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Zu der Zeit, da diese Geschichte spielt, waren aus einer anderen Zeit noch ein paar übrig, die der Idee oder dem Hirngespinst von einem zusammenhängenden großen Land auf dem Balkan, in einem anderen Europa, nachhingen. Sie hätten zwar wissen können, und wußten es wohl auch, daß es an dem, was geschehen, oder geplant, in Gang gesetzt und durchgeführt worden war, nichts zu rütteln gab. Aber trotzdem hielten diese paar Menschen, oder Leutchen, eigen- oder starrsinnig daran fest, es sei noch dies und das am Geschehenen zurechtzurücken, vor allem unter dem Vorzeichen, der einstige große Zusammenhang sei vielleicht doch weniger ein Zwang als eine mit der Zeit und mit den Generationen gewachsene Zusammengehörigkeit gewesen. Eine Zeitlang hatte der eine oder andere von ihnen sich sogar eingebildet, die Geschichte – die Historie, oder wie das hieß – würde ihm dereinst recht geben. Inzwischen freilich glaubten sie – bis auf einen oder zwei unverbesserlich Geschichtsgläubige unter ihnen – längst nicht mehr an das angeblich entscheidende und letzte Wort der Geschichte, beziehungsweise der Historiker. Oder wenn, dann mußte das entscheidende Wort nicht unbedingt das richtige sein, und die das letzte Wort hatten, sprachen allein deswegen nicht notwendig wahr. War es nicht schon verdächtig, das letzte Wort zu haben? Das letzte Wort, durfte es das überhaupt geben?
Derartige Spitzfindigkeiten schoben die paar vor, um sich dann und wann zusammenzufinden und ein allerletztes Mal, und darauf noch ein allerallerletztes Mal, undsofort, über das große Land und was mit dem geschehen war, miteinander zu reden. Anfangs waren sie noch eine geradezu stattliche Gruppe gewesen. Mittlerweile kamen nur noch ganz wenige. Der Grund war aber nicht ein Der-Sache-müde-Werden, oder gar ein Umdenken und Einsichtgewinnen – keiner, kein einziger von denen würde je aus freien Stücken von seinen sogenannten Überzeugungen ablassen, seine Vorstellungen auch nur um ein Jota revidieren –, der Grund war ein anderer: das Hinsterben der Gruppenmitglieder, und zwar ein fast auffallend häufiges. Nicht alt wurden in der Regel diese Leute. Dem einen blieb auf offener Straße das Herz stehen. Der andere durchbrach betrunken mit dem Auto ein Brückengeländer, das, von den Bomben zerstört, samt der Brücke gerade wieder neuaufgebaut worden war. Der dritte war in den Bergen verschollen. Auffällig gewaltsam auch manche Tode: Bei einer Frau fing das Kleid – aus Kunstfaser, wie konnte es bei einer Balkanesin anders sein? – an einer brennenden Kerze in einer Kirche, natürlich einer orthodoxen, Feuer, und sie brannte im Nu lichterloh, nicht mehr zu retten. Einer kam ums Leben durch einen lächerlichen kleinen Steinwurf, nicht einmal einen Stein, einen Kiesel, der ihn freilich genau an der Stelle der Schläfe traf, wo … Einer ertrank beim Schwimmen in dem Grenzfluß mit dem berühmten immergrünen Wasser. Nicht wenige Selbstmorde auch, versteht sich. Und wenn sie auch nicht alle gewaltsam umkamen, so doch durch die Reihe jäh; ihr Sterben geschah plötzlich: Herz, Gehirnschlag, Halsschlagader, Ersticken in einem Asthmaanfall … Und die nicht, hast du das gesehen, augenblicks tot umfielen, wurden von einem Moment zum andern wahnsinnig, gleichsam im Kopfumdrehen, genauso, wie es ihnen von allen Seiten ununterbrochen vorhergesagt worden war, und der unter ihnen noch nicht verrückt war, der würde es unausbleiblich bald werden, je lui donne au plus un ou deux ans; in einem, höchstens in zwei Jahren. Ihrer aller Gestörtsein hatte im übrigen damit begonnen, daß sie sich einbildeten, von den Geheimdiensten weltweit überwacht zu werden, nicht bloß vom CIA, sondern auch von Al-Qaida, von der Mossad, undsofort, und die Briefe, die sie einander zukommen ließen, waren zwecks Geheimhaltung dermaßen zugeklebt, daß die Adressaten selber sie oft gar nicht zu öffnen vermochten.
