine und der andere zu Fuß, womit er querfeldein ebenso schnell vorankam wie die Fahrenden auf den holprigen, immer wieder vom Ziel weg in ein Nirgendwo führenden und dort endenden Wegen. Freilich hatten auch die Fußgänger, obwohl es zur Leuchtschrift MORAWISCHE NACHT ein bloßer Katzensprung schien, da und dort vor einem unversehens tiefeingeschnittenen Kanal jäh abzubiegen und in der Folge, vor einer undurchdringlichen Wildhecke, gleich ein zweites Mal.
Warum hatte unser Bootsmann gerade die Gegend von Porodin zu seinem Wohnort gemacht? Wir konnten nur rätseln: Die einen meinten, das komme von der balkanweit verbreiteten Geschichte zwischen den Kriegen – es war da immer, wenn nicht Krieg, so »zwischen den Kriegen« gewesen –, wonach in dem Gemeindegebiet ein Hausierer von einem Einheimischen ermordet wurde, worauf das ganze Dorf dafür an jedem Jahrestag Sühne leistete. Andere glaubten, er sei umgesiedelt eher der Morawa wegen, um auf den Fluß zu schauen, vor allem auf dessen schimmernde Biegungen, die eine flußauf, die nächste gleich flußab. Und wieder andere mutmaßten, es seien vordringlich die vielen Scheidewege und Kreuzungen in dem großen Dorf gewesen, wo er auf der Terrasse einer der balkanischen Eckbars einfach so dasitzen wollte, in der Ferne die himmelan weidenden Schafe und vor sich den erztrüben Wein.
Es war noch lang vor Mitternacht. Wir hatten uns, wie auf Verabredung, besonders früh zu Bett gelegt und, als der Ruf kam, schon fest geschlafen. Trotzdem waren wir dann auf der Stelle hellwach. Kein Moment einer Schlaftrunkenheit oder Taumeligkeit. Geweckt worden waren wir auf verschiedene Weisen, vor allem durch das Mobiltelefon. Aber es gab auch ein oder zwei, bei denen ein Bote an das Hoftor geklopft oder einen Kieselstein gegen das Fenster geworfen hatte – ein einziges kleines Klopfen und ein einzelnes Steinchen genügten. Und einer, aufschließend zu der Kolonne, erzählte dann, er sei auf seinem Bett in Porodin, bei extra weitaufgezogenen Vorhängen, aus dem Schlaf geschreckt worden von einem wie gebieterischen Angeblinktwerden durch die Leuchtschrift fern in den Morawa-Auen, so wie der nächste der Aufschließenden angab, aufgeschreckt zu sein durch ein Signal, das eher von einem Schiff zu kommen schien als von einem Hausboot. Aufgeschreckt? Vielleicht. Aber das war kein gewöhnlicher Schrecken gewesen. Und so oder so war das Wecken ohne Worte vor sich gegangen. Und so oder so: Jeder von uns fühlte sich von dem Rufen hinten am Schopf gepackt, so unsanft wie sanft. Die Telefone hatten nur kurz angeläutet. Und bei dem einen von uns, der, geistesgegenwärtig wie eben allein aus einem gewissen Schlaf heraus, sich schon einen Sekundenbruchteil vorher meldete, kam dann nichts als ein Lachen an, ein sehr kurzes, kaum wahrnehmbares, an der Schwelle zwischen Tiefschlaf und Hellwach, dafür umso klareres, und das hieß, ohne Worte: »Auf!« Melodisch war das Lachen, und es war nicht das Lachen unseres Freundes vom Boot, sondern eindeutig das einer Frau; was den so aus dem Schlaf Gerufenen freilich keineswegs verwunderte. Nichts wunderte ihn in jenem Augenblick und nichts auch dann noch auf dem Weg über die Felder und das Brachland – immer mehr griff, trotz der so fruchtbaren Flußerde und trotz der grenzenlos eingespielten neuen Ökonomie, die Brache um sich – hin zur MORAWISCHEN NACHT. Rein gar nichts wunderte uns alle in dem Moment des Aufwachens lang vor Mitternacht. Und ebenso in der Folgestunde, beim Holpern und Stolpern über Stock und Stein: kein Moment einer Verwunderung. Die Empfindung, die vorherrschte: die einer großen Frische, welche, wie von der Nachtluft draußen, so auch von tief innen her kam; einer umfassenden Frische.
Die Fußgänger waren die ersten beim Boot. Die mit den Fahrzeugen hatten diese, selbst die Räder, lange vor dem Morawa-Ufer stehenlassen müssen; in der zunehmenden Weglosigkeit, bei sich häufenden Wassergräben und dicken Dornenbarrieren, war kein Weiterkommen. Die an die Dunkelheit gewöhnten Wanderer hatten wenig Mühe mit den Durchschlüpfen und Übergängen, während die Fahrleute noch eine Zeitlang nach dem Ausschalten der Scheinwerfer und Erlöschen der Radlampen sich ziemlich nachtblind vorwärtstasteten. Wenn man es so erzählt, scheint es, daß wir viele waren, eine recht große Zahl, eben eine Kolonne. Aber das täuschte: Solchen Anschein gaben wir bloß so nächtlich im Flußland unterwegs. Wir waren dabei nicht mehr als sechs oder sieben, sozusagen entsprechend den bevorstehenden Stunden, Episoden, Kapiteln der Nacht bis zum Morgenwerden. Die Jahreszeit: nicht lang nach Frühlingsanfang. Das Datum: nicht lang vor dem orthodoxen Osterfest, das in jenem Jahr, zum Unterschied zu früheren Regelungen, mit den paneuropaüblichen Ostern zusammengelegt wurde, was in der Folge auch für die weitere Zukunft gelten sollte. Mondstand: Neumond. Wind: leichter Nachtwind, verstärkt in Flußnähe. Wolkenfelder langsam von West nach Ost treibend. Erste Sommersternbilder, die gegen Ende der Nacht dann noch für eine kleine Stunde den Blick auf den Orion und ein paar andere letzte Wintersternbilder ließen.
Entgegen der einen oder anderen Erwartung empfing uns der ehemalige Autor auf seinem Haus- und Fluchtboot allein. Ebenso zeigte er sich, entgegen mancher Erwartung oder Befürchtung, gesund und, wie man früher einmal gesagt hätte, wohlauf; nicht gerade springlebendig, aber doch fest auf seinen beiden Beinen (während er in der Zeit seines Autorentums, eine damals typische Haltung für ihn, ständig von einem Bein auf das andere getreten war, was freilich »nichts hieß, alle Leute daheim im Dorf haben das so gemacht, von den Kindesbeinen an«); und in seinem stillen Dastehen, besonders nach all dem, was dem und jenem Herbeigerufenen von seiner Rundreise, Daura, und etappenweise auch Rundflucht, und etappenweise auch Irrfahrt, und etappenweise auch seiner Todesfahrt, und etappenweise auch seinem Amoklauf durch seine Heimat Europa zu Ohren gekommen war.
So ziemlich der allgemeinen Erwartung dagegen entsprach es, daß der Gastgeber sich so gar nicht über das Eintreffen seiner Gäste zu freuen schien. Kein Sterbenswörtchen einer Begrüßung ließ sich hören von der Silhouette dort oben an der Reling unterhalb der dabei so einladend leuchtenden MORAWISCHEN NACHT. Keine, und wenn auch bloß angedeutete, Handbewegung, die unser inzwischen vollzählig am verstruppten Ufer versammeltes Fähnlein auf das Boot gewinkt hätte. Zwar lag da auf der Kante etwas wie ein Brett, das Boot und Festland irgendwie miteinander verband. Doch das war so schmal und zudem derart steilgestellt, daß wir wie auf einer Hühnerleiter, und auf allen vieren, uns da emporhangeln mußten, einer nach dem anderen, das Brett hin und her rutschend, und wir ständig zurückrutschend; und versteht sich auch, daß er keinem von uns die Hand entgegenstreckte, um ihn etwa an Deck zu hieven oder, bewahre, ihn willkommen zu heißen. Bemerkenswert vielleicht auch, daß er uns anfangs sogar auf dem Boot recht lange alleingelassen hatte und erst später zu uns trat, wer weiß von wo.
Obwohl er uns doch hatte rufen lassen, war es, als ob wir ihn jetzt störten. Unser Kommen schien ihn nicht nur nicht zu freuen. Es war ihm nicht recht. Er war dagegen. Wir waren unerwünscht; Eindringlinge; Flußpiraten. Zwar hatten wir das ja erwartet, waren an anscheinend mangelnde Gastfreundschaft, so rüde im Widerspruch zu den altbewährten Balkansitten, gleichsam gewöhnt. Und doch stieß sie uns in jener Nacht vor den Kopf, zumal er uns – sein erstes Wort dann, nach langem starrem Nicht-Sprechen – anfuhr wegen unsrer »servilen Pünktlichkeit«, unserer »Vorhersehbarkeit«. Und als nächstes schaltete er die Leuchtschrift aus, so daß wir auf dem Boot eine Zeitlang völlig im Dunkel standen. Und ebenso verstummte die balkanische Musik, die zumindest einige von uns, zugegeben, mit an Bord gelockt hatte. Statt dessen nichts als das schädelsprengende Froschkonzert aus den Uferbüschen der Morawa, das nachtlang andauern sollte, und, als einziges anderes Geräusch, das Geheul der Lastwagen auf der Autobahn bei Velika Plana, ebenso unausgesetzt nachtlang: der Güterfernverkehr, nicht bloß in die Türkei und in die Gegenrichtung, sondern überhaupt zwischen den Kontinenten, toste in der Zwischenzeit ja ohne auch nur eine einzige Sekunde einer Ruhepause.
Als wir uns an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckten einige noch etwas Unerwartetes an dem Hausbootsherrn: Er wiegte zu dem Geknarr der Froschmyriaden den Kopf, und das, wenn auch ferne, Tosen und Röhren der Warentransporter begleitete er mit einem Summen, das geradezu auf eine Melodie aus schien. Neu war das, weil wir niemand Geräuschempfindlicheren kannten als ihn da. Hatte nicht zuletzt schon ein jähes Windsausen, ein auch noch so leichtes, genügt, und er war zusammengefahren wie bei einer Feindberührung? Und ob es einzig zum Scherz war, wenn er ständig wiederholte, er habe das Schreiben sein lassen auch aus zunehmendem Widerwillen gegen die Geräusche, gleichwelche? Ein jedes Geräusch habe er mit der Zeit als Krach empfunden, als Lärm, bösartigen. Selbst die Musik? Auch die, gerade die, die von Claudio Monteverdi genauso wie die von Franz Schubert. Und nach dem Windsausen und dem Blätterrauschen, den beiden ihm vorzeiten nicht nur liebsten, sondern ihn auch immer neu »mit einer unbestimmten Liebe« erfüllenden Geräuschen, sei ihm dann ganz zuletzt das dritte, das den zwei anderen, in seinen Ohren jedenfalls, gleichgestimmte Geräusch zuwider geworden, das Rascheln, das so rhythmische wie melodische, seines Bleistifts in der Stille. Konnte seine offenbar veränderte Einstellung zur Geräuschwelt ein Ergebnis seiner Teilnahme an dem Internationalen Kongreß über »Akustik der Stille und Akustik des Schalls« sein, dem, wie einer von uns, sein Begleiter dorthin, wußte, eine der Etappen seiner Rundreise gegolten hatte?
Nur Männer waren wir, die nachts auf das Boot Gerufenen; die er dann, das wiederum erwartungsgemäß, hieß, die Schuhe auszuziehen, wie sonst für das Besteigen einer Ozeanjacht. Aber auch vor einer Frau, gleichwelcher: er hätte mit dem Befehl nicht gezögert. Dabei sprach er mit einer sonderbar leisen Stimme, anders leise als sonst. Zwar waren wir seit langem seine Vertrauten. Und doch begriffen nicht alle von uns sofort, daß er damit auch uns zu einem ebenso gedämpften Reden anstecken wollte. Er mußte es denen ausdrücklich flüstern: »Leise! Leise!« Klar wurde da einem jeden, daß das Vermeidensollen des Brusttons in jener Nacht weder ein Tick des Gastgebers noch Teil irgendwelcher Etikette war, vielmehr aus einer Gefahr kam. Mit einem Schlag wußten wir sämtlich um die Gefahr, wenngleich auch nicht, welche, was für eine im besonderen. Zu spüren war jäh: die Gefahr »Gefahr«. Und nicht, daß wir nun etwa wie er zu flüstern anfingen: wir verstummten. Vollkommen stumm wurden wir, von einer Sekunde zur andern. Und in solcher Stille begriffen wir auch, daß vorhin das Abbrechen der Musik gleich wie das Dunkelfallen der MORAWISCHEN NACHT einen Hintersinn gehabt hatte; beides signalisierte Gefahr. Reglos verharrten wir auf dem Deckstreifen vor der Tür, die in den sogenannten »Empfang« führte, von dem es zur einen Hand in den »Gastraum« oder das »Restaurant« ging, und zur anderen Hand in die Gäste- oder Hotelzimmer, die in Wahrheit, wie ja auch das »Restaurant«, dem Bootsinhaber als Wohn-, Schlaf- und Ausschaustätten dienten.
Was wir dann rochen, war freilich nicht die Gefahr. Es war der Geruch der Morawa, wie sie in den Aprilnächten, bei der Schneeschmelze in den südlichen und westlichen Bergen ihrer Herkunft, so unsere Einbildung, seit Jahrtausenden schon gerochen hatte; dieser Geruch, so zumindest wiederum unsere Einbildung, war immerhin etwas, das all die Zeit gleichgeblieben war hier – höchstens, daß ihm noch ein Anhauch von etwas anderem beigemischt schien: von dem tief unten im Wasser verrottenden Eisen all der flußauf zerstörten Brücken (versteht sich, daß die längst wiederaufgebaut und noch und noch neue, auch für die Schnellgeschwindigkeitszüge, dazugekommen waren)?, von den sich in einem fort blähenden Leibern der Myriaden der Uferschilffrösche? Eher wohl von denen: Hatte nicht jeder von uns auf Dauer jenen Geruch in sich, den auch nur ein einziger Frosch, wenn ich ihn einfing, aus seiner warzigen Haut auf meine Hände absonderte?
Unerwartet – oder auch nicht – jetzt unser Umarmtwerden durch den Bootsherrn. Einer nach dem andern wurden wir umarmt, wortlos, fest, ausdauernd, mit den gegenseitigen Wangenküssen, jeweils den obligaten drei, wie denn anders. Und es wurde uns die Tür zum Gehäuse aufgehalten, wie von einem Portier, und ebenso dann zu dem Salon oder Gastraum, wie von einem Empfangschef. Der Salon war geheizt, von einem zünftigen Kaminfeuer, willkommen in der Aprilflußnacht. Zum Staunen, so ein Feuer auf einem Boot, aber, wie gesagt, wir wunderten uns, nicht nur in jener Nacht, sondern schon seit langem über fast gar nichts mehr, insbesondere nichts, was mit unserem fernen Nachbarn zu tun hatte. Dieses Feuer, einmal lodernd, einmal bloße Glut, stellte für die weiteren Stunden die einzige Beleuchtung dar. Und die genügte, und ließ außerdem, durch die den Salon umlaufende Verglasung, den Blick ins Freie zu, auf die Morawa einerseits, und andererseits auf die Auwälder. Daß vieles in dem Raum so nur zu ahnen blieb, störte wohl niemanden; und auch nicht den Fortgang der Nacht – vielleicht im Gegenteil.
Höchstens zu ahnen zum Beispiel waren Gesicht und Gestalt der Frau, die sich später unversehens zu der Gruppe gesellte. Sie schlüpfte herein von dem unbebauten Deckteil, nachdem die Gäste, von dem Bootsherrn alleingelassen, unschlüssig und, vor allem, unbewirtet im Salon herumgestanden hatten. Die Tische schienen zwar gedeckt, aber, oder täuschte das?, ein jeder nur für eine einzige Person. Gruppe oder Nicht-Gruppe: kein Anzeichen von etwas wie einer Tafel. Ein jeder Tisch für den je einzelnen war außerdem sozusagen über Gebühr entfernt von dem nächsten, und bildete zu diesem und ebenso zu den sämtlichen anderen einen Winkel, der so etwas wie eine Gruppierung von vornherein nicht bloß erschwerte, sondern quasi auch untersagte. Natürlich hätten wir die Tische kurzerhand zu einer Tafel, in gleichweicher Form, als Gerade, als Diagonale, als Bogensehne, als Halbkreis, als L, zusammenschieben können. Doch dazu kannten wir den Gastgeber und seine Manie, bei sich zuhause nicht das kleinste Platzverrücken durch jemand Sonstigen zu dulden, gar zu gut: Hätte einer von uns eine seiner Sachen, sei es ein Buch, oder sei es nur ein Ziegelscherben irgendwo, um weniger als »einen halben Zoll« (in solchen Maßen drückte er sich gern aus) von seinem Platz verschoben oder dem allem einen kleinen Dreh gegeben – durch nichts war im übrigen zu erkennen, daß das »sein Platz« war –, so wäre dem unausweichlich eine Bestrafung gefolgt, in Worten, gegen die ein Auf-die-Finger-Klopfen als eine fast linde Berührung gewirkt hätte.
Die Frau, sie führte die Bootsgäste, einen jeden für sich, an die Einzeltische, wo sie dann, mit dem Rücken zueinander oder wenigstens halb abgekehrt, in dem Muster – am Anfang jedenfalls fühlten sie so eine Befremdung – des Ausgesetzt- und Auseinandergewürfteltseins saßen. Dieses Gefühl wurde freilich bald vergessen in unserem Umsorgtwerden durch die Unbekannte und, während sie zwischen den Tischen im ungewissen Licht ihre Kreise, Spiralen und Ellipsen zog, auf andere Weise und noch ungleich beglückender, in der Ahnung ihrer Schönheit. Längst waren wir alle ja entwöhnt jeden Bedientwerdens, und auch nicht mehr willens, es an uns geschehen zu lassen. Keinen an uns heranlassen, für sich selber sorgen! Doch von einer solchen Schönheit, oder überhaupt von der Schönheit, bedient zu werden, das konnte uns wieder gefallen. Und schön erschien uns an dieser fremden, eher schemenhaften Frau vordringlich deren Hüfte: die immerhin war, zwischen Licht und Halbdunkel, zeitweise klar zu sehen. Eine Kurve, die im Einklang war mit den Bewegungsabläufen ihres Betreuens, nein, ihres Zuvorkommens, ja, ihres Zuvorkommens. Schön erschien uns diese Hüfte? An ihr erschien uns die Schönheit. Die ganze Frau, der ganze Mensch dort konnte nur dem entsprechend schön sein. Und die Schönheit dieser Hüfte strahlte Güte aus. In der Hüftkurve fielen Schönheit und Güte zusammen. Die Hüfte der fremden Frau war, ohne einen Extra-Schwung, der Sitz der Güte.
