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Das Symposium über Lärm und Geräusche sollte in einem Kongreßzentrum draußen in der spanischen Steppe stattfinden, am Fuß des Rundhügels, auf dem in der Vorrömerzeit Numancia gestanden hatte. Im Umkreis keine Siedlung sonst, nur ein paar längst aufgegebene Gehöfte. Die Straße zu dem Zentrum war eine bloße Jeeppiste. Von einem »Zentrum« dann keine Spur. Eher glich das Gebäude einem kleineren Rundhügel am Fuße des großen Rundhügels, sozusagen dessen Kind, auch in seiner Mischung aus Fels-, Flechten- und Sandfarbe. Die Bauweise schien in erster Linie als eine Art Tarnung gedacht, ähnlich vielleicht wie bei militärischen Anlagen, die, besonders von oben, aus der Vogel- oder sonst einer Perspektive, Bestandteile der Landschaft darstellen sollten – und zeigte sich bei näherem Hinschauen doch recht anders: das Baumaterial, Stück für Stück das Gegenteil einer Attrappe, die Steine nicht bemalte Teerpappe, sondern ein Granit so fest wie nur je einer auf der Meseta; die Rauchabzüge keine bloßen Ritzen wie etwa bei einem vorgetäuschten Köhlerhaufen, und die zahlreichen, unregelmäßigen Lücken in dem Rundhügel allesamt dick verglast – die Architektur zielte offensichtlich auf Dauer, und wenn auf einen Ernstfall, so auf einen anderen als den eines Krieges. Überraschung dann beim Betreten: die Stein- und Glaskuppel, mit den Fundamenten im Steppenboden, überwölbte eins der Gehöfte von früher, das weitläufigste in der Gemarke, wobei dessen Vielfalt der von Funktion zu Funktion verschiedenen Baueinheiten, Haupthaus, Gesindehaus, Scheunen, Ställe, Korral, wie ihre Anordnung und sogar die ursprüngliche Gestalt, womöglich auch das Material, im großen und ganzen beibehalten worden waren.

Als der ehemalige Autor dort ankam, war das ein dunkler, klarer Tag, von dem er sich wünschte, daß alle die weiteren Tage seiner Rundreise so blieben. Wie war er da hingekommen? Mit einem Mietjeep. Und hatte er seinen kleinen Koffer immer noch dabei? Ja, und außerdem war der auf einer Seite mit Riemen bestückt, so daß er auch als Rucksack verwendbar war. Und hatte er vorher ein Flugzeug genommen? Nein, diese Frage des ewigen Zwischenträgers unter uns beantwortete er nicht mehr. Winterlich war das Licht um die beiden Rundhügel von Numancia, und so wünschte er sich wohl dazu noch ein Schneien? Nein, der Schnee hatte ihn im Leben schon oft genug begleitet und geleitet, Dank sei ihm, und, das versprach er unserem Zwischenträger in jener Erzählnacht auf der Morawa, diesmal würde es bis zum Ende der Begebenheiten nicht schneien, keine einzige Flocke würde fallen.

»Symposion«? Von einem solchen, Platons Gastmahl hin oder her, zu hören, machte uns zunächst eher unlustig. Unter einem Symposion, da stellten wir uns, wie sagte man, eher so etwas wie ein »Roundtable« vor, wo Kapazitäten, Koryphäen, Experten oder weißgottwelche Rollenspieler aus aller Herren Ländern in Anzug und Krawatte, jeder mit einem Ehrenzeichen am Revers, je winziger, desto ehrenvoller, die Knöpfe für die Simultanübersetzung im Ohr, eingebunkert irgendwo im Irgendwo und Nirgendwo, bewacht von irgendwelchen Spezialeinheiten ebenfalls aus aller Herren Ländern, an einem mehr oder weniger runden Tisch postiert waren und, sagen wir, drei Tage lang der Welt, urbi et orbi, ein Beispiel gaben, man wußte nur nicht für was, und unsereinem den Weg wiesen, wenn man nur wüßte wohin, und außerdem wollte doch jeder von uns, jedenfalls von uns auf dem nächtlichen Boot, seinen eigenen Weg gehen, siehe die kleinen, in so verschiedenen Winkeln zueinanderstehenden Tische im Salon, an denen jeweils nur einer saß, und ein jeder, zumindest leicht, woandershin gewandt.