Seine zeitweiligen Zusammenkünfte nannte das Fähnlein (ohne Fahne) der, je nachdem, paar Aufrechten oder Schiefgewickelten »Konferenzen«, frei nach den »Konferenzen«, den geheimen, der Weltkriegspartisanen in den Wäldern, und es war nicht so sicher, ob diese Namengebung wirklich bloß Teil seines Geselligkeitsspiels war. Denn wie einst die Partisanen wurde ein jeder an seinem Standort verschlüsselt für eine bestimmte Stunde an einen bestimmten Ort bestellt, legte ein jeder den Weg möglichst bei Nacht und Nebel zurück, verkleidet als Holzfäller, als Nachtpilger, Sucher nach einem verirrten Haustier, oder werweißwas, näherte sich dem Konferenzort einzeln, auf Schleichwegen, trug einen Decknamen, wie »Desanka«, »Varvarin«, »Kravica«, »Kolubara«, »Ohrid«. Und auch der Ort selber hatte jeweils zumindest den Anschein eines Verstecks, ein Erdkeller, eine Felshöhle, eine Ruine; und einmal hatten sie sich sogar getroffen auf dem Boden einer ausgetrockneten Zisterne, wohl in Gedanken an die Widerstandskämpfer, die in solchen Schächten vorzeiten (oder erst unlängst?) ihre Untergrundsender installiert hatten.
Diese Konferenz jetzt sollte wirklich die allerallerallerletzte sein – was sie dann auch wurde. Und sie fand statt in einer Doline, einer kreisrunden tiefen Grube, im Karst. Wie, noch einmal eine Doline in deiner Geschichte? Noch einmal der Karst? Ja, aber das war in unserem eigenen Land, und außerdem war die Doline ein Feld, ein Garten, eine Hürde, ein Stall, ein Sportplatz, ein Tanzboden, ein Backofen, eine Rotkreuzstelle, ein Fischteich. So groß war sie? So groß. Und so ausgebaut und bearbeitet, eine Delana Dolina? Ja, eine Doline in dem Karst oberhalb von Triest, von dem jeder Karst der Welt, auch der von Yucatan und den Minas Geráis seinen Namen hat – die Mutter aller Karste. Und trotzdem geheim dort in der Delana Dolina? Trotzdem geheim.