Frage dann, unausgesprochene, als der Bootsherr, nach seinem, im übrigen uns von den anderen Treffen vertrauten, episodischen Verschwundensein erwartungsgemäß-unerwartet sich wiedereingestellt hatte und der Frau zwischen Küche und Salon und zwischen den Tischen zur Hand ging: Er und eine Frau, wie ging das? Niemand, jedenfalls niemand von uns, seinem Umgang, seit er sich weitab von seinem Land und auch seinem früheren Wohnsitz auf dem Boot an der Morawa niedergelassen hatte, war ihm je in Gesellschaft einer Frau begegnet. Und wenn, dann hatte er sofort zu verstehen gegeben, daß er mit dieser Frau da nichts, aber schon gar nichts zu schaffen habe. Sie war nur zufällig gerade mit ihm, aus technischen, ökonomischen oder sonstwelchen Gründen, ganz unabhängig von ihrem Geschlecht. Peinlich schien es ihm, in Gesellschaft einer Frau angetroffen zu werden, und er führte dann eigens vor, wie fremd, wie gleichgültig ihm diese andere da war. Irgend jemand war das – eben ein anderer. Er rückte übertrieben von ihr ab, und wenn er sie vor uns zwischendurch ansprach, so betont geschäftsmäßig; und betont auch, und in einem fort wiederholt, die Sie-Form. Und wenn wir ihn dann verließen, richtete er es so ein, daß die Frau vor uns wegging, oder zumindest zugleich mit uns.
Die einen von uns meinten, er habe Angst, wir könnten uns etwas denken; wolle überhaupt, abgesehen von seiner Beziehung oder Nicht-Beziehung zu einer Frau, vermeiden, daß zu seiner Person etwas zu denken wäre; vermeiden, daß wer sich ein Bild von ihm machen könne – daß je wieder ein Bild von ihm umliefe. Die anderen meinten, er habe überhaupt Angst vor Frauen. »Eine Heidenangst!« meinte einer, und ein zweiter gar: »Ein Grauen. Es graut ihm von Grund auf vor den Frauen.« Und tat nicht solch eine Angst, oder solch ein Grauen oder Grausen, buchstäblich in manchen seiner Bücher mit, auch wenn seine Autorenzeit nun schon um einiges zurücklag und die Gefühle seiner frühen Jahre doch fast verjährt waren? Und war aber nicht, wie wir anderen es vom Hörensagen wußten, seine Rundreise der vergangenen Monate durch Europa zumindest mitbestimmt gewesen vom Flüchten, und eben tatsächlich und insbesondere von der Flucht vor einer Frau, einer ganz anderen Flucht als jener, die ihn einst zum Schreiben gebracht hatte?
Nicht, daß er mit der Unbekannten jetzt in dem Bootssalon ein Paar abgab. Aber es war etwas Eingespieltes zwischen den beiden, wenigstens solange sie sich um die Gäste kümmerten, ihnen auftischten und einschenkten. Wir waren nicht allein seine, vielmehr ihrer beider Gäste. Die zwei hatten offenbar etwas erlebt, das sie zusammengebracht hatte. Nur was? Klar auch, daß es nicht bloß das Erlebnis eines Augenblicks gewesen war – nichts Kurzes. Und wenn kurz, wenn bloß ein Augenblick, dann in einer anderen Zeitform, wo weder Kürze noch Länge in Kraft waren, und statt dessen etwas Drittes. Als Komplizen wohl zeigten sie sich in jener ersten Stunde der Nacht auf dem Boot, da vor allem gespeist und getrunken wurde, und noch fast nichts geredet, geschweige denn erzählt. Daß die fremde Frau, mitsamt der Geruhsamkeit in ihren Auftritten durch die Küchenschwingtür und in ihren Bewegungen hin und her, kreuz und quer zwischen den durcheinanderstehenden Einzeltischen, etwas Tänzerisches hatte: nichts Selbstverständlicheres. Aber daß auch der Mann, ob vor, neben oder hinter ihr, dabei mittat, dazugehörte, so etwas wie ihr Tanzpartner war – und nicht nur so wirkte –, und gerade dieser Mann: das war dann doch zum Verwundern. Zwar waren sie grundverschieden gekleidet, er (wenn das Wort überhaupt noch etwas bezeichnete) eher »westlich«, und sie, schwach zu erahnen, eher »balkanisch«. Und trotzdem sah man einen jeden in einem auf den andern abgestimmten Kostüm. Eine Frau und er sich selbstverständlich ergänzend: das hätte ihm niemand von uns zugetraut. Und noch weniger, er könnte, wie es nun den Anschein hatte, einer Frau eine Heimstatt geben. Und der eine oder andere zweifelte weiter, nachtlang.
Und was gab es zu essen? Da es für ein Osterlamm noch zu früh war: Was sonst als Waller und Hechte aus der Morawa, dazu Salate hauptsächlich aus Kraut, dem Kupus, vermischt mit Kümmel, und die Kartoffeln gebacken in der Holzglut des Kamins, und vorher die Sülze, Piktija,, vom Fisch und auch von Wildhasen, dazu das Fladenbrot, frisch gebacken, und danach den Schafskäse von den auf den Hügeln hinter Porodin himmelan weidenden Schafen, beträufelt mit dem montenegrinischen Olivenöl, das, dank Europa, seinen früheren Geschmack nach ranzigem Motorenöl ganz losgeworden und, so das Etikett auf der Flasche, als »toscanissimo« einzustufen war. Und zu trinken gab es die Weine der südlichen Morawa-Ebenen, die von Kruševac, Aleksinac und vor allem Varvarin, inzwischen längst in burgundischem, niederösterreichischem und kalifornischem Besitz, die aber gleichwohl ihre alten Namen hatten beibehalten dürfen: »Smaragd«, »Rubin«, »Onyx«, »Auspuff«, »Markthalle«, »Melancholija«, »Brückenmost«, selbst der noch weiter südlich, fern der Morawa, im früheren Kosovo Polje angebaute, allgemein als »bordeauxreif« etikettierte Wein hieß immer noch »Amselfeld«. Nur den »Rakija«, den einst einheimischsten der Schnäpse, gab es nicht mehr, jedenfalls nicht als Namen: Doch Schnäpse sollten in jener Nacht ja auch keinesfalls getrunken werden.
In einem gewissen Augenblick hatte sich der Einlader dann zu uns anderen gesellt und, auch er an einem Tisch für sich allein, mit uns genachtmahlt. Die fremde, vertraute Schönheit dagegen blieb, Überbleibsel der sonst fast verschwundenen balkanischen Sitten, in der halbdunklen Bordküche, außer später für das stumme Abräumen. Durch das Bullauge in der Küchentür ließ sie sich für den, der sich von seinem Platz erhob, erahnen, wie sie, alle Arbeiten getan, gleichermaßen stumm dort hinten in der Nische neben dem Herd saß, auf einem Hocker ohne Lehne, reglos, wenn auch ganz und gar nicht starr; still die Hände im Schoß. Unser Bootsherr aber war bald nach dem Ende der Mahlzeit aufgestanden und hatte begonnen, in dem Salon auf und ab zu gehen. In dem Durcheinander der Tische war ein Geradeaus kaum möglich, und so bewegte er sich in Schlangenlinien, zuerst ungleichmäßigen, später gleichmäßigen, zuletzt einer immergleichen, hin und zurück, hin und zurück. Es war, als wolle er mit seinem Auf und Ab nie mehr aufhören. Außerdem hatte er vorher sämtliche Türen und Fenster des Salons geöffnet, und mit der Zeit wurde uns anderen gehörig kalt.
Auch als er die Räumlichkeit endlich nach seinem Gutdünken gelüftet hatte, setzte er sein Gehen zunächst fort – bloß daß er jetzt rückwärts ging, rückwärts flußauf, rückwärts flußab. Schon schien er sich zuguterletzt niederlassen zu wollen – nur hatte sich ihm ein Schuhband gelöst, und nachdem er es verknotet hatte, machte er sich erneut für eine Zeitlang auf den Weg, rückwärts auf und ab, so als habe das, unbedingt, zu geschehen. Und ein zweites Mal saß er bereits – als ein Holzscheit in dem Kamin, nein, nicht etwa explodierte, sondern, wohl noch nicht ganz durchgetrocknet, zu sirren und zu sieden anhob, Geräusche, die an ein Winseln oder Wimmern erinnerten. Und beim dritten Mal saß er nicht nur, sondern setzte sich schon aufrecht, wendete derart den Kopf zu den nächtlichen Horizonten und zugleich zu der Runde, schöpfte tief Luft – als an einem von uns, nein, nicht etwa das Mobiltelefon losschrillte, ja, nicht einmal der Magen knurrte (wie denn auch nach solch einem Nachtmahl), sondern bloß so ein Atmen vernehmbar wurde, ein sehr, sehr leises, ein sich auf das reine Lauschen einrichtendes (mag sein, daß gerade das zum Hindernis wurde?) – und wiederum: siehe oben. Offenbar war also der Hausherr, mochte er das Schreiben auch für immer sein gelassen haben, von seiner Geräuschkrankheit doch nicht geheilt? Diese hatte sich inzwischen sogar noch verschlimmert und hinderte ihn, wie früher am Bücherschreiben, jetzt am Reden? Der geringste, der harmloseste Laut konnte in seinen Ohren als Störgeräusch ankommen, ihm den Mund verschließen, ihm die Kehle zudrücken, ihm den Rede-Atem verschlagen? Und selbst ein Geräusch, aus dem jeder sonst etwas Offenes, Freundliches, dem Sprecher rückhaltlos Gewogenes herausgehört hätte, einen Ton, den Ton der selbstlosen Erwartung, ja, einen Einklang von vorneherein, kappte ihm auf der Stelle die Atemwege, materialisierte sich als ein Fremdkörper in seiner Luftröhre? Dabei hatte er ziemlich robuste Ohren, mit einer vielfach gewundenen, nach innen gleichsam in konzentrischen Schutzwällen verstärkten Muschel, wie geschaffen zum Lauschen – richtige Lauscher.
Was den Ex-Autor schließlich dann gleichwohl zum Sitzenbleiben, zum Reden, zum Erzählen brachte, das war in jener Nachtstunde auf der Morawa die Gefahr. Bevor diese eingriff, hätte er, scheint mir, selbst aus unserem Atemanhalten ein Störgeräusch herausgehört. Gefahr? Die könnte er sich auch bloß eingebildet haben, oder hat er vielleicht Zeichen gesehen, die gar keine waren. Zeichen? Von der Transbalkanautobahn schwenkte unversehens ein Scheinwerfer durch die jenseitigen Auen her über den Fluß, mit einem Licht, so stark, daß es kaum von den Lasttransportern stammen konnte – die im übrigen (die Autobahn beschrieb dort keine Kurve) alle doch geradeaus fahren mußten? Und hier an unserem Ufer, in dem Moment dieses Lichts, zwischen den diesseitigen Aubäumen und -sträuchern, die Gestalt, eine weibliche, die auf das Boot zu zielen schien wie mit einer Waffe, bei leeren Händen, mit einem Mienenspiel, welches Schußgeräusche, mehrere hintereinander, unhörbare, vermittelte? Eingebildete Gefahr? Zeichen, die keine waren? Wie auch immer: Das, scheint mir, schubste den ehemaligen Autor endlich hin zum Reden; das machte ihn gesprächig; oder ließ das Erzählen sprechen. War das in den Feldern tatsächlich ein Rehbock, der wie wutentbrannt und zugleich so jämmerlich in die Nacht brüllte? Die Eule, die jetzt rief, war das eine wirkliche Eule? (Seltsame Zeit, da man meinte, so vielen Wörtern ein »wirklich« und »tatsächlich« zugesellen zu sollen.) Er überhörte eins wie das andere, und desgleichen auch den Knall, mit dem nebenan in der Küche dann etwas zu Boden fiel, das Quietschen, als einer von uns seinen Stuhl verrückte, das Gehuste des einen und anderen Zuhörers, ein Husten, wie es nur von den balkanesischen Tabakblättern, auch wenn die längst eingerollt waren in alle die Weltmarken, ausgelöst werden konnte.
Dabei war gar nicht er es, der mit der Erzählung, der nachtlangen, immer wieder unterbrochenen, dann auch an einer anderen Flußstelle fortgesetzten und im Tagwerden auf einem anderen Fluß – nicht mehr der Morawa – beendeten, von seiner sogenannten Rundreise begann. Die ersten Sätze kamen, auf Aufforderung des Bootsherrn, von demjenigen unter uns, der seinerzeit zusammen mit ihm aufgebrochen war. »Sag du. Fang du an.« Der Anfang gemacht, fiel der Ex-Autor mit ein. Einige Sätze lang redeten die zwei unisono, beinah jedenfalls. Wenn sich ein Widerspruch zeigte, so kaum im Erzählten, etwas häufiger bei diesem und jenem Wort. Solche spärlichen Widersprüche jedoch, bei denen es sich in der Regel um ganz Nebensächliches, um Kleinigkeiten, um nichts und wieder nichts drehte, wurden, das muß gesagt werden, ausgefochten mit einer wie trotzigen Grundsätzlichkeit; was die Erzähl-Dinge betraf, von beiden Seiten; was die einzelnen Wörter betraf, von dem Gastgeber, der sich in der Hinsicht wohl weiterhin, trotz Verlassen seines Berufs, für eine von niemand aus unserem Kreis zu bezweifelnde Autorität hielt.
Schon während der Vorredner seine einleitenden Sätze sprach, schien er dann und wann etwas zu notieren, offensichtlich jeweils nur ein einziges Wort. Erstmals seit langem sahen wir anderen ihn so, unvorsätzlich, einen Stift hervorziehen und etwas niederschreiben. Fast geschah das gegen seinen Willen, denn er steckte das Schreibzeug ein jedesmal sofort wieder weg. Ja, war es ihm sogar peinlich, so gesehen zu werden?
So ging das mit dem Erzählen von den Etappen oder Stationen seiner Rundreise die ganze Nacht: Seine jeweiligen Begleiter bekamen von ihm das Zeichen, anzufangen, und er? übernahm, sowie sie ihm den Einsatz gegeben hatten. Zwischendurch, für ein, zwei Passagen, vor allem solche, wo er selber tätig geworden war, hieß er sie dann weitererzählen, so daß die zwei verschiedenen Stimmen, hätte man sie vielleicht aus der Ferne vernommen, für diese Momente und Übergänge etwas von einem Zwiegespräch, einem Dialog vermittelten, einem harmonischen, wie er wohl gerade zu so einer Flußnacht paßte – der aber, siehe die Wortklaubereien des Hauptredners, umspringen konnte in etwas Ungestümes, fast Schrilles, wie Wutentbranntes: Schrie dort draußen auf dem Schiff jemand Zeter und Mordio? Würden dort gleich die ersten Schüsse fallen? Wie konnten all die stillen Töne nur so stracks weggewischt werden von einem derartigen Gebelfer? (Das dann freilich jeweils von so kurzer Dauer war, daß man aus der Distanz vielleicht meinte, sich verhört zu haben – hatte dort drüben bloß ein Schiffspapagei losgegellt?) Und was hätte man vielleicht noch aus der Ferne vernommen? Von den Uferbäumen im Wind nachtlang die Selbstlaute, und vom Erzähler auf dem Boot die Mitlaute, wie eine Antwort, wie eine Ergänzung. Selbstlaute der Bäume? Im Grunde immer wieder nur ein a: a – a – a …
Manche Etappen oder Kapitel der Rundreise erzählte der Bootsherr ohne eine Zweitstimme. Es handelte sich dabei um die Strecken quer durch Europa, wo er sich allein gefunden hatte, was der Fall war besonders bei den letzten, vor unserer Zusammenkunft nahe Porodin, dem Ausgangs- wie dem Endpunkt (Punkt?) der Reise. Keinerlei jähes Lautwerden unterbrach da mehr den Erzählgang. Nicht nur stiller und stiller hörte sich die Stimme des Alleinsprechers an, sondern gleichmäßiger, ja, dann geradezu vollkommen gleichmäßig. Zittrig war sie dabei. Gab es denn das, still und zittrig in einem? Ja, das gab es, einen stillen zittrigen gleichmäßigen Erzählfluß, fern von einem Brustton, und doch nah? Und diese Zittrigkeit, rührte sie von dem, was ihm allein-unterwegs zugestoßen war, oder von den wechselnden gegenwärtigen, wirklichen oder vermeintlichen Bedrohungen? Oder von beidem? Vorrangig allerdings schien uns Zuhörern die jetzige Gefährdung: Würde er aus dem Gleichmaß geraten, wäre es um ihn und wäre es um uns andere geschehen, wie bei einer Kolonne, die auf einer Schnee-Eis-Brücke eine Gletscherspalte zu überqueren versucht und wo der Vordermann, auch nur für eine Sekunde, das Gewicht anders verlagert. Und im Lauf jener Nacht steckte er uns mit seiner Zittrigkeit an: dem zittrig-stillen Erzähler entsprachen wir zittrig-stillen Zuhörer. Und im ersten Tagwerden, als die Farben auf dem inzwischen fahrenden Boot anfingen hervorzutreten, fühlten wir uns schließlich dann auch mitverantwortlich für ein etwaiges Bedrohtsein, sahen dieses, beinahe, gerechtfertigt: Denn war die Tatsache, daß der Eigner seine »Morawische Nacht« nicht bloß mit der übergroßen Flagge eines längst versunkenen oder abgestunkenen Landes ausstaffiert, sondern darüber hinaus das ganze Boot, von unten bis oben zum Rauchfang, in der Horizontalen mit den ominösen Farben bemalt hatte, etwas anderes als eine, zu dem bestimmten Zeitpunkt jedenfalls, gefährliche Provokation? Als »Enklave« wollte er sein Bootshaus sehen, als autoproklamierte Exterritorialität? Wollte er nicht wahrhaben, daß es zu jener Zeit längst keine Enklaven mehr geben durfte? Daß etwas Derartiges, und mit ihm jedes »Enklavendenken«, »verpönt« war?
Noch und noch Hindernisse forderte er für sein Unternehmen heraus, oder, was auf das Gleiche hinauslief, er bildete sich diese ein. Ohne die Hindernisse oder Probleme hätte jene Erzählnacht keinen Sinn bekommen. Von dem, dessen er sich dann allmählich – nicht sofort – bewußt und gewiß wurde, war unter keinen Umständen, und sei es noch so widrigen, mehr zu lassen. Er hatte mit seinem Umkreisen durchzukommen (was nicht hieß, daß sich die Kreise, oder auch ein einziger Kreis, schließen mußten). Es ging mit den Stunden, mit der Zeit, um etwas, beim Himmel, bei – wer weiß was. Immer entschlossener zeigte er sich, immer herausfordernder, immer unbeirrbarer, immer ausschließlicher; mehr und mehr nah an einer Art von Fanatismus. Es war dann, als könne nichts, aber auch gar nichts die Unternehmung abbrechen. Blitz und Donner hätten sie eher noch mit einer zusätzlichen Konzentration versorgt, und ebenso ein Fieberanfall, eine Verletzung, ein Schlag auf den Kopf, ein unter den Füßen weggezogener Boden. Tatsache, so oder so: daß dieses nachtlange Reden zuletzt auf eine Weise nachhaltig wirkte, daß nicht nur er, der es unternahm, sondern auch wir, seine Zuhörer, uns dabei näher an einem Handeln spürten denn je zuvor.