Aber der Bootsherr, indem er weitererzählte, belehrte uns bald eines anderen. Die dort am Fuße des Rundhügels von Numancia sich im Zeichen des Lärms zusammensetzten, das waren, wenn vielleicht auch Experten, so vor allem jedoch Opfer. Und sooft diese Opfer sich zu Wort meldeten, sprachen sie nicht von etwas Überstandenem, etwas, das hinter ihnen lag. Es waren von dem Lärm, von dem Tumult, dem Getöse, das dabei keineswegs nur Kriegslärm sein mußte, bleibend Geschädigte; es waren Dauerbehinderte. Ein stillerer Ort als der für das Symposion jetzt schien kaum vorstellbar. Ihre fortgesetzten Beschwernisse und vor allem Wirrnisse waren, wie der Gesprächsleiter, der offenbar einzige Unbeschädigte, Gesundgebliebene unter ihnen, ständig sagte, »phantomatisch«, aber darum, so die ebenso ständige Antwort der Betroffenen, »nicht weniger aktuell«. Und er, der Ex-Autor, was sagte er? Was war sein Beitrag? Er sagte nichts, sprach während des ganzen Symposiums, zumindest an der Tafel, kein einziges Wort, war nur als Zuhörer gekommen. Wie das: Hatte er eingangs nicht angegeben, man habe ihn eingeladen als Teilnehmer? Widersprach er sich jetzt nicht? Und wenn schon, so seine Antwort, und er werde im Lauf der Nacht so frei sein, sich vielleicht noch öfter zu widersprechen.

Er war einer der Hörer, der wenigen, der einzige von weiter weg. Die zwei, drei anderen – von denen am Schluß ein einziger übrigblieb – kamen, jeweils bloß für den Tag, aus der Provinzhauptstadt unten im tief in die Steppe eingeschnittenen Flußtal, bleibend berühmt durch die von Antonio Machado bedichteten Pappeln und Nachtigallen, und zwischenzeitlich auch durch die Fußballmannschaft des FC Numancia. Und wer hatte ihn, wenn er schon nicht als Teilnehmer geladen war, auf die Tagung aufmerksam gemacht? Eben einer der zwei, drei aus dieser Stadt, »nennen wir auch sie ›Numancia‹«, ein Dichter, »noch so einer«, den der Ehemalige von sehr viel früher kannte, als er dort in der Stadt an seiner Prosa saß. Lang, lang war das her.

Symposion? Seltsame Tafelrunde, die drei Tage und drei Nächte währte. (»Währen«, solche Wörter unterliefen ihm, der schon lange fern der aktuellen Sprache lebte.) In die Metropolen hatte es ihn doch gezogen, weg vom ländlichen Balkan. Und jetzt ein womöglich noch größeres Abseits, irgendwo, frei nach einem Ortsnamenpaar einstmals bei ihm daheim, zwischen »Innerer« und »Äußerer Einöde«. Nein: Indem er der Runde zuhörte, wurde er, jeden Tag mehr, Teil einer Metropole, wenn je einer. Das kam weniger daher, daß die Sprecher aus ganz Europa angereist waren. Ein Zentrum, ohne Kongreß, bildeten sie für ihn aus einem anderen Grund. Und außerdem stammten längst nicht alle von ihnen aus Haupt- oder Großstädten. Einer war ein »Schafhirt«, oder stellte sich jedenfalls so vor. Ein anderer bezeichnete sich als Wandermusikant, ein dritter als ehemaliger Kartäusermönch. Der eine, der aus Amerika gekommen war – der einzige aus einem anderen Kontinent –, präsentierte sich als Indianer aus einem Reservat; ob der Navajos oder der Apachen, konnte oder wollte unser Gastgeber nicht sagen.

Der Eindruck einer Metropole dort am Fuß des weltvergessenen Rundhügels von Numancia entstand eher durch die gemeinsamen, einander einmal ergänzenden, einmal widersprechenden Probleme, Unglücks- wie auch Glücksfälle und Abenteuer mit dem Lärm, den Geräuschen, den Tönen, der Stille, von denen die Teilnehmer der Tafelrunde nacheinander und mehr und mehr auch durcheinander berichteten. Der, äußerlich betrachtet, wohl abenteuerlichste Fall war der eines Vorstadtbewohners, der auf einen seiner »Lärmnachbarn«, wie er die nannte, mit der Eisenstange losgegangen war (»ich hätte gut und gern auch auf sieben bis siebzehn andere losgehen können, es sollten obrigkeitlich Lärmscheine ausgestellt werden, wie Waffenscheine«), und den man dafür auf ein Jahr in eine schalldichte Einzelzelle gesperrt hatte. Aber von solcherart Abenteuer wollten der Ex-Autor und, wie er meinte, wir anderen mit ihm nicht ausführlich hören, und schon gar keine Nachbarngeschichten, zumal es kaum wo mehr Nachbarn gab und selbst das Wort, in seiner ersten Bedeutung, außer Gebrauch geraten war.