Schon lange war der Wanderer nicht mehr im Karst gewesen. Ohne die »Konferenz« wäre er wohl auch kaum mehr hingegangen; der Ort hatte seine Zeit gehabt. Und zudem hatte er sich entschieden verändert. Zwar war noch alles da, was seine Einmaligkeit ausmachte: der Aufwind unten vom Meer, der unvergleichlich sanft über die Hochfläche fächelte; der große Himmel; das Himmelslicht, weitergegeben auf dem Erdboden von dem löchrigen Karstkalkstein, in Gestalt der dörflichen Anwesen, der in die Wildnis führenden Feldmauern oder der aus dem Untergrund gewitterten Felsenäcker; die Stille, wie sie nur wirksam werden konnte in einer ausgegrenzten Sphäre; die weit auseinanderliegenden Dörfer, einander den Blicken entzogen, nur zu erkennen in den Nächten, und dann auch nur, wenn eine Wolkendecke, eine niedrige, über dem Plateau lag, an dem Widerschein, einem in der Regel runden, da und dort unten an den Wolken; und eben die Dolinen. Aber die Stille des Karstes war nicht mehr das allein ihn Bestimmende, und die von dem umgebenden Land wie auch vom Meer ausgegrenzte Sphäre galt höchstens noch für Momente, unter vielen anderen, entgegengesetzten. Mag sein, daß der Karst auch schon vorher ein Gebiet ziemlich mitten in Europa gewesen war. Inzwischen freilich war er erklärtermaßen ein Bestandteil von etwas, zuerst eines Gefühls, dann einer Vorstellung, dann einer Idee, zuguterletzt einer Norm, die »Mitteleuropa« hieß, nicht wahr? Diese Norm war im Lauf der Zeit die herrschende geworden – na ja, mehr oder weniger, doch eher mehr als weniger –, und dieser herrschenden Norm gemäß gehörte der Karst ohne irgendwelche Sonderstellung wie das ihn umgebende ganze Land zur Einheit Mitteleuropa, oder wozu denn sonst? Vielleicht gar zum gottverdammten Balkan, wie nach einer früher vorherrschenden Norm? Die neueingeführte Norm »Mitteleuropa« war im Karst jedenfalls kaum weniger mächtig; allgegenwärtig allein schon in der Sprache. So viel »Mitte« war in der Gegend nie gewesen. Ein »Mittelfest« folgte auf das andere. Der kleine Hauptort des Karstes wurde umbenannt in, übersetzt, »Mittel-Stadt«, und eine Reihe von Dörfern ließen sich umtaufen in, übersetzt, »Mitteldorf Eins«, »Mitteldorf Zwei«, undsofort, sowie viele der alten Feldwege umgewandelt waren in ausgeschilderte Wanderwege, Teil des »Großen Mitteleuropäischen Wanderwegnetzes vom Böhmerwald bis nach Dubrovnik«, als »Mittelweg Rot«, »Mittelweg Blau«, »Mittelweg Schwarzweiß« undsoweiter, eingezeichnet in die »alleingültige, auf den neuesten Stand gebrachte Wanderwegkarte Mitteleuropas«.
Und so waren auch die Dolinen des Karstes zu »mitteleuropäischen Naturdenkmälern« erklärt worden, und die größte und schönste unter ihnen, eben die Delana Dolina,, nah einem der Mitteldörfer, hatte den Status eines Nationalheiligtums Mitteleuropas bekommen, eines »Heiligtums der Mitteleuropäischen Nation«. Nicht allein dort unten, in der ausgedehnten Erdschüssel – im ganzen Karst und seinem Umland war alles Balkanische oder auch nur von ferne daran Erinnernde verfemt, von den Speisen über die Kleidung bis zur Musik (die besonders, nur mitteleuropäische Weisen und Instrumente hatten zu erklingen, am besten Wiener Walzer, und die Radiostationen von Mitteldorf zu Mitteldorf gaben tagtäglich den Ton vor). In der »Mitteldoline«, wie die Delana Dolina nun offiziell hieß, herrschte die Mitteleuroparegelung jedoch besonders strikt. Undenkbar da das Erschallen einer Balkanklarinette oder -trompete, das Braten eines Lamms am Spieß (von einem Spanferkel zu schweigen), das Verzehren von rohen Zwiebeln. Tag und Nacht fanden auf dem Grund und an den Hängen der Karstschüssel Mittelfestivals, feierliche Mittelmessen, Lesungen mitteleuropäischer Autoren, Turniere mitteleuropäischer Mannschaften, Mitteleuropa-Kongresse statt.