Es gab freilich etwas, das ihn, von einer Sekunde zur nächsten, zum Abbruch des nachtlangen Sprechens gebracht hätte. Er brauchte sich dazu nicht zu erklären. Es war uns anderen auch so klar. Eines war es, ein einziges, das ihn auf der Stelle seine so weltbewegend erlebte Expedition hätte vergessen lassen. Und das ging uns, einem jeden an seinem Tisch, auf, als später in der Nacht einmal die fremde Frau sich im Türfenster der Bootsküche zeigte. Die Erzählung handelte da gerade auch von ihr, und sie war aus ihrem Küchenwinkel gekommen, wohl zum Zuhören. Und was ging uns auf? Daß er um dieses Menschen dort willen nicht bloß die eine Expedition jetzt, sondern auch jedes sonstige vermeintliche oder wirkliche Himmelsstürmen augenblicklich fahren ließe, sowie dieser Mensch in Not wäre, in äußerster; wenn er Rettung bräuchte. Dieser eine zu rettende Mensch dort: das hatte Vorrang vor der Expedition. Wobei wir zu jenem Zeitpunkt noch nicht wußten, höchstens erahnten, daß umgekehrt die junge Frau es war, die den Mann gerettet hatte, und nicht bloß »gleichsam«, und nicht bloß »sozusagen«.
Auch wenn der ehemalige Autor es nicht deutlich zu verstehen gab: die Reise hatte als Flucht begonnen; zuallererst, und auch danach noch, da zwar weniger eindeutig, war sie eine Fluchtbewegung. Und diese Flucht – wie vermied er dabei doch dieses Wort! – war die vor einer Frau. Jene Frau, er kannte sie seinerzeit noch nicht in Person; wußte nicht einmal, wie sie aussah; wollte es auch gar nicht wissen. Was er wußte: daß die Frau seine Feindin war, seine Todfeindin. Das ließ umgekehrt sie ihn wissen, und davor gab es kein Taub- und kein Blindstellen. Hatte es zunächst noch vielleicht den Anschein gehabt, solche Feindschaft gelte dem Autor, seiner Autorschaft, wie auch immer, so wurde dann spürbar, daß die Frau, die Unbekannte, nicht bloß seine Art und Weise haßte, sondern darüber hinaus die Tatsache seines Existierens, seine Existenz. Nachdem er mit dem Schreiben aufgehört hatte, sprachen zunächst zwar ihre Briefe – die eingangs die einer, gleich schon, entschlossen feindseligen Leserin gewesen waren – von ihrer Genugtuung, sie habe mit dazu beigetragen, »Dich endlich zum Schweigen zu bringen«. Doch hörten in der Folge diese Briefe keineswegs auf, häuften sich sogar, täglich einer, täglich dann einige. Und wie das in einem solchen Fall die Regel zu sein schien: Auch nach dem Umzug des Ex-Autors in das andere, ganz andere Land, auf das Boot hier an den Ufern der Morawa, fand sie die Adresse bald, sehr bald, heraus, und … Vor gewissen Menschen schien kein Entkommen möglich. Sie hatten einen sechsten, nein, siebten oder neunten Sinn dafür, den aufzuspüren, auf den sie es abgesehen hatten. Und zeitlebens würde sie nicht von ihm ablassen – zeit ihres Lebens. Nicht ruhen würde sie und keine Ruhe geben, ehe er sich ihr nicht zum Kampf stellte, den er, auch würde er ihn gewinnen, nur verlieren konnte.
Wir anderen fragten uns, wie solch ein Haß zu erklären sei. Auch er hatte keine Erklärung. Aber er wollte auch keine. Er brauchte keine; die Frage stellte sich ihm kein einziges Mal. Es war ihm schon in der Kindheit klar geworden, daß er Haß auf sich zog, grundlosen. Und er war seit jeher damit einverstanden gewesen. Es mußte so sein. Je grundloser, desto selbstverständlicher – was nicht hieß, daß er den Haß wehrlos über sich ergehen ließ. Sein ganzes bisheriges Leben, ob als der und der oder irgendwer, war, einmal mehr, einmal weniger, begleitet worden von unerklärlichen Hassern. Männern genauso wie Frauen, die eines Tages entweder, so oder so, verschwanden, oder ihre Energie verloren, oder, auch das kam vor, sogar Abbitte leisteten.
Er war die Hasser gewohnt. Die letzte in deren Reihe dagegen wunderte mit der Zeit selbst ihn. Eine derartige Ausdauer und dazu, von Mal zu Mal, Steigerung in den Haßaktionen wie bei der fraglichen Frau war ihm noch nicht untergekommen. Das begann ihn dann doch zu treffen, oder ihm zuzusetzen, zumal in den letzten Jahren sämtliche sonstigen Feinde still geworden waren, sei es, weil er so weit weg von ihnen lebte, sei es, daß sie ihn vergessen hatten, oder warum auch immer. Zuzusetzen? Ja, indem die Frau sich in seine Träume einmischte und dort zur Hauptperson wurde.
Und das schaffte sie dadurch, daß sie von den Briefen überwechselte zu den Zeichen. Ein anderer Autor, ah, lang war das her, hatte ihm einmal erzählt, die liebsten Leserbriefe seien für ihn die bloßen Zeichen. Oder nein, seine bevorzugten Besucher seien jene, die nichts als Zeichen hinterließen, im gehörigen Abstand zu seinem Haus: eine Vogelfeder an der Hecke des Wegs, der bei ihm vorbeiführte; ein von dem Leser unterwegs geschnitzter Hasel- oder Weißdornstock, der ebendort lehnte; eine Flasche Wein; ein Sack mit Nüssen. Doch die Zeichen der fraglichen Frau waren ganz und gar keine lieben. An sich, bei Tageslicht betrachtet, waren es vielleicht Kleinigkeiten, ein totes Igeljunge an der Schwelle zur Gangway, ein Vogeljunges gespießt auf einen Akaziendorn, eine Schlange im Einweckglas zwischen den Essiggurken, eins seiner Bücher – nach eigenem Befinden ohnehin ein danebengeratenes – in Jauche getaucht und die Seiten von Mist verklebt, oder bloß ein paar geköpfte Flußuferblumen, auch nur eine einzige, kleinwinzige. Allerdings wuchsen diese Kleinigkeiten im Traum, mit der Unbekannten als dessen Beherrscherin, sich zu etwas ganz anderem aus.
Woher wußte er überhaupt, daß es sich um eine Frau handelte, war doch keiner der Briefe, geschrieben in einer klaren, entschiedenen Schrift, je unterzeichnet gewesen? Er wußte es, ebenso wie jener andere Autor, ob Sack mit Nüssen oder Vogelfeder, sofort wußte, welches Geschenk von einem Leser, welches von einer Leserin stammte. Und hatte er auch eine Vorstellung von ihrem Aussehen? (Ein vorlauter Dazwischenrufer.) »In einem Traum ist mir ihr Gesicht ganz deutlich geworden.« – »Und wie war es?« – »Ganz und gar nicht so häßlich wie die Frau, die Leserin, in der Geschichte von Stephen King, glaube ich, die den Autor, der ihr zufällig in die Hände fällt, zur Geisel nimmt und zuletzt umbringen will. Irgendwie schön. Eigentlich schön. Direkt schön.«
Flucht? Hm. Es war wohl doch übertrieben, seinen Aufbruch zu der Rundreise als »Flucht« zu bezeichnen. Er hatte, eines Tages oder eines Nachts, von all den bösen oder miesen Zeichen vor, hinter, neben, an, auf, unter seinem Morawa-Hausboot schlicht genug. Er wollte atmen. Im übrigen war die Reise schon lange geplant, und so ein Umzingeltsein hatte vielleicht für den entscheidenden Anstoß gesorgt. Wenn also nicht Flucht, dann zumindest ein Kleinbeigeben, das, so schmeichelte ihm einer von uns, »gar nicht zu dir paßt«? Nein. Er wollte sich ihr ja stellen oder war heiß darauf, die ganze Zeit schon, umgekehrt sie zu stellen – nur zeigte sich die Person nicht, ließ sich nicht und nicht blicken. Und er spielte mit dem Gedanken, gerade auf der Reise würden sie endlich aufeinandertreffen. Und womit ging er so in Gedanken um? Sie zu töten. Er würde diese Frau töten. Wirklich? Ja, wirklich. Unbedingt. Und warum? Allein deswegen, weil sie ihn durch die Jahre behelligt und verfolgt hatte? Nein. Warum also? Weil – weil sie in einem ihrer Briefe, nein, nicht nur in einem, in allen, seine Mutter beleidigt hatte. Nein, nicht nur beleidigt, sondern in Frage gestellt, nein, bezweifelt, nein, beschmutzt hatte – und dieses Beschmutzen in ihren Zeichen dann noch gesteigert hatte. Er würde die Frau auf seiner Reise stellen und sie töten. Nein, nicht mit eigenen Händen, sondern mit Hilfe eines Killers, einer Killerin, auf Bezahlung. Er, er würde diese Frau nicht anrühren. Zur Hölle mit ihr.
Einige wenige Stationen waren für die Rundreise im voraus eingeplant. Abgesehen von seiner – eher ungewissen – Teilnahme an dem erwähnten Kongreß oder Symposium, oder was auch, zum Thema »Lärm–Ton–Klang–Stille« (oder so ähnlich) in einem verlassenen Dorf der spanischen Meseta, unweit der von den Römern, lange vor Christus, zerstörten Ureinwohnersiedlung Numancia, war es noch gedacht, daß er bei seinem lange schon kranken Bruder in Kärnten vorbeischaute; daß er in dem einen und dem anderen Nachbardorf ebenso vorbeischaute bei seinen früheren Kollegen Gregor Keuschnig und Filip Kobal, die, im Gegensatz zu ihm, dem Schreiben wie der Autorschaft noch immer nicht abgeschworen hatten; daß er den Herkunftsort seines längst verstorbenen, nie gekannten Vaters im Südharz umzirkelte; daß er jene Adria-Insel durchstreifte, auf der er, als sehr Junger, sein erstes Buch, fast immer im Freien, in der prallen Sonne, geschrieben hatte. Doch die eine oder andere Station, die eine oder andere Richtung sollte auch dem Zufall, dem, was sich unterwegs ergab und ihn vielleicht forderte, überlassen werden. Es würde kommen, wie es kommen würde. Es kam, wie es kam. »Wie es der Zufall wollte«, so wie man nicht nur bei ihm daheim sagte.
Dabei hatte er vor, bald wieder zurück auf und in seiner MORAWISCHEN NACHT zu sein. Aber »bald«, was hieß das? Für die einen von uns hatte dann seine Abwesenheit beunruhigend lange gedauert. Für andere dagegen war zwischen seinem Aufbruch und seiner Rückkehr kaum ein Monat, ja nicht viel mehr als eine Woche vergangen. Mir zum Beispiel schien sogar, als habe beides, Abfahrt wie Wiederkehr, gestern stattgefunden. Mir andererseits kam vor, der Ex-Autor habe mich den ganzen Winter alleingelassen, und mir, dem Dritten: ein ganzes liebes Jahr. Und auch »gestern«, »Winter«, »Jahr«, »lange Zeit«, »kurze Zeit«, was hieß das? Dem Bootsmann oder Rundgereisten selber war es in jener Nacht, da er von seinem Fortgehen erzählte oder erzählen ließ, als sei er »gerade noch« mit seinem kleinen Koffer, nach dem eher nachlässigen Absperren des Bootshauses, auf der Gangway, auch diese dann »abgesperrt«, ans Morawa-Ufer balanciert, ja, als balanciere er da, jetzt, im Augenblick, weiter und weiter; als sei ihm »gerade noch« im Zug über den Semmering zufällig das Fastkind begegnet, das dort ein altes Buch las und ihn, obwohl er doch längst von niemandem mehr zu »erkennen« war, im Aufschauen von dem Buch sofort erkannte, und wie; als sei »gerade noch«, dort am Atlantik in den Armen einer Frau liegend, ihm in einer Schrecksekunde, ja, Schreck und Sekunde, klargeworden, wer seine unbekannte Feindin war, und was für ein Gesicht sie hatte.
»In keiner Zeit« war er demnach an seinen Ausgangsort zurückgekehrt? »In keiner Zeit« von A nach B, von B nach C, undsoweiter gefahren, gegangen, gestolpert, geirrt? »In keiner Zeit« überhaupt unterwegs gewesen? Welche Zeit, welche Zeitform, welche Zeitart galt nach alldem für die Rundreise des Ex-Autors? Erst einmal: Keine »runde« Zeit, so wie die Reise selber in Wahrheit keine Reise war, und schon gar nicht »rund«. Was galt, das waren alle Zeiten miteinander, durcheinander, gegeneinander – parallele, gegenläufige, einander zuwiderlaufende, durchkreuzende. Und vordringlich, hauptsächlich, sämtliche Zeiten, Zeitformen und Zeitarten verbindend, vereinend und vergessen lassend, galten da und dort die Sekunden, und nicht allein die im Schreck, nicht allein die Schreck- und Schreckenssekunden. Sekunde und Schreck. Sekunde und Weh. Sekunde und Trauer. Sekunde und Freude. Sekunde und Grauen. Sekunde und Liebe. Sekunde und Geduld. Sekunde und Seinlassen. Sekunde und Erbarmen. Sekunde und Beherztheit. Sekunde und Einatmen. Sekunde und Ausatmen. Die Sekunden, sie waren, im Rückgriff auf das Unterwegsgewesensein ebenso wie im Erzählen davon, das entsprechende, das lebendige, das natürliche Zeitmaß. (Etwas anderes hätte gegolten bei einem Aufzählen und einem Berichtabstatten.) Nicht die Minuten, nicht die Stunden, und auch nicht, die schon gar nicht, die Zehntel- und Hundertstelsekunden: Einzig meine, deine, seine, unsere, eure, ihre Sekunden, die zitternden, knisternden, beängstigenden, beruhigenden Sekunden. Die Sekunden, die sowohl das Zweite, das Folgende bedeuteten als auch das Primäre, das Vorausgegangene; die das Vorausgegangene und das Folgende in sich vereinten. Gelobt und gefürchtet sei die Sekunde.
Die erste Sekunde, sie ließ auf seiner Reise nicht schlecht auf sich warten. Lange blieb eine Stunde wie jede andere, war es ebenso ein Tag wie jeder andere, verging ein Augenblick wie jeder andere. Und das war ihm eine schöne Zeitlang auch recht so: Wenn schon keine Sekunden ihn durchzitterten und durchzuckten, so handelte es sich immerhin um Augenblicke, Augenblick um Augenblick im Gleichmaß, wie es eine Regel schien für den Anfang des Unterwegsseins. Die eine Tasse, die er eigens unabgewaschen auf dem Bootsküchentisch stehenließ. Die eine Landkarte, die er dann aus dem Gepäck wieder aussortierte, im Gedanken, er würde versuchen, sich in der betreffenden Gegend einfach so, ohne Anhaltspunkte, zurechtzufinden. Ebenso dann das eine Paar Schuhe, und das eine Buch (von zweien). Dann das Anblasen, wie an einem jeden sonstigen Morgen, der Bootsglocke, der übergroßen, mit dem dicken schweren Klöppel, in Wahrheit eine Glocke aus einer der Kirchen weiter im Süden, wo sie nicht mehr gebraucht wurde: alltäglicher Versuch, mit dem bloßen Atem den Klöppel zum Schwingen und die Glocke zum Klingen, einem auch noch so leisen, zu bringen – gelänge das, so hätte das etwas zu bedeuten, etwas in seiner Vorstellung Wichtiges, ja Weltbewegendes – und wieder nichts, sein Morgen- und Aufbruchsatem zu schwach – gerade daß von der Halterung des Klöppels, wie auch sonst bisher am Morgen, ein wohl nur seinem speziellen Gehör vernehmbares kleines Schwirren kam. Und dann noch, vom Morawa-Ufer aus, der Blick über die Schulter auf das ganze Boot, das im Lauf nun schon eines Jahrzehnts seine Domovina, seine kleine Heimat geworden war, mit dem Gedanken – oder war es eine Ahnung? nein, Ahnungen galten ihm weder für die Zukunft noch für die Vergangenheit, sondern einzig für jetzt, für den Augenblick, für die Gegenwart –, mit dem Gedanken also, er werde von dieser Reise nie mehr auf dieses Boot da zurückkehren. War das denn nicht so eine besagte Sekunde, eine zitternde? Und wieder nein: Der Gedanke durchfuhr ihn nicht, machte ihn weder traurig noch tat er ihm weh. Solche Gedanken kamen ihm in der Zwischenzeit tagtäglich, auch wenn er bloß für einen Halbtag seine Einkäufe in Porodin machte, auch wenn er bloß für eine Stunde zum Brennholzsammeln oder wozu immer in den Auwäldern, in der Luka, verschwand; kamen ihm da gleichermaßen wie dann vor dem großen Aufbruch. Blauweißrot leuchtete in seinem Rücken seine Behausung, es schimmerten von Ufer zu Ufer die in der Strömung immerzu hervorpulsenden Schlieren der Morawa, und das konnte wieder einmal sein letzter Blick darauf sein, und – ? Recht so. Meinetwegen.
Ich war derjenige von seinen Freunden, der als einziger nicht weiter flußauf oder flußab, sondern gleich drüben in Porodin lebte. Mein Hof, eher der meines verstorbenen Vaters, stand da, wenn auch inzwischen kaum mehr bewirtschaftet, und ebenso lag da, außerhalb des Dorfs, mein, beziehungsweise meines Vaters Weinberg, den ich gern bewirtschaftet hätte, wäre er, wären überhaupt alle Liegenschaften jenseits der eng und enger gezogenen Dorfgrenzen nicht seit, na, ihr wißt schon, seit wann, für uns Leute von Porodin nur unter Lebensgefahr zu bearbeiten gewesen. Einzig eine Art Korridor zur Morawa stand uns noch offen. Dort holte ich ihn an dem Aufbruchsmorgen ab, mit dem Traktor, der so einmal etwas zu tun bekam. Der vom Boot, jedenfalls sagte er so, war früher viel Auto gefahren, aber seit seinem Unfall in Alaska, von dem wir ihn bei fast jeder Zusammenkunft mit den immer gleichen Ausdrücken erzählen hörten, nicht mehr. In Hut und langem Mantel, den Koffer auf den Knien, hatte er auf dem Traktor etwas von einem Ausgesiedelten oder Evakuierten, wozu auch paßte, daß er mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß, die Flußlandschaft im Blick. Blickte er? Eher nein.