Das Gemeinsame an den Berichten: Der Lärm, der Krach, das Getöse im Inland und der Lärm im Ausland – da war inzwischen kein Unterschied mehr. Und das galt sowohl für den Pegel als auch für etwas, das die Runde genauso berichtenswert fand, und zwar die Tatsache, daß sie, sie alle im Kreis, außerhalb ihrer Herkunftsländer, im Ausland also, nicht anders lärmempfindlich, lärmkrank, wahnsinnig vor Lärm, totschlagbereit vor Lärm geworden waren. Für den von In- wie von Ausländern gleichermaßen und in gleicher Höhe erzeugten Lärmpegel fanden sie dabei noch eine annähernd gemeinsame Erklärung: Dadurch daß es ja fast nirgends ein Ausland mehr gab und entsprechend keine Grenzen, führten die ehemaligen Ausländer, wo auch immer sie auftraten und außerdem beinah nur noch in Gruppen der Mehrzahl, sich jenseits der früheren Grenzen auf wie bei sich zuhause, nein, in der Regel so, wie sie sich zuhause nur zu allen unheiligen Zeiten aufführten – das mit dem von In- wie von Ausländern gleichermaßen erzeugten Lärm stimmte also nicht ganz. Ah, die Zeiten, als die Italiener, selbst in Gruppen, so still wie aufmerksam durch die fremden Städte gezogen waren, und wenn man sie sprechen hörte: welch zarte Melodie. Ah, die Zeiten, da die Spanier … so wundersam zögernd und gewissenhaft versucht hatten, sich in der und der fremden Sprache zurechtzufinden. Ah, die Zeiten, da die Asiaten … in den fremden Metros noch nicht so lachsackhaft losgelacht oder sich wenigstens beim Lachen die Hand vor den Mund gehalten hatten.

Keine gemeinsame Erklärung dagegen wurde gefunden für die Tatsache, daß einem selber der Lärm woanders als in der eigenen Umgebung, in der Fremde, wo man doch zu Besuch war, zu Besuch sein durfte, gleich hart zusetzte wie daheim. Daß man losschreien und ihn, in einer portugiesischen Bar oder in einem schottischen Pub oder in einem tschechischen Bierwirtshaus, sich verbitten wollte. Daß man jenseits der ehemaligen Grenzen, nichts als ein Gast dort, den erstbesten behelmten Aufheulchampion in der Vorstellung genauso von seinem Fahrzeug ballerte wie den gleichen, denselben bei sich zuhause. Der eine erklärte diese innere Geräuschabwehr da wie dort wieder mit der da wie dort unterschiedslos gewordenen Lautstärke: auch für sie, die sozusagen Leidtragenden, galt kein Ausland, galten keine Grenzen oder Schwellen mehr. Der andere: Nein, der Inland- oder Heimatlärm habe ihn mit der Zeit so krank gemacht, daß seine Ohren selbst im entferntesten Winkel der Erde dort nicht als die eines Reisenden, eines Gasts, eines Eingeladenen reagierten, sondern, unheilbar, als die eines Kranken. Und wieder ein anderer: Nein, krank sei er, seien sie alle hier schon von vorneherein gewesen, seelisch krank, vielleicht schon geboren mit einer Mangelkrankheit der Seele, einer rätselhaften, bislang unerforschten – und erst infolge dieser Krankheit sei der Lärm für ihn, für sie zu solch einer Plage geworden, oder es würden die vormals harmlosesten Geräusche als Lärmattacke empfunden – siehe im übrigen die Neugeborenen aller Länder, wie sie, seit wann wohl?, zusammenführen und sich verkrampften schon, wenn ihnen der Schnuller zu Boden fiele.

Einig waren sie sich wieder darin, daß, warum auch immer, der zarteste Laut tumultartig über einen herfallen konnte, und daß selbst die Stille zeitweise zu einem Getöse schwoll, vor dem man sich in einen leibhaftigen Krach flüchten wollte. So wie bestimmte Bilder einen nicht freiließen, auch wenn man, in der Zeit und im Raum, längst weit weg von ihnen war, so tat auch ein Lärm, den man als einen bösen und feindlichen erlebt hatte, nach seinem Verstummen in der Außenwelt im Innern weiter und weiter. Man realisierte die Stille nicht mehr. Das taglange Sirren sirrte während der Nacht in den Träumen weiter. Das Schrillen von Metall auf Metall verfolgte einen in die Wüste. »Das Rumpeln, Kreischen, Knallen, Trillern, Gellen höret nie mehr auf«, sang der, in seinen eigenen Worten, »absolut gehörgeschädigte« Wandermusikant beim Abschiedsfest am Abend des dritten Tages, »der Lärm frißt meine Liebe auf«.