Der »Konferenz« schadete das allerdings nicht. Gerade in dem ständigen Jahrmarkttrubel, mit einander jagenden öffentlichen Veranstaltungen, konnten die paar ihrer Heimlichkeit leben, von niemandem beobachtet (was nicht so ganz stimmte). Sie waren ohnedies nur noch drei – drei Versprengte, die schon im Moment des Wiedersehens unten in einem stillen Winkel, den gab es noch, der Doline ihre letzte Konferenz und den Abschied für immer vorausahnten. So erzählten sie dann, während sie am Ufer des künstlichen Teichs saßen – die Dolinen waren ja, wie der ganze Karst, sonst wasserdurchlässig – und hinauf zu dem runden Schüsselhorizont schauten, einander vor allem von denen, die nicht mehr hatten kommen können. Ein Mann und eine Frau, er aus Frankreich, sie aus Spanien, waren das Paradepaar der Gruppe gewesen. Sie hatten sich kennengelernt während der balkanischen Entzweiungskriege und waren so zu einem Paar geworden, beide auch über Jahre Helfer der betroffenen Völker, welche alle, so sagten sie immer wieder mit einer Stimme, »mit nackten Füßen über Dornen gegangen sind«. Nach dem, was diese zwei miteinander erlebt hatten, konnten sie doch nur ewig zusammenbleiben? Und nun wurde erzählt: die Frau hatte den Mann verlassen, es war ihr vorgekommen, es nur noch mit einem »kalten Kadaver« zu tun zu haben, worauf der Mann ihr nach sei und sie und sich erschoß. Ein anderer hatte sich eingebildet, der Hauptschuldige am Zerschlagen oder Auseinanderfallen des großen Landes sei ein buddhistischer Kleinstaat auf einer Südseeinsel gewesen, und so begab er sich dorthin und sprengte sich und das einstöckige mehr Verwaltungs- als Regierungsgebäude in einem Selbstmordattentat in die Luft. Und noch einer bewegte sich monatelang kreuz und quer durch das Ex-Land, von einer der Heldenstatuen aus dem Zweiten Weltkrieg zur nächsten – es waren nicht mehr gar viele übrig –, und forderte sie lauthals auf, das Land wieder herzustellen, bis er eines Nachts, als er im Park des Kalemegdan von Belgrad zwischen den Heroenskulpturen hin- und herlief, und vor ihnen auf die Knie fiel, sie umarmte und bestürmte, abtransportiert wurde in eine geschlossene Anstalt, aus welcher jemals herauszukommen kein Schimmer einer Hoffnung für ihn bestand. Das alles war längst zu lesen gewesen in den Zeitungen, aber keiner der drei informierte sich anscheinend aus Zeitungen?
Wer waren die beiden anderen, mit ihm, dem Ex-Autor, die Überbleibsel der Minderheit der Minderheit? Der eine war der ehemalige Justizminister eines nicht nur sehr großen, sondern auch übermächtigen Landes. Er war nun ein alter Mann und längst außer Dienst. Seine Hauptbeschäftigung war es, durch die Welt zu reisen und die Sache der Verlierer zu vertreten, in einer Mission, die er sich selber gegeben hatte. Ohne vor den Gerichten, den nationalen wie den internationalen, zu plädieren – nicht einmal als Zeuge wurde er zugelassen –, sah er sich als der Anwalt, der er in seinen Anfängen gewesen war, und trat im Umkreis der Tribunale, fast unbeachtet oder höchstens belächelt, auch als solcher auf. Er dachte sich in der Nachfolge des Strafverteidigers Abraham Lincoln, und schaute diesem auch mehr und mehr ähnlich, vor allem mit den buschigen Augenbrauen und den tief in den Höhlen liegenden Augen. Aber war Lincoln auch so schmächtig gewesen? Und sicher hatte der weniger klapprig gewirkt, schon weil er lang nicht so alt geworden