Ich hatte ihm vorgeschlagen, ihn – der Traktor schien ihn nicht zu stören – nach Velika Plana, jenseits der Morawa, zu bringen, Straßensperren hin, Checkpoints her, und meinetwegen noch weiter, und warum nicht bis Belgrad? Aber er wollte in Porodin den Bus nehmen, den einzigen täglich, den einzigen auch, der aus der Enklave woandershin führte. Den Busbahnhof von früher gab es bei uns nicht mehr, auch keinen Stop oder Halt – wie denn auch, da der Bus ja von nirgendsher ankam, und jeweils bloß so dastand, über Nacht, nachdem er am Vorabend »von draußen« zurückgekehrt war? Sein Standplatz: nicht etwa die Dorfmitte, wo auch immer die hingeraten sein mochte, auch nicht vor der Kirche (die wenigstens war uns belassen worden, mit fast nicht zu erzählenden Zusätzen freilich – davon vielleicht später), sondern in einem Hinterhof, in von Mal zu Mal wechselnden Hinterhöfen. »Städte mit Hinterhöfen«, sagt ihr: »Ja. Eine Dorfgegend mit Hinterhöfen aber, wo gab es denn die?« Es gab sie, dort drüben in dem walachischen Dorf Porodin, wo sich hinter den einstigen Bauernhäusern ein Hof an den anderen reihte, und ein Hinterhof weiter in die Felder vorstoßend als der andere, manche lang wie Güterzüge und breit wie eine Autobahn, teilweise begrünt und durchzogen von Blumenbeeten, zuletzt übergehend in Obstgärten, zu beiden Seiten bestückt mit Kuh-, Schaf-, Hühnerställen, Scheunen, Geräte- und Maschinenschuppen, nur daß das meiste davon nun lang schon brach lag, wie eben auch die Felder noch weiter hinten, oder leerstand, oder ganz zusammengekracht und abgerissen war, die meisten der Hinterhöfe riesige Schuttplätze geworden, zerschrundene, schlammige, hügelige – aber wohin sonst mit unserem Enklavenbus?
An dem Aufbruchsmorgen, schien mir, hatte sich die ganze Enklave eingefunden auf dem Schuttplatz. Dabei waren da nur wenige Reisende. Wie jedesmal wurde diesen das große Geleit gegeben, nicht nur von den Verwandten, sondern auch von den Nachbarn, den entfernteren eher als den näheren, unmittelbar anwohnenden. Geradezu heiter wirkte die Versammlung auf mich, vielleicht wegen des überdimensionierten, in einen Anhänger verstauten Gepäcks, weniger Taschen und Koffer als Kisten, bei denen ich mir vorstellte, darin seien Utensilien für die Nummern eines fahrenden Zirkus. Dazu wurden Betten, Schränke, Spiegel verladen, mehr mit dem Anschein von Raff- als von Erbgut (zu erben war bei uns, jedenfalls von der Art, schon lange nichts mehr, war nie etwas gewesen). Schneeflecken musterten den Hinterhof, also mußte es damals wohl Winter gewesen sein, Winteranfang oder -ende?, das konnte man in unsrer Gegend nie genau sagen. So dicht war das Gedränge, daß diese Flecken augenblicks festgestampft wurden, samt den Spuren der Tauben und Spatzen aus der Stunde davor, als der Hof noch nicht als Busbahnhof gedient hatte. »Und trotzdem waren da und dort Fragmente der Vogelzehen zu sehen«, mischte sich der Autor-in-Ruhe in mein Erzählen ein. »Autor in Ruhe?« Wer fragte das? Auch er hätte es fragen können.
Keiner der paar Fahrgäste hatte es eilig, in den Bus zu steigen, dessen Motor, wie immer, wohl seit dem ersten Hahnenschrei schon lief – würde er abgestellt, käme er an diesem Tag nicht mehr in Gang, wenigstens nicht bis zum späten Nachmittag, und dann: keine Reise mehr heute, in der Dunkelheit war die Fahrt mit dem Bus, dem Enklavenbus, noch ganz anders gefährlich als bei Tag, selbst unter Polizeischutz. Was für einen Krach unser Bus doch machte dort auf dem Schuttplatz (und wie schwarz der Rauch aus dem Auspuff, der seinem Namen alle Ehre machte, »und mehr noch«, wieder mischte der ehemalige Autor sich ein, »eurem balkanesischen Lehnwort, dem auspuh«). Es war das ein Krach, der noch und noch andere Kräche miteinbezog oder mitinbegriff, das Knattern und Klappern der schlecht schließenden, eingerosteten Türen, das Klirren, wie kurz vor dem Zersplittern, all der in der Regel sternförmig angebrochenen oder nur noch locker in den Rahmen steckenden Scheiben, das Aufeinanderknallen der Habseligkeiten in dem Anhänger. Dazu kam der Krach von den aufeinander einschreienden, durcheinanderschreienden Enklavenleuten, beziehungsweise der Lärm, beziehungsweise das Getöse. (Von meiner Gastarbeiterzeit sind mir ein paar solcher Lieblingswörter geblieben, wie eben »beziehungsweise«, auch »nichtsdestoweniger«, »freilich« – dieses von meinem Freund übernommen –, »inbegriffen«, »wie auch immer«, »brutto«, »lichte Weite«, »offenbar«.)
Solcher Krach kümmerte den Ehemaligen offenbar nicht. Er schien ihn sogar noch zu suchen. Wie sonst wäre er mitten in dem Gedränge geblieben, so wenig in Einstiegseile wie alle anderen? Nicht oft habe ich seine Augen leuchten sehen, mit der Zeit immer seltener. Da aber leuchteten sie. Dabei kamen aus der Menge keinerlei, wie auch immer, Freudenschreie. Das waren keine Jauchzer (»Juchzer«, variierte der Bootsherr). Die Leute waren gezwungen zum Schreien, um sich in dem allmählich steigernden Abschiedslärm, in Wirklichkeit bei jedem zweiten, wenigstens dritten ein Geheul, verständlich zu machen. Ja, es wurde, da und dort, lauthals geredet, gebrüllt, gegellt. Doch der Grundton, wenn lauthals, dann anders lauthals, war ein Weinen, und alles durchdringend, dabei gar nicht lauthals, je stiller, desto durchdringender, das Weinen der Kinder. Und beim näheren Hinschauen wurde außerdem offenbar, daß nicht wenige in der Menschenmenge, ja vielleicht sogar die Mehrheit, weder schrien noch weinten, sondern stumm waren, nicht nur jetzt für den Augenblick, schon seit längerem, und so stumm auch noch länger bleiben würden.
Woher nur die leuchtenden Augen? Hier war es in jener Nacht auf dem Morawa-Boot, daß an meiner, des Enklaven-Einheimischen, Stelle der Gastgeber weitererzählte. (Was mich anging, so ergänzte ich dann nur noch mit ein paar Bemerkungen die Erzählung von der endlichen Abfahrt.) Ja, ein Weh war in dieser Hinterhofmenge, ein großes Weh. Eingezwängt in sie wollte ihm, ja doch, das Herz zerreißen. Er würde augenblicks tot umfallen, mit der Stirn möglichst auf den Flaschenhals, der dort aus dem Schutt zackte. Und zugleich, ja, zugleich ging dieses Herz, dasselbe Herz, ihm auf, nahm Gestalt an, und blutete, wie es, so kam ihm vor, seit einer »ganzen Ewigkeit« nicht mehr geblutet hatte. Nicht eingezwängt in die Menge da fühlte er sich, sondern frei in ihr, frei durch sie, so frei, wie er. in allen den Jahren, ob allein oder mit uns Freunden, am manchmal doch weiten Fluß, auf dem von keinem Trubel je berührten Boot, nie gewesen war.
Er, so abhängig, meinte er, von den weiten Horizonten, ihrer vermeintlich so bedürftig, entdeckte in dieser Menschenmasse die nahen, die übernahen, die engen Horizonte wieder. Es war in der Tat – in seiner Erzählung betonte er dann das Wort »Tat« – ein Wiederentdecken; ein Wiederfinden. Mit den nahen Horizonten hatte es bei ihm einst angefangen. Es mußte das nicht das Gesicht seiner Mutter sein, das ihm, so empfand er es nicht erst im nachhinein, oft gar zu nah gekommen war, ihm die Ausblicke eher verstellt hatte. Nähe, das waren zum Beispiel die sogenannten »Augen« in den Brettern der Zimmerböden zuhause, die Astquerschnitte in den Brettern, den breiten, von denen, sieh an, der Name »Schiff-« oder »Schifferboden« kam. Nähe, das war im Schuppen der Holzblock, der vielfach zerfranste, in dem tief die Hacke steckte, mit Flecken vom in den Block gesickerten Blut der geköpften Hühner; das war der Schwamm für das Osterfeuer, der, an einem Draht befestigt, aufglühte, wenn man ihn durch die Luft, nein, die Lüfte schwang, waren die Körner der Maiskolben, wie sie erschienen beim Entfernen der Hüllblätter, vor allem, wenn diese Körner, Seltenheit, sich einmal nicht gelb, sondern rot oder schwarz zeigten.
Solche nahen Horizonte, mit der Eigenheit, daß sie weder als nah oder als weit erlebt wurden, sondern schlicht als Horizonte, als zu Sehendes, sich zu sehen Gebendes, als (etwas gar nicht so Selbstverständliches, zumindest für ihn) Gegenüber, sie waren seinerzeit gebildet gewesen fast nur von Sachen, von den Dingen. So sehr er auch sein Gedächtnis zuspitzte – lange, lange Pause in seinem Erzählen –, es erschien darin kein einziger naher Menschenhorizont, kein Mensch im ganzen und keiner als Teil. Höchstens waren da Tiere, und in der Regel gar kleine, eine erfrorene Biene, die man mit einem Hauchen wiederbeleben wollte, ein Weberknecht, tot im Staub eines Zimmerwinkels, und von größeren, und lebenden, vielleicht gerade die Wimpernlinie über dem Auge einer Kuh, die Kurve des Rückens eines Pferdes.
Menschennähe, nahe Menschen, von seiner Mutter abgesehen, hatten ihm lange keine Horizonte bedeutet, vielmehr Bedrängnis. So war es bei den einzelnen, und bedrängter womöglich noch fühlte er sich von einer sich nähernden Mehrzahl – selbst in einem gewissen Abstand war ihm das ein Nahetreten, ein Auf-den-Leib-Rücken –, und vollends eingekreist, umzingelt, eingeschnürt wurde man – immer wieder unterlief ihm so ein »man« – in einer Menge. Die erste menschliche Horizontlinie war ihm dann das Geschlecht, das noch unbehaarte, eines Mädchens, vor allen späteren Augen-, Ohrmuschel- und Lippenhorizonten: Schauen, Anstaunen, Einbezogenwerden (ohne irgendein Berühren), Dazugehören, Weiterschauen. Hieß nicht das Horizont, ob naher oder ferner?
Der ergab sich im Lauf der Zeit, dann und wann, freilich auch in der Menge, im Geschiebe und Gedränge, oft gerade da, und ein paarmal sogar in einem gewissen Eingezwängtsein. Das mußte nicht immer auf dem Fußballplatz sein, oder beim zehntausendfachen Wegdrängen von einem Rock- oder Sonstwie-Konzert. In einem überfüllten Zug konnten die Menschenhorizonte monumentalere Formen annehmen als irgendein Monument Valley; in der Enge eines Leichenkonvois für einen Unbekannten, wo man, ein erstes Mal unabsichtlich, bei den folgenden Malen immer absichtlicher, mit hineingeraten war, in einem Untergrundwaggon so enggeschichtet mit Passagierleibern, daß einzig der flachste Atem, der wie von Fischen bei ihren letzten Japsern in ihren Transportkisten, noch in Frage kam – eben da zeichnete sich vielleicht ein Horizont nach dem anderen ab, gab zuzeiten der eine Horizont – eine Halslinie in Handbreit vor den Augen, ein Haarscheitel, der in der Enge buchstäblich zu Berge stand – den nächsten, undsoweiter, wurde das Kiemenatmen abgelöst von einem tieferen, tiefen, einem Atem, für den man keinerlei Luft zu holen brauchte; ein Atem, so tief drinnen im Körper, als ob er dort die Luft von sich aus erzeugte; der nicht von einem selber herrührte.
Ein Irrtum, das ging ihm jetzt auf, war dann seine Suche nach den weiten Horizonten gewesen. Ein Irrtum? Eine Verirrung. Eine Krankheit, indem er mehr und mehr, Tag um Tag, Stunde um Stunde, und zwar ausschließlich auf sie aus gewesen war, und das nicht erst seit seiner Übersiedlung auf das Boot in das so fremde Land. Keine Suche mehr, eine Sucht. Wie hatte er vergessen können, daß der Große Horizont sich nie von außen, draußen dort, und sei es in noch so ferner Ferne, sehen ließ? Und schon gar nie mit Absicht? Daß er sich höchstens aus einer bestimmten Nähe ergab und dann im Innern verlief und da bleiben konnte oft über die Momente der Nähe weit hinaus, so wie angeblich Goethe gewisse Nachbilder auch noch Monate nach einem Anschauen hinter den geschlossenen Lidern hatte?
Die Horizonte inmitten der ihn umgebenden Menschenmenge jetzt, in der Form von Leitlinien, durchzuckten sie ihn denn nicht, und war das demnach nicht die erste zitternde Sekunde, bevor er so recht auf dem Weg war? Nein, diese Linien da gingen ganz allmählich auf ihn über, erst eine, dann wieder eine, undsofort, in einem, ah wie sanftem Gleichmaß, als Wellen eines andersstillen Ozeans da in dem balkanischen Binnenland, einem Binnenland, wie es im Buche stand. Weniger das Weinen, auch ohrenbetäubendes Plärren darunter, war es, das ihn die, so sein Wort, »entscheidenden« Horizonte wiederentdecken ließ, als die stillen Wellen, ausgehend von einer unbekannten Schläfenlinie nah seiner Schulter, einer Wangenlinie, einer Nackenlinie. »Es flutete, und das Herz blutete.« (Wir ließen ihm diesen Satz durchgehen, er war sonst eher gegen seine Art.)
Er war dann der erste, der in den Bus stieg. Dabei hatte er es genauso wenig eilig wie alle die anderen. Das Verzögern, Hinausschieben, Retardieren war (vielleicht in seiner Periode als Autor, da es ihn geradezu drängte, episch und immer epischer zu werden, nach welchem Vorbild? seinem eigenen) so etwas wie seine zweite Natur geworden. Dreimal hatte er mich noch umarmt, ganz von sich aus, etwas Neues bei ihm, und so herzhaft, als umarmte er nicht nur mich allein. Und dann sah ich ihn an einem der Fenster sitzen, wie erwartet einem der angesplitterten, wie erwartet hinten, in der einzigen Reihe, die gegen die Fahrtrichtung zeigte. Er schaute, ebenfalls wie erwartet, unverwandt ins Freie, jedoch weder zu mir her noch hinab auf die Menge, die sich allmählich beruhigte und da und dort ein Lachen und sogar vereinzeltes Singen hören ließ, sondern in eine Richtung des Schuttplatzes, wo ganz offenbar nichts war. Wie vorhersehbar war mein Freund. Und zuletzt, kurz vor der Abfahrt – unversehens, wie so oft die Begebenheiten bei uns auf dem Balkan, ging es los –, geriet er mir noch in den Blick, wie er von seinem Platz aufsprang und alle seine Gewandtaschen, ich erriet das, mechanisch, nach eingefleischter Gewohnheit, nach Papier und Bleistift absuchte – offenbar ohne Erfolg. Ja, wollte er denn doch wieder etwas aufschreiben? Hatte er denn vergessen, daß er einen Hautausschlag bekam, wenn er ein Blatt Papier, vor allem ein leeres, berührte, und sogar schon bei einem bloßen Papierknistern? Daß er sämtliche Bleistifte an Bord zerbrochen und in den Fluß geschmissen hatte?
Jetzt übernahm der Ex-Autor wieder das Erzählen, für die folgende Nachtstunde ohne eine Zweitstimme, war er doch im Bus und auch geraume Zeit danach ohne Gefährten unterwegs gewesen. Es stimmte: Er hatte sich, unwillkürlich, nach Schreibzeug abgetastet, aber nicht, um etwas aufzuschreiben. Es war der jähe Drang zu zeichnen. Zu zeichnen? Konturen nachzuziehen, sie bloß anzudeuten, oder sie zu verstärken, wo eine Verstärkung sich anbot. Sich anbot? Ja, sich anbot. Oder, nein, die Konturen im Zeichnen überhaupt herauszufinden – schon deswegen wäre ein Photographieren erst gar nicht in Frage gekommen. Ob es ihn drängte, die Leute draußen zu zeichnen? (Er fragte sich das selber.) Die Linien hier eines Backenknochens, dort eines Kinns, dort eines Daumennagels? Und wieder nein: Um die Konturen von Dingen war ihm zu tun, wie seinerzeit in der Kindheit. Aber der Hinterhof, war er nicht, bis auf den Bus, leer? Was gab es da zu zeichnen? Die Lehnen der Sitze vor ihm, durch die Bank aufgerissen oder aufgeschlitzt? Die Halterungen da für die Aschenbecher, die letzteren sämtlich fehlend?
Und noch einmal nein: Der Schuttplatz zeigte sich auf einmal doch nicht so leer, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Der Steinblock, der riesige, im hintersten Winkel des ehemaligen Anwesens war in Wirklichkeit das letzte ganzgebliebene Überbleibsel der Hofbauten, der Schuppen, der Ställe, der Scheunen, der Weinkeller – die Bude, wo einst der einheimische Schnaps gebrannt worden war. Der Steinblock bildete eine aus dem Schutt ragende Kuppel, die den Einschlupf zu einem Hohlraum freiließ, in dem gerade Platz war für die Destillieranlage und, wie konnte das bei euch auf dem Balkan auch anders sein?, eine Sitzbank, eine kurze, schmale, aber eben eine Sitzbank.
Der Bunker, als solchen sah er den gehöhlten Block dort, stand ohne den gläsernen Riesenbauch mit dem klaren Schnaps darin. Doch die Sitzbank war immer noch an ihrem Platz, höchstens vielleicht ein wenig verschoben. Diese Bank, und mit ihr die Steinkuppel, sie verlangten, gezeichnet oder eben konturiert zu werden, und wenn auch nur mit dem letzten Stummel von einem Stift, umso besser so, und wenn auch bloß auf die Rückseite eines Kassenzettels, umso besser so. Und da sich eben weder das eine noch das andere fand, zeichnete er die Konturen, nein, nicht auf die Busscheibe, sondern in die Luft. Entrückt spürte er sich, wußte er sich, angesichts der Bank in der früheren Schnapsbrandhöhle, die von dem Frühmorgenlicht schimmerte. Entrückt? Gab es das denn heutigentags noch?