Nicht bloß zeitweise lärmkrank waren sie, die von der Tafelrunde, sondern beständig; endgültig. Und wie äußerte sich des weiteren ihre Krankheit? Einer zum Beispiel empfand schon die zarteste Musik als böswilligen Lärm und hielt sich bei den ersten Mozart- und Schubert-Takten die Ohren zu, was er damit erklärte, daß gerade diese Töne vor noch nicht gar langem Teil einer Angriffsstrategie gegen sein Stammland gewesen seien: alle die innigen Sonaten und Lieder seien eingesetzt worden nicht etwa für den Nachklang der Stille – was mehr vermöge Musik zu bewirken? –, sondern um die bei ihm angestammte Musik bloßzustellen als Unkultur, und bloßzustellen darüber hinaus auch sein Land; seitdem gehe ihm gleichwelches Innige, dem er früher doch angehangen habe, schon im Auftakt zum Auftakt, noch bevor es sich so recht hören ließe, durch Mark und Bein, und man könne ihn damit jagen. Ein anderer fuhr zusammen bei dem leisesten Windstoß. Noch ein anderer warf sich in Deckung, wenn einer seiner Mantelknöpfe gegen eine Türklinke klickte. Und wieder einer warf den Kopf herum beim Knarrgeräusch seines eigenen Schuhs. Weit weg gellte ein Fasan, giekste ein Bleßhuhn, und man hörte sich aus dem Weg geklingelt von einem Querfeldeinradfahrer, oder ein Unbekannter knipste sich gleich neben einem bedrohlich die Fingernägel ab. Ein Angelauswerfen hörte man als das Angeblufftwerden von einem Köter. Aus dem Rauschen eines Gebirgsbachs drang statt der einstigen Märchenstimme das Geplapper und Geschnatter der weltweiten Fernsehconférencen. Ein kleiner Bleistift fiel – so liebes Geräusch einst –, und man fuhr zusammen, und sogar beim Fall, nein, Aufprall der weichsten Weintraube. Der ehemalige Kartäusermönch berichtete, das Schlurfen der anderen Schweigemönche habe ihn auf Selbstmordgedanken gebracht. Ein Häherschrei, und es rotzte ein »Jogger«. Was einmal aufhorchen ließ wie nichts sonst, alle die heimlichen Geräusche wie das Auftreffen eines Blatts auf eine Wasserlache, das Knistern der Weizenähren, das Platzen des Springkrauts, ließ jetzt zusammenzucken.

Allgemein betrachtet, wurde dann klar, daß der Grundzug der Geräuschkrankheit eine Art Raumverlust war. Das Raumgefühl kam durcheinander. Was unvermittelt fern sich hören ließ, rückte auf den Leib. Leibesinnere Geräusche bedrohten einen von außen. Ein Dröhnen tief unter der Straßendecke erscholl oben aus dem Zenit. Ein Helikopter surrte auf am Horizont, und man schlug nach einer Wespe. Das konnte so weit gehen, daß man beim Knurren des eigenen Magens einen Schritt zurückwich. Der Indianer hätte sich während der drei Tage, sollte man meinen, eingewöhnen können in die Geräuschwelt des anderen Kontinents – und sah, hörte sich, auf seinen Gängen hinaus in die hiesige, europäische Steppe bei jedem Aufgluckern einer Quelle, eines Rinnsals im Gras zurückversetzt zu dem Geglucker aus den Brandyflaschen seiner Stammesbrüder, und sooft er bei seinen Gehöftrundgängen an das allgegenwärtige Dekor, die Ketten in den ehemaligen Ställen und Scheunen, im früheren Korral stieß – das ließ sich kaum vermeiden –, klirrte wieder und wieder die Kette durch die Luft, mit der sein leiblicher Bruder da-dort auf ihn losgetorkelt war.