war. Möglich, daß auch Lincoln so dünne Beine gehabt hatte – nur hatten die nicht in Jeans gesteckt, solchen, mit denen der frühere Minister unermüdlich von Kontinent zu Kontinent reiste. Nie hatte der Wanderer ihn anders gesehen als in Stiefeln, einem großkarierten Hemd und den immergleichen Blue Jeans. Auf der Straße konnte man ihn für einen altgewordenen Vagabunden halten. Dazu paßte, daß er immer allein daherkam und sein Gepäck jeweils nicht mehr als ein Bündel war. Auch auf den »Konferenzen« oder als Mitglied einer »Delegation« wirkte er eher allein, die anderen leicht von ihm abgerückt. Und entschieden allein war er, sowie er seine Auftritte und Wortmeldungen hinter sich gebracht hatte: allein am Ende des Tisches, allein auf der obersten Stufe vor dem Tribunalseingang, allein auch am folgenden Morgen beim Frühstück im abgelegenen Hotel, eher einer Absteige in der Regel: Während seine Mitstreiter vom Vortag – wenn es welche gab – noch weiter zusammensteckten, saß er, fast unsichtbar, im düstersten und hintersten Winkel des Frühstückraums, stillvergessen für sich. Alle Flüge und Bahnfahrten buchte er sich selber, wusch sich unterwegs auch eigenhändig die Wäsche, stopfte und nähte. Dabei war dieser lonesome hobo stetig zugänglich. Wurde er angesprochen, auch unvermittelt, war er die Geistesgegenwart in Person, wie einer, der auf alles gefaßt ist und jede Möglichkeit still vorausbedacht hat. Daß die geltende Welt ihn nicht mehr ernst nahm, schien ihn nicht zu bekümmern. So war es eben, und so war es recht, so sollte es auch sein. Er würde jedenfalls ein anderes Recht verkörpert haben, würde als ein anderer Bürger seines Landes aufgetreten sein, würde eine andere Sprache gesprochen haben, vor allem in einem anderen Tonfall, nicht aus der vollen Kehle, wie die meisten seiner Mitbürger, und nicht mit Lauten, als sollte damit Silbe um Silbe ein Insekt zerdrückt werden. Und seine Stimme kam für einen, der als ein Anwalt auftrat, in der Tat, im Einklang mit seinem Körper, zwar klar vernehmlich, aber zugleich wie verträumt, auch vertraulich daher, als redete er, selbst vor mehreren, zu einem allein, ein hoher Singsang, ein zittriger. Doch das täuschte, wie auch seine Gebrechlichkeit täuschte. Er, dieser mit der Zeit und mit den Zeiten stillgewordene Amerikaner, würde nicht so bald sterben, und auch nicht jäh. Oder doch? Und nie und nimmer würde er, durfte er, verrückt werden. Oder?
Die andere war eine ehemalige Motorradrennfahrerin aus Japan, die dann die slawischen Sprachen studiert hatte und jetzt Professorin für slawische Literaturen an einer Provinzuniversität im japanischen Süden war. Ein Fußballstar aus dem balkanischen Ex-Land, Gastspieler in Japan, war die Liebe ihres Lebens gewesen, und so war sie auch zu ihrem Studium gekommen. Nach dem Tod des Geliebten flog sie mindestens einmal im Jahr nach Europa und durchquerte den Balkan, mit Bus, Eisenbahn, auch zu Fuß. Sie war noch jung, aber Motorrad fuhr sie nicht mehr, und schon gar keine Rennen. Kaum vorstellbar, daß sie jemals eine dieser schweren breiten Maschinen gelenkt hatte, eine Kawasaki oder Honda: So winzig, beinahe zwergenhaft war die Japanerin, und so dünn. Viel zu leicht auch mußte sie sein und gewesen sein für die Stahlwucht unter ihr, obwohl das wiederum eine Täuschung sein konnte: Bei allen Versuchen, sie im Spiel vom Boden zu lüpfen – ihr Federanschein verleitete die