Entrückung, das hieß freilich nicht Entwirklichung. So entrückt zu werden, hieß nicht, der Welt, oder meinetwegen der Gegenwart, abhanden zu kommen. Wie real alles, alles?, ja alles erschien in dieser Entrückung, nicht die Sitzbank allein, nicht das Gehäuse allein. Da war es. Das ist es. Das wird es gewesen sein. Solche Entrücktheit, sie rückte die Dinge an ihren Platz. Auch die Leute? Das war eine ganz andere Frage, nicht zu beantworten, oder höchstens bei einer allgemeinen Entrücktheit, in einer anderen Zeit. So oder so hätte er einen Satz aus seiner Aufschreibepoche variieren oder korrigieren mögen: »Nur versunken sehe ich, was die Welt ist«? – »Nur entrückt sehe ich, was die Welt ist.« Würde vielleicht das nun sein neuer Beruf werden?
Einen, wenn auch unmeßbaren, Augenblick lang dauerte das. Aber der genügte, und die Steinhöhle mit der Sitzbank bevölkerte sich. Nicht etwa leibhaftige Menschen nahmen dort ihre Plätze ein, jedenfalls nicht die verschwundenen, nicht die von früher. Menschenmöglichkeiten eher waren es, die die Leerkuppel durchwirkten, ein sozusagen, nein, nicht »sozusagen«, virtuelles, dabei doch so winziges, kaum für zwei, drei Platz bietendes Versammlungslokal, ein mögliches Miteinander, das nichts zu schaffen hatte mit seiner vergangenen Bestimmung, dem Zusammenhocken und Rakijakosten – oder vielleicht doch auch, neben dem und jenem, wer von euch würde etwas dagegen haben? Jedenfalls war in dem Augenblick kein Schnaps zu riechen. Keine Lieder schollen aus der Höhle wie aus der Tiefe der Jahre, und keine bäurischen Gestalten feierten da frisch und farbenprächtig ihre Auferstehung vor irgendwelchen Ikonen wie in der Rückblende eines Films. Das war keine Rückblende, und das waren keine Halluzinationen – in der Entrückung gab es das nicht, vielmehr? Siehe oben. Nichts Dörfliches überdies an dem, ja, Ausschnitt – wie zu diesem denn sonst der Gedanke: »Land in Sicht!« Land? Was für ein Land?
Der rückwärts stoßende Bus. Langsam, langsam, damit der Anhänger nicht ausscherte. Das Motorgeräusch im Rückwärtsgang: einerseits wie drohend, andererseits wie bedroht. (Wenn ihm für seine Rundreise ein durchgehendes Vorhaben im Sinn war, so, auf die Geräusche zu achten, sie zu reflektieren, zu vergleichen, zu übersetzen.) Ruckhaft begann die Fahrt, und das sollte noch eine Zeitlang, besonders für die balkanischen Etappen, so bleiben; Balkan und Ruckhaftigkeit, auch das gehörte für ihn zusammen, und fast fehlte ihm etwas, wenn, wie in Tagen nur auf dem Morawa-Boot, die Rucke ausblieben – nicht freilich, jetzt, in der fraglichen Nacht.
Großes Winken draußen auf dem Schuttplatz, das im Businnern kaum erwidert wurde. Wie noch spärlicher da, im Vergleich zur verabschiedenden Menge, die Passagiere wirkten. Und kein Blick hinaus ins Freie von ihnen; wenn einer schaute, so blicklos. Die meisten aber, kaum saßen sie, waren nur noch mit sich selber beschäftigt, und zwar, auch paarweise oder als Familie, ein jeder völlig für sich, wickelte auf der Stelle sein Eßpaket aus, biß in einen Apfel, setzte eine Flasche an, knabberte an den Fingernägeln, machte sich ans Lösen eines Kreuzworträtsels, eines Sudoku (sogar auf dem Balkan, sogar in Porodin begannen die Tage inzwischen mit den japanischen Zahlenrätseln), einer, ja, sehe ich recht?, schlug gar ein Buch auf – nein, nicht er, der Ehemalige.
Keinerlei Nachwehen von dem Weinen und Schluchzen gerade noch; nicht einmal ein Schniefen; und so trockene Augen, geradezu übertrocken. Weil niemand blinzelte? Kein Lidschlag zu bemerken war? Oder doch: Bei der einen Person, die in dem Buch las; ein sehr rascher Lidschlag, der ihn, den Betrachter, daran zweifeln ließ, ob der Mensch dort überhaupt las, oder ob das ein wirkliches Lesen war, dasjenige Lesen, das zumindest er als ein solches verstand. Er, er würde nicht lesen, noch nicht. Kein Buch würde er vorderhand lesen, und, ich sage euch, die ganze Zeit unterwegs keine Zeitung: ein anderes durchgehendes Vorhaben, dieses allerdings im Hinblick auf ein Unterlassen. Ein einziges fürs Tun, nicht wenige fürs Unterlassen. Ob er das durchhielt?
So langsam geschah das Rückstoßen, daß die Menge draußen, vollzählig, als Begleitung neben dem Bus herging. Das setzte sie ebenso dann fort, als der Hinterhof endlich verlassen war, auf der schmalen Seitenstraße, die, an der Kirche von Porodin vorbei, zur großen Durchfahrts- und Überlandstraße führte, auf den alten Karten noch, wie selbst die kümmerlichsten Verbindungslinien dort auf dem Balkan, »Magistrale« geheißen (heute längst nicht mehr). Nicht nur wegen der Enge der Zufahrtsgasse rollte der Bus weiterhin, wenn auch nicht mehr rückwärts, Schritt für Schritt. Es war, vor allem auf der Höhe der Kirche, noch auf anderes zu achten als etwa auf Hauswände, Bäume oder abgestellte Fahrzeuge. In Wahrheit gab es auf diesem Zwischenstück weder Häuser noch Bäume noch Fahrzeuge, und das war auch keine Gasse, vielmehr eine bloße Passage, eine Passage, die erst mit da Durchkurven, dem da besonders ruckhaften, entstand, in einem die Kirche (die, eine Regel dort in der nachpannonischen Tiefebene, so gar nichts von einer Dorfkirche hatte) umgebenden scheinbaren Niemandsland. Scheinbar: denn dieses Niemandsland war ein Friedhof, mit Grabhügeln so klein, daß sie kaum aus dem Gras ragten, die Schilder, wenn es überhaupt welche gab, gerade eine Handbreit über dem Erdboden. Mochte das noch gemäß dem alten Bestattungsbrauch der Morawa-Gegenden sein: keinem alten Brauch entsprach es, daß die Toten mitten im Ort, bei der Kirche, begraben wurden. Seit jeher lagen doch die Friedhöfe hier außerhalb, oft sehr weit außerhalb, manche umgeben von einer Halbwildnis, abseits der letzten Acker und Weiden, nicht selten oben auf einem Hügel, aus der Ebene zu verwechseln mit herausgewitterten Kalkblöcken dort. War das demnach ein neuer Brauch, eingeführt oder einfach so aufgekommen im Zuge der allgemeinen Vereinheitlichung? Nein. Es war aus Not, daß die Gestorbenen von Porodin, statt draußen in einem ehemaligen Weinberg, in der Dorfmitte, um die Basilika herum, begraben wurden. Es war anders nicht möglich. Der alte Friedhof war völlig zerstört, und jeder dort jetzt aufgerichtete Leichenstein wäre schon in der ersten Nacht kurz und klein geschlagen, jeder frische, auch noch so niedrige Grabhügel dem Erdboden gleichgemacht. Und nicht erst seit gestern bestand diese Art Not. Der einzig noch mögliche Bestattungsplatz, das Areal rund um die Kirche, war, mit den Enklavenjahren, drangvoll geworden von Gräbern – wenn Porodin vielleicht ein Dorf war, so ein großes, dichtbevölkertes, ja überbevölkertes, aufgrund der von überall aus den Umgebungen da Hereingeflüchteten, deren, wie sagte man, »Sterberate« beachtlich war. Das scheinbare Grasniemandsland im Dorfzentrum war ein Gräberfeld, mit Leichenhügelchen dicht auf dicht, so daß die dem Bus das Geleit gebende Menge dazwischen durchbalancierte, hakenschlagend, auf den Zehenspitzen mehr kurvend als gehend, mit zum Gleichgewichthalten und Nicht-daneben-Treten erhobenen Armen, was das Bild eines massenhaften Dahintänzelns, eines wie traditionellen Kreistanzens gab. Und entsprechend kurvte auch der Bus im Schrittempo durch die noch freigebliebene Fläche. Vielleicht schon morgen gäbe es da für ihn kein Passieren mehr. Aber da geschähe die Abfahrt ohnedies von einem anderen Hinterhof.
Endlich eingebogen in die Magistrale, hätte der Bus, die Straße war leer, ungehindert Fahrt aufnehmen können. Zunächst freilich verlangsamte er eher noch mehr. Einige der Begleiter draußen, nicht bloß Kinder, waren auf das Trittbrett und hinten auf den Anhänger geklettert. Einer erklomm vorne die Kühlerhaube. Ein altertümlicher Bus war das, aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, ein ausgedienter Postomnibus aus Österreich, lang vor der Zeit der automatischen Türen, getönten Scheiben und verstellbaren Sitzlehnen; eine Spende des Nachbarlands nach dem letzten Krieg, mit dem Zeichen des Posthorns des anderen Staats unübermalt an den Flanken, ein aktueller Zusatz nur in der Aufschrift »Porodin«, diese allerdings überdeutlich, und überdies in kyrillischer Schrift: ПОРОДИН.
Dann ein Beschleunigen, von einem Moment zum andern, unvermittelt. Die Trittbrettfahrer und Genossen schienen darauf gefaßt gewesen. Leichtfüßig sprangen und rollten sie zur Seite. Und nicht wenige aus der Menge beschleunigten auch, liefen, rannten, stürmten neben dem Bus her. Eine ganze Strecke brauchte der, bis er sie hinter sich gelassen hatte. Benzinschwaden, die zum Teil auch in den Passagierraum quollen, entzogen die letzten paar Nachrenner den Blicken, wenngleich nicht so vollständig, daß zu übersehen gewesen wäre, wie sie, so rennend und springend, zugleich trauerten, und die ganze Menge, bald schon verschwunden, mit ihnen. Einer schlug, bevor er aufgab, auf dem zersprungenen Asphalt der Straße einen Purzelbaum, und dann einer, bevor auch er, als letzter, stoppte, noch einen Salto mortale (war das nicht der Fußballstar – auch Dörfer, auch Enklaven hatten ihre Stars – von Porodin?). Ja, das gab es: Hochspringen, Purzelbaumschlagen, Salto mortale vor Trauer, eine Sprint- und Springprozession der Trauer. Es war eine wilde Trauer; ein Widerstand, wo jeder Widerstand zwecklos war, und umso unbedingter.
Er war in dem Bus der einzige, der Augen dafür gehabt hatte. Die, um derentwillen es zu einem derartigen Hinterherlaufen gekommen war, beachteten es gar nicht. Sie bissen weiterhin stier in ihre Äpfel, daß es nur so knirschte, quietschte und krachte; steckten sich die Kopfhörer in die Ohren und drehten an ihren Musikgeräten den Ton so hoch, daß, jenseits von Melodie, Gesang oder Instrument, auch jenseits eines irgendwie mitzuerlebenden Rhythmus, nichts als ein Scheppern, alles durchdringend, um sich griff, vor dem nirgends in dem Passagierraum, selbst bei dem Gedröhn des Motors, ein Entkommen war; schlugen, das erste Rätsel gelöst, mit großer Gebärde die Seite um zum nächsten Rätsel; kämmten sich ausführlich; bohrten in der Nase; steckten sich, einer nach dem andern, Zigaretten in den Mund (freilich ohne zu rauchen); drückten in einem fort an ihren Mobiltelefonen herum (nur so zum Zeitvertreib); knabberten an Sonnenblumen- und Kürbiskernen, an den eigenen Nägeln (auch das, seltsam, ein Geräusch, das das des Motors übertönte); und einer steckte sich dann zu der Zigarette noch einen Zahnstocher zwischen die Lippen.
Wie erwartete er doch von ihnen, daß auch sie trauerten. Daß auch sie sich untröstlich gebärdeten, heillos durcheinander. Warum warfen sie sich nicht zu Boden, oder bäuchlings über ihre Sitze, warum schlitzten sie nicht mit den Fingernägeln, statt fort und fort daran zu knabbern, weiter die Lehnen auf, oder trommelten wenigstens mit den Fäusten dagegen? Wie hätte er gewünscht, daß sie ein anderes Personal wären, ein seiner Reise würdiges. Fast hätte er, allein mit einem strafenden Blick, ihnen befohlen, sich zu verhalten, wie es, nach seiner Vorstellung, gedacht war: daß sie, die paar da, die auf immer ihre Ortschaft verließen, einander in die Arme nähmen, auch bloß die Hand auf die des andern legten, ein paar Worte austauschten, meinetwegen nichtssagende, zusammenrückten, sie, die paar da. Doch nein, ein jeder hockte in dem Bus für sich, stumm und stumpf, bis auf den einen vorne auf dem Sitz schräg gegenüber dem Chauffeur. Und was dieser eine, so lauthals wie pausenlos, von sich gab, auch das entsprach so keineswegs dem geforderten Ernst der Stunde, sondern ziemlich genau dem Geplapper jener einen Person, die einst im Kindheitsbus des Ex-Autors, in fast genau so einem wie dem jetzt, Fahrt für Fahrt neben dem Lenker gesessen oder gestanden und nicht nur diesen, den ganzen Passagierraum bis zu seinem, des Schülers, Hintersitz fahrtlang vollgeschwätzt hatte, wenn in wechselnder Gestalt, so in der immergleichen Lautstärke und Unentrinnbarkeit. Damals war die Rolle des Drauflosplapperers in der Regel von einer Frau verkörpert worden, heute, aber das mußte nichts Neues sein, von einem Mann, einem dabei schon recht alten. Stimmfall, In-einem-fort-Reden, sogar das Lachen, wo es doch so gar nichts zu lachen gab?, ließen sich jedenfalls hören, nein, drangen und schlugen in die Hörräume ein ebenso jetzt wie seit einer Ewigkeit.
Daß diese Passagiere ihn hinten, der eher auffällig von Zeit zu Zeit den Kopf nach ihnen wendete, so gar nicht beachteten, daß er für sie nicht existierte: recht so. Nicht recht dagegen war ihm, daß ihr Verhalten dermaßen seiner Vorstellung, oder seinem Willen?, seinem Ideal?, seiner Idee? – seinem, nach all dem gerade Erschauten, epischen Gefühl widersprach. Ah, eure verdammte neubalkanische Unzugänglichkeit, Verschlossenheit, Unansehnlichkeit. Das war doch nicht immer so, oder? Keine schwingenderen Stimmen, keine geöffneteren Augen, keine miteinbeziehenderen Gesten als einmal bei euch. Wo ist euer episches Schauen geblieben, euer episches Kopfwiegen und Kopfrucken, euer episches Aufseufzen? Es mußte ja nicht gerade einer mit der Gusla kommen, auf deren einziger Saite er markerschütternd fiedelte und dazu entsprechend sein jahrhundertealtes tragisches Heldenlied schallen ließe.
Kein Schild, das anzeigte, wo das Meilen um Meilen, »Werst um Werst«, sich dahinziehende Straßendorf Porodin und damit eine der letzten, gerade noch geduldeten Enklaven Europas seine Grenzen hatte. War das da, wo nicht einmal mehr ein Hund mit dem Bus mitlief? Oder da, wo die ersten der Feldscheunen in Trümmern lagen, wo die ersten Weinberghütten verbrannt, oder zumindest angekohlt waren? Wo, trotz des fruchtbaren Weidelands, weder Schafe noch Kühe mehr Gras rupften, und schon gar keine Schweine, von einem umzäunten Obstgarten zum andern, mehr durch den Schlamm galoppierten? (Obstgärten weiterhin, aber verlassen, und das Obst, ob Vorwinter oder Vorfrühling, allerwärts ungepflückt in den Bäumen.) Wo kein Straßenschild nicht durchsiebt war von Schußlöchern, übermalt mit Totenköpfen, beschriftet mit Drohparolen, in lateinischen, nicht kyrillischen Buchstaben?
Das vielleicht am stärksten in die Augen springende Anzeichen vom Übergang aus der Enklave in den anderen Bereich: das zweite Polizei- oder Militärpolizeiauto, das sich dem ersten, der Vorhut für den Bus schon in der Dorfmitte, dann weit draußen auf der Magistrale anschloß, als Nachhut, so daß der Bus nun im Konvoi fuhr. (Ab da war es auch, daß er, der Einzelreisende, anfing, die Passagiere und sich selber momentweise als »wir« zu sehen, und in jener Nacht demgemäß auch von »uns« erzählte.) Ganz eindeutig wurde es, daß wir die Gemarke Porodin nun verlassen hatten, als die Abzweigungen von der Magistrale in die Seitenstraßen, ja selbst in die (ehemaligen) Feldwege, blockiert waren von Panzern. Und wo es keine Sperren durch Panzer waren, so durch Rollen eines speziell robusten, anscheinend stahlharten Stacheldrahts, die abwechselten mit aufgebockten Spanischen Reitern. Die Schießrohre der Panzer allesamt ausgefahren, jedoch nicht die weiterhin fastleere Überlandstraße anpeilend, sondern die Hügelkette zur einen, die Flußebene zur anderen Hand – wo die Leere, Menschen- wie sonstige Leere, eine vollständige war. Ständiges Winken aus den Sichtschlitzen der Panzer heraus, das freilich weniger ein Zuwinken als ein Weiterwinken war: »Los. Weiter. Schneller.« Und in der Tat beschleunigte der Konvoi, oder das kam uns bloß so vor.
Der Ex-Autor hatte da ein Erlebnis, das sich im Verlauf der Rundreise noch dann und wann wiederholen sollte: In die Gegenrichtung zur Fahrt schauend, sah er zugleich den Bus von außen, von einer Ackerfurche aus, mit den Silhouetten des Chauffeurs, der Emigranten und seiner selbst. Sie alle zeigten sich im Profil, und unterschieden sich so kaum voneinander. Auch sich selber sah er so durch die stern- oder spinnennetzförmig angeknackste Scheibe, nur eben als rückwärtsgerichtetes. Und unversehens erschienen dann, weiter im Blick von außen, die Scheiben des Busses bedunstet, ein Dunst, der von innen kam, von ihnen, den Passagieren allen, augenblicklich so stark, daß die Profile zwar nicht völlig verschwanden, aber zu konturlosen Schemen wurden. Unwillkürlich wischte er mit dem Ärmel den Dunst weg, der, nein, nein keine Einbildung war. Von einem Moment zum nächsten hatten sich die Fenster dick beschlagen. Und er war der einzige, der wischte, und wischte, und wischte – nach jedem Wischen sofort eine neue Dunstschicht.
Und der Blick dann, wieder über die Schulter, auf seine Mitfahrer: wie starr sie doch saßen, der Eindruck von Starre noch verstärkt durch die früher landes-, inzwischen eher bloß enklavenüblichen, grobgeschnittenen, so ungeschmeidigen schwarzen Lederjacken, gleichermaßen Männer wie Frauen zu Vierecksformen reduzierend. Die Abdrücke von Katzenpfoten hinten auf der einen Jacke dort: war das nun doch eine Einbildung, oder ein Muster, oder stammten sie wirklich von einer Katze, die drübergerannt war? Und auf der zweiten Jacke dort die Hundespuren? Und auf der dritten dort die Spuren der Tatzen eines Wolfs! Aufgesprungen und die Entlüftungsluke oben im Busdach aufgestoßen, Geste, die ihm noch vertraut war von den Fahrten im nämlichen Postbus, als Heranwachsender: wie der Himmel dann blaute nach dem Weichen des Dunstes, welch mildes Blau (das er beim Erzählen umänderte in ein »wildes«). Und wieder erblickte er den Bus mit den inzwischen neu umrissenen Profilen ihrer aller drinnen von dem entfernten Außenstandpunkt aus, und seltsam, was er da unwillkürlich, wörtlich, dachte: »Erbarme dich unser.«
Eine Seitenstraße dann, eher ein bloßer Weg, ein Traktorfahrweg, der nicht gesperrt war, weder von einem Panzer noch von Drahtrollen. Warum bog der Bus da ein, statt auf der Magistrale weiterzufahren? Niemand freilich, der das ausdrücklich fragte, auch er nicht, so als habe er sich über die Jahre auf dem Balkan das Fragen, das meiste zumindest, abgewöhnt; fast keine Frage, die hierzulande nicht als bloße Fragerei auftrat. Sehr langsam wurde der Bus, rumpelte zwischendurch wieder im Schrittempo, obwohl kein Hindernis sich sehen ließ. Die zunehmend steinige Landschaft, unbepflanzt und ohne Baumwuchs, war weithin leer. Weg ging es von der Flußgegend und der sie durchschneidenden großen Straße, hinauf und hinein in das südliche Hügelland, stetig im Konvoi mit den Polizeiautos, das eine im Abstand voran, gleichsam als Lotse, das andere dichtauf hinterher, die drei Fahrzeuge, von außen betrachtet, in einer einzigen diesigen lehmgelben Staubwolkenbahn, die, trotz aller Langsamkeit, so hoch wie massig in der Unbewohntheit dahinzog, zugleich begrenzt auf den Konvoi, sich um diesen ballend, während ringsum der Luftraum umso klarer blieb. Nein, es waren keine Minen mehr zu befürchten, schon lange nicht mehr. Was unseren Bus so bremste, das waren die vielen, bei der unkultivierten Erde eher rätselhaften Kurven, das war die Enge des Traktorwegs, der, ein Überbleibsel aus den Anbauzeiten, gesäumt war von ehemaligen Wassergräben, wasserlos jetzt, und wenn gefüllt, so mit verrottenden Maschinenteilen, ebensolchen Autobruchstücken, einem Gemisch von Lumpen und Plastiksäcken, Tierkadavern, verwesenden oder schon skelettierten, und dazwischen, nicht selten, ineinander verhakte Grabkreuze, Kränze, zu verwechseln mit wie für eine Hochzeit geschmückten Autoreifen, Reste von Autoantennen mit Schleifen dran, die nun in der Tat von Hochzeitsfeiern stammten, kopfüber versenkte Gummistiefel und, vor allem, Häuser- und Hüttenschutt. Unvermutet – »na, so unvermutet auch wieder nicht«, unterbrach er sich dann in der Morawischen Nacht – etwas wie eine Siedlung. Wenn das ein Dorf war dort unten in der Hügelmulde, so ein grundanderes als Porodin. Nicht allein, daß es als ein Haufen-, kein Straßendorf erschien: Auch die Gebäudeformen waren verschieden, so verschieden, als sei man flugs nicht bloß in ein neues Land, sondern in einen fernen, unbekannten Kontinent geraten. Waren das Gehöfte, oder nicht eher Forts? Wenn Forts, dann nicht umgeben von den klassischen Palisaden, vielmehr von eine jede vorstellbare Palisade an Höhe ziemlich übersteigenden Steinmauern. Das Innere der Forts, indem diese fast als ganze überdacht waren, nicht einsehbar, selbst von der Hügelkuppe aus, wo die Muldensiedlung zuerst in den Blick geriet.
Ein unbekannter Kontinent, auf den der Buskonvoi, womöglich noch stockender, zurollte? Ja, und überdies, so mutete es zumindest ihn an, den Ortsfremden, ein verbotener. Recht so. Nur nicht fragen. Aber auch die Mitreisenden, die, was das ganze Land da betraf, Einheimischen, ließen an ihren eingezogenen Köpfen angesichts der Mulde etwas wie ein illegales Grenzüberqueren spüren. Auch wenn sie die Plätze nicht wechselten – oder beim Dorfeingang unten dann doch –, schienen sie zusammenzurücken. Das Kürbiskernknabbern, das Kaugummikauen hörte auf. Oder, bei dem einen oder anderen, es verstärkte sich umgekehrt, so wie auch der Rätsellöser auf einmal hastig wurde und der Buchleser noch heftiger in sein Buch blinzelte. Die Mehrzahl freilich verfiel in ein gemeinsames Innehalten. Und er stand jetzt hinten von seinem Rücksitz auf, rückte nach vorne zu ihnen, hielt inne, mit ihnen zusammen.
Innehalten, das zugleich ein wie atemanhaltendes Hinausschauen war. Niemand blickte jedoch dann, als der Bus, weiterhin auf dem schmalen Traktorweg sich vortastend, auf der Höhe der Gehöfte oder Forts war, auf deren fensterlose Mauern, auf deren wahrscheinlich wie unzugänglichen Tore, in denen, eins nach dem andern, die Gucklöcher auf- und, womöglich noch schneller, zugeschoben wurden. Der gemeinsame Blick ging, statt in die Nähe – der Bus streifte die Mauern manchmal fast –, in die Zwischenräume zwischen den Gebäuden, jetzt auf die Ruinen dort, die, mit Dorngestrüpp und Unkraut (nicht dem von der nützlichen Art) überwuchert, so schwer zu unterscheiden von dem unebenen Boden, daß sie für ein fremdes Auge als Ruinen erst mit der Fahrt von Lücke zu Lücke erkennbar wurden. (Und die Lücken nahmen zusehends mehr Raum ein, bis dann das Ortsende sich als einzige große Lücke, als einziges, kaum mehr aufspürbares Ruinenfeld erwies.)
Fremde Augen? Nein, nicht die ihren, die der Mitpassagiere. Sie wußten, was sie da sahen. Und sie sahen ganz anderes, als was da, oft von der Erde verschluckt, vielleicht mehr zu ahnen als noch zu sehen war. Und diese Augen zielten, öfter noch als zu Boden, durch die Zwischenräume hinaus auf das leere Land, die Hänge der Mulde dort, bis hinauf zu den Anhöhen, wo nichts, aber auch gar nichts war. Unten im Ortsbereich kein Mensch sonst im Freien, nicht einmal Tiere, ob Hunde oder Hühner. Oder doch: die Spatzen, die vor dem Bus kreuz und quer schwirrten – ewig beruhigendes Geräusch –, oder, unbekümmert um das schwer dahinpolternde Fahrzeug, sie badeten im Staub, auch in den Schneestellen.
Das war kein Weg mehr, auf dem der Bus nach dem Abbrechen der Siedlung hügelan fuhr, es war eine Steppe, eine unwegsame, zudem zunehmend steile. Wann würde er endlich einmal zum Stehen kommen? Nein, keine Fragen. Und da stand er, schräg im Trümmerhang, gelb auf graubraun. Alles aussteigen!? Das brauchte gar nicht ausdrücklich gesagt zu werden. Wo sie, und er, fraglos, mit ihnen, bergauf gingen, mußte vor langer Zeit ein Pfad gewesen sein. Von diesem gab es kaum mehr Anzeichen, aber die Selbstverständlichkeit, mit der jeder einzelne in dem Geherpulk quersteppein und -auf seinen Schritt setzte, ließ ihn jetzt nachvollziehen. Der einstige Pfad war demnach in Serpentinen verlaufen, in weit ausschwingenden. Möglich, daß es sich um einen Lastpfad gehandelt hatte, unbelastete Geher wären auf einem kürzeren Weg hinauf zu der Anhöhe gestiegen, in knapperen Schlangenlinien oder schnurstracks, wie es das jene von den Militärpolizisten taten, die den Zug vorne absicherten.
Absicherten? In der Tat; denn oben angekommen, sahen wir uns dann umgeben von ihnen wie von Wachposten, postiert an den vier Ecken eines leeren Feldes, das ein Plateau bildete, hoch über dem Muldendorf. Maschinenpistolen im Anschlag, die aber wiederum nicht auf uns zielten, sondern von uns weg in sämtliche Himmelsrichtungen; dazu schallte und krachte das Plateau von Sprechfunkgeräten. War da ein Zusammenhang mit den Gestalten, die tief unten nach und nach, in immer rascherer Folge, aus den zuvor wie unbevölkerten, fortähnlichen Gehöften traten, eher schwärmten und sich hügelauf zusammenschlossen, die Vorhut schon bald auf halber Höhe?
Die Busleute, bis auf ihn, schienen indessen gar nicht zu bemerken, was da um sie vorging. Oder wenn, so hatten sie keine Augen dafür. Augen hatten sie allein für ihr Ziel, und das lag am hinteren Saum des leeren Feldes. Über Stock und Stein hielten sie geradewegs darauf zu, und es war klar, er hatte ihnen auf dem Absatz zu folgen. Warm schien die Sonne aus dem südlich blauen Himmel, fast heiß. Von den trockenen Kräutern, dem wilden Thymian und Rosmarin, stieg unter den Sohlen ein Geruch auf wie im Sommer. Augen nur für ihr Ziel? Und was für Augen. Schon unten im Bus, beim Blick auf die Anhöhe, hatten die sich verändert. Es waren das, nach all dem totenähnlichen Stieren zuvor, unversehens die Augen von Lebenden geworden, wie nur je welche, und wenn bloß für ein schnelles, wie heimliches Hinschauen. Und jetzt, im Holpern und Stolpern, wobei zwischendurch auch der eine und der andere hinschlug, auf das Ziel zu, wurde solches Hinschauen ganz unverhohlen und unverwandt; kein Sturz konnte es aus seiner Bahn bringen.
Was aber war das Ziel? Nein, noch immer fragte er nicht, auch nicht sich selber. Jedenfalls war der Saum des versteppten Feldvierecks, die Schwelle zur Wildnis, ebenso leer wie das ganze Feld, höchstens ein wenig steiniger, wie üblich bei solchen Rändern. Wie auch immer: dieser Saumstreifen war das Ziel. Die Gruppe, bis auf ihn und den mitgekommenen Buschauffeur, hockte sich dort zu Boden, im Kreis um einen Fleck, wo außer Gras, Steinbrocken und Reisig nichts war. Nacheinander wurden aus Akten-, auch Handtaschen und Plastiksäcken Eß- und Trinksachen in den Kreis gestellt, flink und anscheinend routiniert wie bei einem balkanesischen Hütchenspiel. Dann wurden die Sachen, wo nötig, ausgepackt und angeordnet: Kekse und Waffeln aus den Schachteln geschoben, Schokoladeriegel aus dem Stanniol geschält, Käse aus Tüchern oder Papier gewickelt; Äpfel, auch Orangen, ein, zwei Bananen, sogar ein paar selbstgezüchtete Kiwis (so fernab der Welt war die Enklave nicht) kamen einfach so dazu; und von den Getränkeflaschen wurde gerade nur leicht der Verschluß aufgedreht.
Seltsames Picknick, bei dem alle so hocken blieben, niemand sich setzte, geschweige denn aß oder trank; bei dem, am hellichten Tag, inmitten der Speisen und Getränke, eine Kerze angezündet wurde; bei dem, nachdem lange, schon seit dem Ausstieg aus dem Bus, nein, schon vorher, seit dem Abbiegen von der Magistrale zu dem Dorf, kein Wort mehr gefallen war, unter diesen Auswanderern ein Weinen losbrach, nicht zu vergleichen mit dem der Menge, die ihnen am Morgen das Geleit gegeben hatte: ein Weinen, vor dem man sich auf der Stelle abwenden wollte, ob zum Himmel, oder zur Erde, oder nirgends wohin, nur sich abwenden; für das man sich, ohne eigene Schuld und auch ohne den Drang, sonst jemand zu beschuldigen, verantwortlich fühlte; das einen zur Verantwortung rief.
Sich von den derart Weinenden abwenden zu wollen, hieß nicht, vor ihnen die Ohren zu schließen, hieß nicht, sich diese Töne nicht, Laut für Laut, einzuprägen und sich von ihnen prägen zu lassen. Hieß nicht, die Leute da, die Nasenbohrer, die Nägelbeißer, die Rülpser von vorher, ihrem Schicksal, oder eher ihrem Nichtschicksal, dem Vergessen, zu überlassen. Oder doch? Oder doch? Das Vergessenwerden, das Überhörtwerden war vielleicht noch das Erträglichste, was den Wimmernden im Leeren da geschehen konnte? Und sie selber wollten es auch so? Nein. Sie wollten nichts, und schon gar nichts von jemandem wie ihm. Sie konnten nichts mehr wollen.
Während das Weinen fort- und fortging, erzählte ihm der Chauffeur, leise, die dazugehörige Geschichte. Vor dem letzten Krieg damals war das Muldendorf von zwei Völkern bewohnt gewesen, und die im Kreis Hockenden da waren Teil der nach dem Krieg Vertriebenen, der, nennen wir sie hier so, Walachen. Zum ersten Mal seit Kriegsende nun waren welche aus dem einstigen Zweitvolk in ihre Gegend zurückgekehrt, wenn auch nur für den Besuch hier, und das erste Mal würde zugleich das letzte sein. Und hier, das war der Platz ihres früheren Friedhofs. Von diesem keine Spur mehr. Oder doch: die paar dunklerfarbigen, auch marmorierten Steinbrocken zwischen den orts- und balkanüblichen, aus der rötlichen Verwitterungserde sich buckelnden weißen Kalkgupfe. Das waren, laut Chauffeur, die einzigen Überreste eines Grabs, auch die einzigen der gesamten Begräbnisstätte auf dem Plateau hoch über dem längst-und-wohl-für-immer-Ein-Volk-Dorf. Die, hm, Ausgesiedelten und nun tatsächlichen Aussiedler hockten im Abstand zu den Grabsteintrümmern, dort, wo nichts war. Da ungefähr, weiter laut Chauffeur, war einer von ihnen seinerzeit im Krieg Zeuge geworden, wie mehrere Angehörige von Vermummten, plötzlich aus dem Unterholz Gebrochenen, umstellt und verschleppt wurden auf Nimmerwiedersehen. (Er, hinter einem entfernten Grabstein, war unentdeckt geblieben.) Es war das ein Festtag des betreffenden Volkes gewesen, zu dem ein Besuch bei den Toten gehörte, denen man zu essen und zu trinken brachte, und mit denen die Lebenden, auf einer besonderen Sitzbank an einem besonderen Eßtisch – auch von denen keine Spur mehr –, vor dem Grab nach Kräften mithielten; solch Toten- oder Ahnenkult war einer der Hauptstränge der zu jener Zeit noch streng befolgten Religion; jede Sippe bewahrte das Gedächtnis der Toten bis lang zurück, und so gab ein Festtag, oder zumindest eine Feststunde bei den Gräbern, den andern; was traditionell aber zugleich Gefahr bedeutete, und gesteigert in Kriegszeiten: Feiertag und Verbrechen, Feiertag und Verrat, Feiertag, Entscheidungsschlacht und Niederlage gehörten »bei uns« zusammen.
Und jetzt warteten die Überlebenden auf dem Ex- oder Rest- oder Rumpf-Friedhof mit Speise und Trank auf. Wie aber das – ohne Grab, zudem für Verschollene, die noch immer nicht für tot erklärt waren und deren Körper, gesetzt, hm, sie seien, hm, wirklich tot, anderswo verwesten, und wohl auch unbegraben? Keine Fragen. Es war, wie es war: Die Überlebenden, die Entkommenen, die Weggereisten, hockten dort, wo, laut dem einen Zeugen, der Vater, die Brüder, die Schwester, der Onkel, die Tanten dichtgedrängt zusammengesessen hatten und einige Momente später, weggezerrt von den Maskierten ins Dickicht, schon nicht mehr.
Ständig ging die Kerze inmitten der »Lebensmittel« aus, ausgeblasen vom Plateauwind, oder von was immer. Sich zu ihnen hocken: bewahre. Sie weinten so laut in die Leerstelle hinein, so vollkommen unverschämt. Nicht ganz so vielleicht das Weinen der Männer, besonders des einen, gar Breitschultrigen, mit der, hm, niedrigen Stirn, der vorher im Bus um sich geblickt hatte wie auf dem Sprung für Mord und Totschlag; ein Weinen kam von ihm, inniger als das eines Kindes, dem, nach noch und noch Geschrei, Gebrüll und Gewinsel um Hilfe, im Bewußtsein der Verlorenheit nichts mehr geblieben war als dieser eine anhaltende sehr hohe Ton, weit höher als der der anderen, ebenso in seiner Leisheit den der anderen, den der Frauen, übersteigend. Es gab keine Hilfe mehr. Und wie zur Bestätigung schoß unter dem Reisig, als einer der Hockenden es für das Aufstellen einer neuen Kerze beiseiteschob, eine Schlange hervor, geweckt aus der Winterstarre und von der sengenden Sonne beweglich gemacht – biß freilich nicht, schnurte bloß so, nach dem Losspringen, weg in das Untergras des Nicht-mehr-Gottesackers, mit einem Rasseln, das von keiner Klapper rührte, sondern von der Schlangenhaut zusammen mit dem Reisig. Und für die Runde im Gras hatte es den Moment der aufspringenden Schlange gar nicht gegeben, oder er zählte für sie nicht; keiner, der irgendwie innehielt. Und für ihn, den Dabeistehenden, galt weiter das Ohren auf! Hör, das Knacken und Knirschen all der steifen schwarzen Lederjacken zusammen mit dem fortdauernden Jammerchor, zusammen mit dem von einem zum andern übergehenden Trauerkanon. Das Blöken von Schafen unten im Dorf und das Blöken eines Milans oben im Himmel.