Mitkonferenzler dazu –, war sie bei der ersten Annäherung jeweils zurückgewichen, geradezu mit einem Entsetzenslaut. Sie ließ sich nämlich von niemandem berühren, geschweige denn umarmen, auch nicht zur Begrüßung oder zum Abschied. Mehr als bloß ein Ausweichen war das dann jeweils – ein Wegzucken vorm andern. Dafür schrieb sie in der Abwesenheit Briefe voll Zutraulichkeit und Dankesbezeugungen, daß sie als Teilnehmerin der Konferenzen aufgenommen worden war, mit noch und noch Zutaten, Blütenblättern aus ihrem Garten und, vor allem, den Photos, die sie auf dem Balkan geschossen hatte, deren Gegenstand immer ein Ort, von ihr ausfindig gemacht nach der Lektüre wieder eines da im Ex-Land spielenden Buches – und kein beschriebener oder erzählter Ort, dem sie, »wie eben eine Asiatin«, nicht auf die Spur in der Realität kam, und sei er noch so versteckt und abgelegen, oder von den Autoren verschlüsselt oder bis zur Kaumerkennbarkeit verwandelt worden. Ivo Andrić, Miloš Crnjanski, Miroslaw Krleža, Ivan Cankar, würden sie noch leben, wären beim Anblick der japanischen Photos von den balkanesischen Orten, die sie beim Schreiben im Sinn gehabt hatten, aus dem Staunen nicht herausgekommen. Ob sie nicht doch eines Tages wieder auf ein Motorrad steigen und sich überhaupt als jemand ganz anderer entpuppen würde?
So saßen sie zu dritt, als Übriggebliebene, in ihrem stillen Winkel auf dem Boden der Dolinenschüssel und tränkten zum Gedächtnis der Entschwundenen nach Balkansitte die Erde mit ein paar Tropfen aus ihren Gläsern, die mitgebrachten Speisen, darunter auch die eine und andere verpönte, auf dem Tuch in ihrer Mitte. Von denen, die, unterwegs zu einem Spiel oder Fest, vorbeikamen, seltsamerweise kein scheeler Blick, auch nicht zur angeblich so unerwünschten urbalkanischen Musik, die einer der drei aus einem Miniaturrecorder ertönen ließ – eher ein kurzes Innehalten, Sichbesinnen, Geschmunzel, selbst vom Ordnungshüter der Mitteldoline, der seine Runde machte.
Anders seltsam die Fische in dem künstlichen Dolinentümpel, in einem Wasser so ruhig und durchsichtig, als sei es gefroren. War es denn so kalt auf dem Boden der Doline? Aber als die drei sich nun erhoben, wehte sie von oben ein Sommerwind an, mit dem auch ein warmer Schwall von Heu- und Ährengeruch daherkam, wie eben im hohen Sommer. Ah, Sommer! Und ein Baum wuchs zu ihren Häupten, an dessen unterstem Ast eine sowohl lateinisch als auch kyrillisch beschriftete Schiffsglocke hing, verrostet, und ebenso verrostet, starr, auch der Klöppel.
War das doch nicht das letzte Mal hier im Karst? War das vielleicht immer noch das alte Karstweltreich, unabhängig und frei wie kein Weltreich sonst, verbündet mit niemandem als mit sich selbst? Würden sie sich doch noch dereinst alle wiedersehen, die Wahnsinnigen nicht mehr wahnsinnig, und die Toten nicht mehr so tot? Und wie auf ein Zeichen bliesen die drei Übriggebliebenen aus Leibeskräften den an seine Halterung gerosteten Klöppel an – ohne ihn freilich zum Schwingen oder gar zum Klingen zu bringen, auch nicht der Ehedem-Autor, dem man doch einmal den epischen Atem nachgesagt hatte … Aber sie würden es zumindest versucht haben. Und als sie sich zuletzt, nach einem gemeinsamen Versuch, von der Glocke abwendeten, hörten sie in ihrem Rücken doch noch etwas wie einen Klang, eher ein klägliches Bimmeln, oder ein bloßes Rascheln, wohl nur in der Einbildung? Nur?