Als sei nichts gewesen, still zurück, hinab zum Bus. Bei diesem inzwischen eine Menschenmenge, so groß, daß die unmöglich nur von dem Dorf stammen konnte? Doch: so viele, und mehr noch, Abertausende, lebten da, wenn auch die meisten an den üblichen Tagen weder hörbar noch sichtbar. Dieser Tag jetzt war aber kein üblicher, für niemanden, weder für die eine Seite noch für die andere. Ja, im Unterschied zu der Menge beim Aufbruch aus der Enklave gab es zwei Seiten, und die Menge hier stand auf der anderen. Keine böse oder feindselige Menge schien das. Die Militärpolizisten brauchten sie nicht in Schach zu halten. Die Ansammlung da blieb in Distanz ohne eine gezogene Waffe. Völlig ausdruckslos jeder einzelne in ihr, musterte sie so das Häuflein der Busleute. Die, ohne Anstalten, in den Bus zu steigen, gruppierten sich davor, eher locker, und schauten umgekehrt zurück, aber so, als suchten sie unter den tausend Köpfen dieses und jenes altbekannte Gesicht. Und mancher fand das dann auch. Zu erkennen wurde das an einem Leuchten in den Augen, einem seltsamen, jedenfalls nicht freudigen, ohne daß das Leuchten dort auf der anderen Seite irgendwo beantwortet wurde. Allgemeine Wortlosigkeit, bei Auf- und Abschlendern vor dem gelben Bus mit der kyrillischen Aufschrift einerseits, bei fast vollkommener Unbewegtheit, auch der vielen Kinder, andererseits – womöglich nicht einmal ein Wimpernzucken. Geradezu schön erschien diese Menge in ihrer stummen großäugigen Gleichmäßigkeit, auch im Gegensatz zu dem Rucken und Zucken, dem in der Blickfalle Hampeln und Zappeln von uns Besuchern. Und aber dann, wir zurück im Bus, dieser im Losfahren, eine, eine einzige Bewegung in ihr, der Menge, der Überzahl, von einem einzelnen. Einer von uns drinnen, auf seinem Fenstersitz, hatte plötzlich, so als sei nichts, als sei nichts gewesen, als sei nie etwas gewesen, hinausgewinkt. Klar, daß das Winken nicht der ganzen Ansammlung, nicht der Rotte galt – eine solche war das in den Abfahraugenblicken schließlich doch, mitsamt einer einheitlichen Pantomime des Waffenanlegens und -abdrückens, abwechselnd mit einem ebensolchen Kußhändewerfen, unter einem allgemeinen, wie gleichgeschalteten Grinsen –, sondern eben jemand einzelnem. Der Ex-Autor, indem er dem Blick des Winkers, der Winkerin, folgte, fand dann auch heraus, wem. Klar außerdem, daß ein Kind gemeint war? Nein, bei einem einzelnen Alten oder Erwachsenen hätte er sich ebensowenig gewundert. Jedoch das Winken zielte, ja, es zielte, auf ein Kind, ob zufällig oder nicht. Und das Kind, fast versteckt in der Masse, es winkte zurück. Es hatte erkannt, daß auf es abgezielt wurde, auf es allein. Was war das freilich für ein Winken gewesen!
Unser Gastgeber unterbrach sich in jener Nacht auf dem Morawa-Boot bei seinem Erzählen. Langvergangen erschien ihm das Ereignis, und zugleich geschah es jetzt wieder. Und so fiel er von der Vor- und der Mitvergangenheit, nach einer Atempause, in die Gegenwart. Was ist das freilich für ein Winken? Das Kind aus dem anderen, dem »Feindvolk«, reagiert nicht sofort, und dann zunächst nur mit den Augen. Es weiß sich nicht zu fassen. Es schämt sich. Es ist ihm peinlich. Es wird rot. Es möchte wegschauen. Es möchte überhaupt weg. Und es möchte ganz und gar nicht weg. Es möchte der Winkerin im Bus eine Kußhand zuwerfen wie alle die anderen. Es möchte ihr die Zunge herausstrecken, eine Zunge so lang, daß sich dabei sein ganzes Gesicht verzerrt. Für eine zitternde Sekunde ist das nicht bloß möglich, sondern steht unmittelbar bevor, wie aber auch das gerade Gegenteil nicht bloß möglich ist, sonst würde diese Sekunde ja nicht zittern, und es, das Kind dort jenseits der Trennlinie, mit, am ganzen Leib, ohne daß sein Zittern allerdings nach außen dringt und irgendeinem der Umstehenden kenntlich wird.
Ein Zittern ist eines, das auf sein Inneres beschränkt bleibt und da aber umso gewaltiger umgeht, ein Tiefenbeben, bei dem eine Eruption unvermeidlich sein wird. Gleich wird sie geschehen. Und jetzt geschieht sie auch. Und diese Eruption, sie ist sein Zurückwinken, an dem so gar nichts Gewaltiges sichtbar wird. Fast unsichtbar winkt das fremde Kind, auch ganz und gar unscheinbar, nein, das ist nicht das Wort, vielmehr? zage, ja, das ist das Wort. Es hebt zum Winken, anders als die Frau im Bus, nicht den Arm. Es läßt diesen hängen, unten am Leib. Bis an die Knie hängt ihm der Arm, wie üblich bei einem Kind. Und das endliche Antwortwinken hat den Anschein eines bloßen Fingerzuckens, eines kurzen, einmaligen, eines bloßen Reflexes wie bei dem Test Hammer-aufs-Knie, Knie, das dann leicht wegschnellt.
So kleinklein ist das Winken, nein, das ist nicht das Wort, so – verhohlen. Und es ist »tatsächlich«, »wirklich« (siehe oben) ein Winken, kein Reflex. Für einen Reflex ist die Handbewegung, auch wenn das Fingerkrümmen nur ein einziges Mal und als Winzigkeit sich sehen läßt, zu langsam. Nicht automatisch auch bewegt sich die kleine Hand, vielmehr bedächtig, nein, bedachtsam; so langsam wie bedachtsam; kaum wahrnehmbares Sichrunden der Finger, das aber aus dem ganzen Körper kommt. Und der Ex-Autor entschuldigte sich dann bei seinen Zuhörern auf dem Boot für diese »Großaufnahme« – nur so sei die Sekunde zu überliefern gewesen, und solche Überlieferung sei er sich und den anderen schuldig gewesen, vor allem dem Kind, das ihm in der Vorstellung zugehört habe, vielleicht längst schon kein Kind mehr. Oder eigentlich doch noch? Und was hieß da »eigentlich«? – »Wenn es mit rechten Dingen zuginge.«
Zurück auf der Seitenstraße, wo, nach der Hinfahrt in der Leere, eine langgezogene Menge ein starres Spalier stand, samt vereinzelten Stinkefingern und Bras d'honneurs, hinauf zur Magistrale. Über-die-Schulter-Blicke der Businsassen, ein letztes Mal, und noch ein letztes Mal, und noch ein letztes Mal, während der Einzelreisende, statt ihnen gleichzutun, sie zusammen anschaute, im Kreis, denn er hatte ja inzwischen seinen Sitz unter ihnen. Anders als bei Schulbussen, wo, das wußte er aus einer früheren Anschauung, die Schüler, zumindest der kleineren Jahrgänge, wie gemäß einem physikalischen Gesetz sich allesamt hinten im Heckteil scharten, so daß die vordere Bushälfte in der Regel leer blieb, hockten diese Auswanderer – ja, es war, als hockten sie weiterhin, wie früher, lang, lang schien das wieder her, auf dem verschwundenen Friedhof – im Bugteil, nah dem Fahrer, gleichsam einer auf dem andern. Wie erwartet, verfielen sie, einmal auf der breiten Magistrale, in ihre früheren Beschäftigungen oder Haltungen, Zahlentüfteln bei Sudoku. Spucken ins balkankarierte Taschentuch. Löffeln aus einem Blechnapf (der etwas von einem Stahlhelm hatte). Nur waren das, selbst ein Schnarchen, keine bloßen Geräusche mehr, solche und solche, es waren Nachklänge, die, auch wenn sie im zeitlichen Abstand erfolgten, etwas wie einen Zusammenklang hören ließen, einen flüchtigen, vielleicht eine Stunde lang. Und eine andere Gemeinsamkeit zeigte sich dann in ihren Händen, denen, die frei waren. (»Ah, schon wieder Hände!« unterbrach sich der Erzähler.) Diese Hände lagen jeweils auf den Schenkeln oder zwischen den Sitzen, wie etwas Unzugehöriges, etwas, das sich selbständig gemacht hatte, dabei vollkommen still, höchstens mitvibrierend mit dem Bus. Sie waren allesamt mit dem Handteller nach oben gekehrt, aufgebogen zu Schüsseln, leeren, und ihm war es, bewirkt wohl auch durch das Vibrieren, als werde in den Schüsseln etwas gewichtet, und zwar ein Vogel, ein mehr oder weniger kleiner. Lebendgewicht? Totgewicht? Ein Bild und eine Frage, die ihn auf seiner Rundreise begleiten sollten. Ein Hund lief dann, mitten auf der Magistrale, neben dem Bus her, angesprayt, oder war das ein Zufall?, in den ehemaligen Landesfarben. Er rannte und rannte, gab nicht auf, und so wurde er, für eine Strecke, kurzerhand an Bord genommen.
Später die erste größere Siedlung, gleich an der Straße, die in mehreren Windungen da durchführte. Und da auch der erste Steinwurf gegen unseren Bus. Der mußte in den Kehren verlangsamen und bot so ein leichtes Ziel. Zunächst wußte er, der erzählte, gar nicht, daß es ein Stein war, der jäh gegen eins der Fenster prallte. Es hörte und fühlte sich an wie ein heftiger Faustschlag, der nicht nur das Fenster traf, sondern den ganzen Bus. Die Passagiere aber reagierten nicht, auch er nicht. Das Glas, ein spezielles, war nicht zersplittert, bloß eingedellt, mit feinen Rissen, die ausstrahlten von der Delle. Erstmals dann eine Frage: »War das ein Stein?«, und als Antwort ein Nicken, ein kurzes; für die andern schien der Vorfall nichts Ungewohntes. Bei der nächsten Kurve gleich noch ein Stein, und bei der Ausfahrt aus der Siedlung (die früher Malischevo hieß und inzwischen, nach der Neuordnung, Malischeva, so wie überhaupt alle die kurzen O-Enden ersetzt worden waren durch breit ausgemalte und ausgesprochene A's) ein dritter.
Und so ging das auf der Weiterfahrt, durch das neugeordnete Land, von Siedlung zu Siedlung fort, trotz der Geleitschutzwagen vor und hinter dem Bus, ohne daß daraus freilich je ein Steinhagel wurde. Ein jedesmal krachte, knallte oder klirrte nur ein einzelner Stein gegen das Glas und das »Steyr-Diesel« oder-wie-das-hieß-Blech aus dem Nachkriegsösterreich, und vielleicht, vielleicht aber auch nicht, eine Biegung danach, ein weiterer. So oder so fuhr man ab einem gewissen Zeitpunkt oder Steinwurf in einer ständigen Erwartung und Vorwegnahme, die etwas anderes waren als Angst, und doch, so der Erzähler wörtlich, »nicht ganz ohne«. Ein paar Steinwürfe nach dem ersten, und dann noch ein paar Steinwürfe weiter waren die kein dummes Kinderspiel mehr.
Dabei war es, als seien diese Steine jeweils eher klein, jedenfalls keine Brocken. Zwar trafen sie immer, aber die stärkste Wirkung – man konnte das freilich nie im voraus wissen – blieb zuletzt doch eher die jedesmal wieder unerwartete Jähheit des Knalls, selbst bei noch und noch Gefaßtheit. Und lange war von dem einen und dem anderen Werfer draußen dort keine Spur. So wie man, oder allein er?, auch hinausspähte: niemand, vor dem Anprall an das Gehäuse ebenso wie danach. Keinmal kam ein Stein geflogen, wenn man ihn erwartete, im Gedanken Jetzt! und jetzt!, so wie etwa angesichts der sich von Ansiedlung zu Ansiedlung an den Straßenrändern mehrenden Ansammlungen von Jugendlichen, die von der Passage des exterritorialen Busses im voraus benachrichtigt zu sein schienen: nein, keiner von denen bückte sich, bewegte sich auch nur, verzog eine Miene – einzig das geradezu ikonenhaft (ein Ausdruck, den sie sich nicht hätten gefallen lassen) stille, dunkle, großäugige Schauen. Dazu ließ der Fahrer, der, so als sei nichts, das Fenster zu seiner Seite aufgeklappt hatte, inzwischen Musik hinausschallen, eine laute, die freilich, ganz unbalkanisch, wie sie war, ohne Harmonika-Klirren und Kurzrohrtrompeten-Schmettern, niemand provozieren konnte – es waren die weithin hallenden Gitarren des Instrumentalstücks »Apache«, ein Klingen so universell wie nur eines, wobei ihm, dem Einzelpassagier, war, diese Apache-Gitarrenklänge hätten, ganz gleichlautend, auch, damals schon, in demselben Bus wie dem jetzt, seine Schulfahrten begleitet.
Momente der Abwesenheit im Hören dieser Musik, bei Nachlassen und Verschwinden der Erwartung. Und gerade aus solcher Abwesenheit heraus wohl sah er dann den nächsten der Steinewerfer, und in der Folge, da er nun wußte, wie schauen, auch die späteren. Es waren das durch die Reihe Kinder, und in der Regel so kleine, daß die Steine, die sie warfen, auf einmal doch unverhältnismäßig groß wirkten, so kleine auch, daß – hätte es noch etwas zum Verwundern gegeben – es verwunderlich war, wie treffsicher sie ausnahmslos an ihr Werk gingen. Sie hockten im Staub an der Magistrale, schienen zu spielen, und spielten vielleicht auch ernstlich, ein jedes allein, ins Spiel versunken, und offenbar im Unwissen über das Nahen des Busses. Und gleichwohl schleuderten sie dann ansatzlos, aus dem Staub heraus aufschnellend, ihren Stein, ohne daß man den kommen, geschweige denn fliegen sah, und waren fast zugleich wieder in der Hocke bei ihrem Spiel. Hatte das das Geräusch des Motors gemacht? Die gelbe Farbe, aufgenommen aus den Augenwinkeln? Ja, ein Kind nach dem andern merkte auf bei etwas, das ihm in den Augenwinkeln dazwischenkam. Doch dabei handelte es sich eher nicht um das Gelb als um die Schrift graublau auf der gelben Flanke. Sie waren ein jedes zu klein, als daß sie schon lesen hätten können, die landes- oder staatseigene Schrift ebensowenig wie diese fremde, kyrillische. Was sie dafür wußten oder in sich hatten: in der Form dieser Schrift, so ausgebleicht die auch war, verwaschen, die Lettern halb hinein ins Gelb zerlaufen, näherte sich der Feind, und der, so der Reflex noch vor jedem Gedanken oder Entschluß, hatte eins draufzukriegen – schon geschehen.
Der Bus wurde schneller. Keine Musik mehr. Die Dämmerung. Sie würde – man war immer noch im Süden – nicht lange dauern, und es war klar, es drängte nicht nur den Chauffeur, noch vor der völligen Nacht jenseits der Grenze zu sein. Dabei hatte die Beschleunigung nichts von einer Flucht. Die Siedlungen, und mit ihnen die Steinwürfe, lagen hinter uns. Wir fuhren durch ein lichterloses, wie für alle Zeit menschenleeres, nichtendenwollendes Niemandsland. Das Schnellerwerden kam vielmehr von einer Ungeduld und, stärker noch, das erkannte der Erzähler, als er sich vorn neben den Fahrer setzte, aus einem Zorn. Und dort ging ihm auch auf, daß er bei dem ersten Steinwurf, und auch später noch, bis zum Ansichtigwerden der kleinen Kinder, als Werferin, oder Organisatorin, ihm seine unbekannte Feindin durch den Sinn gegeistert war; sie sei ihm auf der Spur, auf den Fersen.
Auch die Geräusche des Busses, des Motors, hörten sich nun zunehmend an als Laute und Ausdrücke dieses Zorns. Es fehlten nur die Worte – sonst war alles da, was eine Zorntirade ausmachte. Der Fahrer ließ seinen Busmotor aufheulen, ließ ihn losbrüllen, dröhnen, kreischen, dröhnen, spucken, mit den Zähnen knirschen, jaulen, falschsingen, dräuen (ja), drohen, und das zusammen rhythmisch, in einem durchgehaltenen Taktgeben, das in eins ging mit dem Zornbeben in seinem Innern und etwas von einem instrumentalen Vorspiel hatte, jetzt wirklich vergleichbar jenen Anfangstönen auf der einen, der einzigen, der dickgeflochtenen Saite der balkanischen Gusla, einem nur scheinbaren Durcheinandergedröhn, in dem aber beim näheren Hinhören die Töne genau auseinandergehalten waren, als einzeln erkennbar, und zugleich doch einer den anderen gebend, eben als Rhythmik. Ein so wilder wie beherrschter, ja spielerischer Zorn scholl aus dem Motor und überdies dem ganzen Bus, die beide dem Chauffeur als seine Ouvertüre-Instrumente dienten, und auch das ebenso rhythmische Auf- und Abblenden der Scheinwerfer, unnotwendig auf der beständig leeren Magistrale, gehörten zu dem Spiel. Gleich würden die Worte, würde die Stimme dazukommen, die nicht unbedingt eine Singstimme sein mußte.
Und so geschah es dann auch. Aber nein, das war jetzt nicht die Stimme eines Guslaspielers, jäh loslegend, aus der Tiefe des Brustkorbs, raumfüllend. Halblaut kamen dem Fahrer die Worte von den Lippen, und sie richteten sich an keine Zuhörerschaft. Hätte der Erzähler sich nicht in einer Vorahnung dicht neben ihn gesetzt, wären sie unverständlich, ja, unvernehmlich geblieben. Keinerlei Rhythmus auch in dem, was er sagte, kein Ineinandergreifen, wozu paßte, daß mit dem Mundaufmachen gleichzeitig das Motorengeräusch sich normalisierte und unauffällig wurde, ebenso wie dann gleichmäßig das Fernlicht aufgeblendet blieb. Trotzdem war es Zorn, der sich aussprach, der bestimmte, wenn auch dem neben ihm noch nie solch zartes, nein, solch kindhaftes Zürnen zu Gehör gebracht worden war. Einmal kam das von den seltsam hohen Tönen, durchweg Kopftönen, in denen der zornige, so im Widerspruch zu seiner Massigkeit, da halblaut vor sich hinredete. Und dann war das eine Art von Zorn, bei dem der zornige Redner, und das war in diesem Fall kein Widerspruch, zugleich mit den Lippen spielte, wie manchmal kleine, sehr kleine Kinder, und die Folge der Lippenlaute unterlegten seine Flüche, Verwünschungen, Schmähungen mit etwas wie einer Melodie.
Der Zorn des Buschauffeurs äußerte sich folgend: »Sie haben uns immer gehaßt. Sie haben alles bekommen, was sie wollten, und hassen uns weiter. Mehr denn je. Blindwütiger denn je. Blinder denn je. Sie haben ihren Staat bekommen. Sind jetzt ein Staatsvolk wie die Litauer, wie die Katalanen, wie die Transnistrier, wie die Cisnilianer, wie die Talkalmücken, wie die Bergslowenen, wie die Donau- und Mekongdeltaautonomen. Sie sind ein Staatsvolk und, o endlich wahrgemachter großer Traum, ein Einvolkstaat und hassen uns Überbleibsel vom Zweitvolk, das kein Staatsvolk ist, hassen uns, als seien wir Reste das Staatsvolk, und nicht sie. Und ihren Haß, den brauchen sie ihren Kindern gar nicht erst ausdrücklich beizubringen. Er überträgt sich einfach so, von Generation zu Generation, von Gen zu Gen, längst jenseits der Blutrachen und der Kriege. Längst ist der Haß gegen uns, wenn er je einen Grund hatte?, nein, er hatte nie einen Grund, ist euer Haß grundlos geworden und hat sich verselbständigt. Er ist euer Lebenselement geworden, und nicht etwa euer Staatsbewußtsein. Ha, Leben. Euer Staat, er dient euch nur dazu, euern Haß auszuleben, im Schutz eurer Staatsgrenzen, Flaggen, die Drohflaggen sind, und Hymnen, die Haßhymnen sind. Euern Haß auf jeden, der nicht euer Staatsangehöriger ist, auf alles, was nicht Staat ist. Keinen Stolz bezieht ihr aus eurem Staat, sondern die Legitimierung und Verewigung eures Hassens. Und insofern seid ihr der Beispielstaat für alle die heutigen Staaten, seid ihr der moderne Staat, der neumoderne. Staat und Haß, das gehört zusammen. Ha, nie und nimmer hätten Eltern und Großeltern, die ihren Kindern den Haß gegen die anderen, uns andere, nicht nur nicht energisch ausgeredet, sondern im Gegenteil auf sie übertragen haben, ein Staat, solch ein Staat werden sollen. Ha, nie und nimmer haben Eltern und Großeltern, Sippenoberhäupter und Clanführer, Politiker und Lehrer, Sportstars und Dichter, die den gerade erst geh- und greiffähig gewordenen Kleinkindern nicht mit geballtester vereinigter Energie das Steinewerf-Gen austreiben, nicht den Steinwerfautomatismus ihnen ausräuchern aus Fleisch wie Blut, ihnen nicht die Haßpochleier wegflüstern aus den Kleinkindohren, bis hinein in die tiefsten Hirnwindungen, wegflüstern mit Engelszungen, ja, mit Engelszungen – nie und nimmer haben sie, habt ihr alle das Recht auf einen Staat. Aber Staat oder Nichtstaat: euer Haß, der höret nimmer auf.«
Hier verstummte der Fahrer. Ende seines halblauten Zornausbruchs. Freilich fuhr er nach einer Pause fort, wenn auch in einem anderen Ton, lauter, fast ein Gesang, eingeleitet von einem Summen, aus dem klar die Anfangstakte von »Apache« herauszuhören waren: »Doch was soll's. Mögen sie meinetwegen jeden ihrer Heuschober zum Staatsheuschober erklären, jeden früheren Feldgrenzstein zum Staatsgrenzstein, jeden kleinen Steineschmeißer zum Staatssymbol. Ich bin staatenlos, und darauf bin ich stolz. Immer war ich staatenlos. Und immer möchte ich staatenlos bleiben. Apache, Apache. Kein Staatsbürgerschaftsnachweis und kein Paß, und meine Hymne nur: Apache, Apache. Kein Reisen lockt mich, und eure freie Welt kann mir gestohlen bleiben. Staatenlose aller Länder, bleibt, wo ihr seid und was ihr seid. Apache, Apache. Ausland, bleib weg von mir. Visum, für gleich welches andre Land, um deinetwillen kein Frühaufstehen und kein Schlangestehen. Apache, Apache. Für alle Zeiten beharren auf meinem Reservat, wo es den Adler zwar gibt, und wie, aber nicht als Wappenvogel. Stolz sein auf mein Reservat, wo beim Umriß eines Eichelhähers in einer Fichte ich nicht denken muß: Ah, unser Staatsvogel. Sich für alle Zeiten begnügen mit meinem Reservat, wo es in der Schule keine Prüfungsfrage gibt, die lautet: Und unsere Staatsblume? Apache, Apache. Bärenkot im Abendrot. Liebe nach Mitternacht. Graublau auf Gelb. Das Bellen der Hunde hindert die Wolken nicht am Ziehen. Alle Wege führen zur Mühle. Besser alleinsein als schlecht zusammensitzen. Der Essig erträgt nur seine eigenen Würmer. Du tanzt für den schlimmsten Affen, wenn es seine Zeit ist. Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn. Mögt ihr leben oder mögt ihr sterben: Hallo, meine Liebe, adieu, meine Liebe.«
Es war längst Abend, als der Bus endlich den Fluß (hatten wir richtig gehört, »Ibar«?, »Abar«?, »Sabar«?, »Samar«?) überquerte, der nach dem Krieg zum Grenz-Fluß geworden war. Es handelte sich um eine Grenze ohne Kontrolle und ohne Schranken, und wenn sie überwacht wurde, so unauffällig, geradezu heimlich, auf beiden Seiten. Trotzdem war das eine Grenze wie nur je eine, und wie noch keine. Was vorher über eine nicht und nicht endende Strecke als ein ausgedehntes Niemandsland gewirkt hatte, das wurde in den paar Momenten auf der Brücke ein geballtes. Die Passagiere, die bei der Steinwurfserie zuvor keine Miene verzogen hatten, duckten sich wie unwillkürlich. Im Wasser, das schnell, aber nicht tief war, unter der weder besonders hohen noch langen Brücke, die mit einem einzigen Gasgeben fast schon überquert war, ragten Rohre heraus in das Dunkel, die nicht unbedingt Ofenrohre oder die von Häckselmaschinen darstellten. Und diesseits und jenseits des Flusses ließen sich im schwachen Licht der spärlichen intakten Grenzstadtlaternen Steinbauten erahnen, an denen das einzig Deutliche ihr Zertrümmert- und Ausgeweidetsein war – mit der Ausnahme freilich des einen und anderen Hauses hüben wie drüben, das nicht allein unversehrt, sondern darüber hinaus wie im Hochglanz, von innen und außen wie festlich, und auch friedlich, beleuchtet stand, umgeben von einem gepflegten, orientalisch-märchenhaft anmutenden Garten: trotz der Jahreszeit blühende Rosen, künstliche Kaskaden in ebensolchen Felsgebirgeminiaturen, Fackeln, die weißsandige Serpentinenwege säumten, und fast meinte man durch das Busgerumpel aus den Villen Schalmeien- und Lautenmusik klingen zu hören.
Wie in einer Gegenbewegung zu dem Sichducken erhoben sich, als Brücke und beiderseitige Niemandsländer zurückgelassen waren, einige der Auswanderer von ihren Sitzen. Das sah aus, als bereiteten sie sich auf das Aussteigen vor, ein endgültiges. Dabei hatten sie noch eine weite Reise vor sich, die Nacht durch, mit einem anderen Fahrer, über mehrere, andersartige Grenzen, bis nach Belgrad, und vielleicht dann mit einem anderen Bus oder mit dem Zug über Novi Sad nach Budapest, oder nach Wien, und der und jener auch nach Kopenhagen, Lyon, Sevilla, Porto, einer vielleicht mit dem Flugzeug nach Kanada, doch hauptsächlich wohl mit Bussen – es gab ja Buslinien, die jeden noch so kleinen Balkanort mit ganz Europa verbanden. Einzig der Bus aus der Enklave Porodin hatte Belgrad zur Endstation.
Es stiegen dann aber vor einem Hotel der durch den Krieg in zwei Teile zerfallenen Stadt alle aus, wenn auch nur für das da vorgesehene Nachtmahl. Wer endgültig ausstieg, das waren allein der Chauffeur, der hier die Rückkehr des Busses am nächsten Nachmittag abwarten würde, und er, der Einzelreisende. Er entschloß sich unvermittelt, die Nacht in dem Hotel zu verbringen, dem einzigen in diesem Teil der Zweivölkerstadt, die eine Grenzstadt war fern von jeder sonstigen, auf Karten eingezeichneten Grenze. Freie Zimmer gab es genug, er war der einzige Hotelgast; der Fahrer würde woanders unterkommen – vielleicht, weil er wirklich keinen Paß hatte, oder keinen vorzeigen wollte? Das Zimmer, unterm Dach, ging auf die Brücke, die kenntlich war fast nur als noch schwärzere Dunkelheit hinten unten in der Stadtdunkelheit. Am hintersten Horizont die Umrisse der Abraumhalde des örtlichen Magnesitwerks, das seit Jahrzehnten still lag. Hier war kein Profit mehr zu machen, nie mehr? Ein Gesteinsbrocken kam ins Rollen und klirrte auf einen anderen. Weithin ließ sich das hören, so ausgestorben wirkte die Grenzstadt.
Er aß an einem Tisch mit den Weiterreisenden zu Abend. Er war von ihnen eingeladen worden. Sie schienen enttäuscht, daß er nicht mit ihnen fuhr. Wir Zuhörer in jener Nacht auf dem Morawaboot nickten dazu, weil wir die Leute verstanden. Wie konnte er sie so ihrem Schicksal überlassen, oder doch wenigstens nicht weiterhin dessen Zeuge sein? Sicher hatten sie doch mit der Zeit gespürt, wer er war, jedenfalls kein ganz Fremder, auch kein Beobachter, oder ein versteckter Reporter, und jedenfalls auch nicht ihr Feind? Wenn sie enttäuscht waren, so zeigten sie ihm das nicht. Sie waren, einer nach dem andern, nur noch gastfreundlich, und nichts sonst mehr. Der Hotelsaal war ihr, der Emigranten, ureigenes Eßzimmer (es gab also doch noch Worte mit »ur-«?), und er sollte sich da als ihrer aller Gast fühlen. Solche Gastfreundlichkeit hatte, ohne daß besonders gefeiert wurde, und nicht bloß nach dem langen Tag miteinander, etwas Festliches. Ein festlicher Zug ging davon aus und um den Tisch, die Tafel, herum, an der man eher still aß und trank, Speisen und Getränke, die von den Aussiedlern eigenhändig aufgetragen wurden, aus Küche und Keller, als seien sie von ihnen höchstpersönlich, als den Wirtsleuten, zubereitet beziehungsweise gekeltert worden. Und als der Bootsherr erzählte, woraus das Grenzstadt-Nachtmahl, ah, lang war das wieder her, im einzelnen bestand, lief uns auf seine »Morawische Nacht« Geladenen, obwohl wir doch gerade von der unbekannten Schönen erlesen bedient worden waren, bei aller herzhaften Gesättigtheit, einem jedem an seinem Tisch, sage und schreibe das Wasser im Mund zusammen, und wir fühlten eine Art Sehnsucht, den gleichen Wein wie die Tischgesellschaft damals zu trinken, mochte der auch in Bälde nicht mehr nach einer Amsel, sondern nach einem Adler heißen.
Er begleitete sie dann noch zu ihrem Bus. Gelb stand der in der täuschend stillen Grenzstadtnacht, unter einem Baum (auch hier war kein Abstellplatz vorgesehen). Der Baum war eine Linde, zu erkennen jetzt im Winter an ihrem geraden Stamm und den besonders regelmäßigen parallelen Senkrechtrissen in der hellen Rinde, und zugleich an dem Blätterwerk, das ungeachtet der Jahreszeit fast vollzählig, nur eben verwelkt, im Baum geblieben war, so als sei diese Linde, lipa, da zu alt und/oder zu schwach, ihr Laub abzuwerfen, oder/und wo sie stand, gebe es keinen Wind. Bis zu diesem Augenblick hatten ihn die Auswanderer ebensowenig gefragt wie er sie. Doch nun im Einsteigen hielt der erste von ihnen auf dem Trittbrett inne, was auch die Nachfolgenden stocken ließ, und sagte, den Kopf über die Schulter wendend, daß die Lederjacke krachte, etwas, das ebenso eine Feststellung sein konnte wie eine Frage: »Du bist ein Advokat(?).« Und schon der nächste, ebenso: »Du warst einmal Bauer(?).« Und ebenso eine Dritte: »Du bist von einer Insel(?).« Und noch eine: »Du bist ein Witwer(?).« Und wieder einer: »Du bist ein Vaterloser(?).« Und dann einer: »Du bist ein Heimatloser(?).« Und dann einer: »Du warst einmal Fußballer(?).« Und einer: »Du hast Geld(?).« Und: »Du bist kein Zeitgemäßer(?).« Und: »Du bist ein Schütze(?).« Und: »Du bist ein Menschenfeind, mein Bruder(?).« Und: »Du bist kein Fremder(?).« Und ganz zuletzt noch: »Du bist ein Unsriger(?).«
In dem abfahrenden Bus hob unvermittelt eine Frau an zu singen. Das war nun keine Highwaymusik mehr wie das »Apache«, auch kein Magistralenlied. Es war der Gesang aus dem tiefen Balkan. Gab es den überhaupt? Ja, zum Beispiel in dieser Stimme jetzt. Töne, so lang ausgehalten, daß die Stimme sich mit der Zeit dann anhörte als ein Instrument und weiter, Ton für Ton, eine Stimme blieb, Stimme und Instrument in einem. Und das vielleicht noch stärker Bezeichnende: nicht die besondere Frau da schien zu singen – kurz zeigte sich noch am Busfenster ihr bei dem so gleichmäßigen Laut- und Lauterwerden, der Mund kaum einen Spalt geöffnet, vollkommen unbewegtes Gesicht –, vielmehr jemand anderer, Dritter, Unsichtbarer, über ihr? unter ihr? neben ihr? hinter ihr? Ja, hinter ihr, weit, weit hinten. Ein eher altes Gesicht hatte die Frau gehabt. Und wie jung war die Stimme.
Er wünschte sich nicht in den Bus zu ihnen; hatte fürs erste überhaupt genug von den Bussen, selbst dem da mit dem Posthorn aus den frühen Jahren. Und trotzdem überkam ihn dann, allein unter dem nächtlichen Baum, den Dieselgeruch noch in der Nase, eine ihm neuartige, ihm nach all der geraumen Zeit seines Erdenwandelns (das war das von ihm gebrauchte Wort) gar nicht vertraute Einsamkeit. Es war ein Schmerz? Nein, es war, obwohl er sich weiter in der Gesellschaft der Auswanderer wußte, ein momentlanges Weh, das Weh der Verlorenheit? Nein, des Ausgestoßenseins. Momentlang? Nein, eine Sekunde lang. Es war jene zitternde Sekunde, die, ob weh oder nicht, mit den anderen zitternden Sekunden das Gefühl für das Dasein zeitigte, oder eben für den Erdenwandel; die erste auf seiner Reise.
Nicht in den Emigrantenbus wünschte er sich, aber doch weg von diesem Balkan, dem Balkan der Grenzstädte ohne dingfeste Grenzen, dem Balkan der tausend unsichtbaren, allesamt bösen und bitterfeindlichen Grenzen von Tal zu Tal, von Dorf zu Dorf, von Bach zu Bach, von Misthaufen zu Misthaufen, dem Balkan der steinschleudernden Kleinkinder, der menschenverachtenden Kußhände, des Knoblauchs, der die Vampire nur noch blutdürstiger machte. Weg wünschte er sich von diesem finsteren Balkan in die Lichterkettenmetropolen mit den sonor hupenden Taxis zwischen den Wolkenkratzerschluchten, mit den Brücken, auf denen jedes Liebespaar etwas wie ein Friedensgruß war, mit den Flüssen, wo auf den Schiffen Hochzeiten, Kindstaufen, Geschäftsabschlüsse gefeiert wurden, oder wo man bloß so, für nichts und wieder nichts, feierte, seinetwegen auch auf einem Schiff mit nachgemachten Schaufelrädern wie bei einem Raddampfer auf dem Mississippi mit dem Namen »Louisiana Queen«. Und zugleich wünschte er sich weg von diesem Balkan in den anderen Balkan, wie er ihn in den Vorjahren immer wieder erlebt hatte, so tief wie keine Gegend auf Erden, zum Beispiel auf seinem Wohnboot an der Morawa, wünschte sich, Schluß mit der Reise, zurück zu seiner »Morawischen Nacht«.
Zunächst freilich wünschte er sich nur ins Bett. Ein abenteuerlicher Tag war das gewesen. Natürlich (selten, daß ihm so ein Wort entschlüpfte) bedurfte er abenteuerlicher Tage. Möge ein jeder Tag abenteuerlich sein. Doch solche Abenteuer wie an dem ersten der Rundreise wollte er nicht. Es war ihm auch schwergefallen, uns davon zu erzählen. Schon in seiner Autoren-, seiner Aufschreibzeit begeisterten ihn und brachten ihn auf den Weg einzig andere Abenteuer. Was für welche? Andere. Nur solche entsprachen ihm. Nur für solche drängte es ihn nach einer Sprache. Und so kümmerte es ihn, nach all den eher widrigen Abenteuern, nicht, daß das Leintuch des Betts zerrissen war, in das einzige Handtuch Löcher gebrannt waren, der Heizkörper kalt blieb. Es war ihm sogar recht. Nach dem Tag gerade hieß das Frieden. Er öffnete fürs Zubettgehen weitmöglichst das Dachfenster und schaute in die Richtung der unsichtbaren Flußbrücke. Er meinte, das Wasser rauschen zu hören, und von den halbversenkten Panzerschießrohren kam, wie von einem Sturzbach, der über einen Felsblock schießt, ein Trommeln und ein Klingen. O Sprache. Wie das blühte, in den Gärten der Abwesenden und der Toten – wie das blühte und blühte. Wenn er, Gott gäbe es, von seiner Reise zurückfände, würde er über diese verlassene Brücke gehen, um den Kreis allmählich zu schließen. Die Brücke sollte sein Rückkehrpunkt sein.
(Auch das traf dann nicht ein …) Die Inka sind nicht ausgestorben. Sursum corda!
Die letzten Sätze sprach unser Gastgeber in jener Nacht mehr und mehr zu sich selbst, murmelte in sich hinein. Es schien, wir anderen hörten für ihn auf zu existieren. Das Bewußtsein der Gefahr brauchte er zum Erzählen? Aber auch das jetzt war eine Gefahr, eine von der ihm so nötigen grundverschiedene. Wie seit je war er bedroht, das Bewußtsein von den anderen zu verlieren, und das hieß, statt zu uns her schwingendes Reden, Alleingemurmel und schließlich in Stummheit Verfallen, auch vor sich selber. Er höchstselbst war, ob als Autor oder sonstwer, seine größte Gefahr. Wer von uns würde ihn dazu bringen, innezuhalten, so wie ein Hochseiltänzer, der ins Schwanken gerät, innehalten muß vor dem nächsten Schritt? Und wie ihn dazu bringen? Indem wir eine Bedrohung, eine äußere, erfänden? Ihm eine jener Gefahren vorgaukelten, die ihn aus sich herausschubsten oder auch bloß -kitzelten?