Wer war schuld an ihrem Kranksein? Sie selber, auch da wurden sie sich dann einig, trugen keine Schuld. Ihnen allen war doch einmal gemeinsam gewesen, daß ihr Aufnehmen des Weltgeschehens vordringlich durch Hören geschah: »Aufhorchen – hören – sich einhören«: so der ehemalige Wandermusiker. Der lärmwirre Schafhirt, pastor, hatte schon als Kind alles liegen und stehen lassen, um an den Waldrand zu laufen, sich dort still hinzusetzen und dem Bäumerauschen zu lauschen, Stunde um Stunde – jedes Spiel und jedes Buch hätte er dafür gegeben, würde er immer noch geben –, wäre nicht selbst das Blätterrauschen in seinen Ohren inzwischen etwas Böses geworden. »Ich war von Kopf bis Fuß auf Hören eingestellt«, sang der Wandermusikant. Und der entkuttete Kartäusermönch respondierte: »Daß ich von kleinauf und von grundauf auf das Hören aus war, das heißt, daß meine Seele gesund war. Ach, gib mir ein liebes Geräusch, und so wird meine Seele wieder gesund.«

Niemand und nichts war schuld an ihrem Zustand: auch darüber einigten sie sich (obwohl der eine oder der andere zunächst Schuldige suchte, etwa die, schien es zumindest, große Masse der Lärmunempfindlichen, derer, die taub für den Krach waren, »die wahren Kranken«, »die von Anfang an Kranken, die ohne Bewußtsein von ihrer Krankheit uns andere krank machen«). Wenn keine Schuld, so doch Verantwortlichkeit. Dazu meinte einer aus der Runde, Lärm und Gepolter habe es zwar seit jeher gegeben, aber das zunehmend, und weiterhin zunehmend, als böse, ja, als zerstörerisch Erlebte sei mittlerweile die Jähheit der Weltgeräusche, ihre Überfallsartigkeit. So viele der heutigen Dinge seien gleichsam Lärmminen, die von einem Moment zum nächsten loskrachen könnten. Was etwa einmal das Ausrutschen der Kreide auf der Schultafel im Gehör ausgelöst habe, oder ein Fingernagel auf einer Fensterscheibe, das könne jetzt längst gleichwas besorgen. »Es lauert ein Lärm in allen Dingen«, sang dazu der Wandermusikant. »Es flüstert der Asphalt, es lärmt der Teppich. Es flüstert das Liebespaar, es lärmen die Kopfhörer. Es lispelt am Busento, es kracht am Himalaya.«

Bemerkenswert war ihm, dem Zuhörer, daß die Runde das durchweg in einem fast heiteren Tonfall vortrug, nicht lautstark, aber auch nicht extra leise. Die Stimmen blieben unauffällig. Während der Berichte war von der Geräuschekrankheit nichts zu spüren – bis auf die Augenblicke allerdings, da sich der kongreßzentrumseigene Gesprächsleiter einmischte: Beim Ertönen seiner hörbar geschulten, sonoren, weichen und wie beruhigenwollenden Stimme krümmten sich sämtliche Teilnehmer nicht ganz unmerklich zusammen, und Gesicht für Gesicht verlor seine Linie. Nicht daß sie sich die Ohren zuhielten. Dafür aber sah man ihre Handknöchel weiß werden im Versuch der Selbstbeherrschung. Nicht wenigen tropfte ebenso der Schweiß von der Stirn. Nein, das war nicht insgeheim eine Belustigung. Die Stimme des Conferenciers wirkte als Folter. Es war ein Schmerz, der Schweiß hervorrief – beinah wäre ihm in jener Nacht auf der Morawa ein »Sage und schreibe« herausgerutscht –, ein Schmerzschweiß.

Anders bemerkenswert, daß die Gesprächsrunde am Fuß des Hügels von Numancia, das wurde ihm mit den Tagen dann klar, weniger unter dem Lärm und Gepolter litt, als unter den Geräuschen, die früher einmal zusammengedacht worden waren mit Friedlichkeit, mit Begütigung, mit Heilkraft, mit Brusterweiterung. Was sie in der Kindheit und auch noch lange danach eigens hören gingen und wobei sie sich, so scheinbar abseits das auch war, mitten im Weltgeschehen wußten, das vertrugen sie nicht mehr: das Rieseln des Wassers, das Rauschen des Windes und des Regens, das Knistern des fallenden Schnees in den Winterbüschen. Selbst die in der Stille aus ihren Erdlöchern zirpenden Grillen erlebten sie als eine Attacke der allgegenwärtigen feindseligen Jähheit (oder erlebten das Zirpen, harmloser, als Knarren der eigenen Knie), ebenso wie das einem üblichen Gehör längst nicht mehr wahrnehmbare Flappen von Schmetterlingsflügeln jetzt am rechten Ohr, jetzt am linken. Allein schon Wörter wie »Rieseln«, »Rauschen«, »Sausen«, »Rascheln«, und dergleichen bereiteten ihnen, einem jeden in seiner Sprache, »seelische Beschwerden«, und schon gar jenes »Säuseln«, aus dem vorzeiten, nachdem weder aus Donner noch aus Sturmtosen etwas herauszuhören gewesen war, angeblich die Stimme Gottes gesprochen hatte. Nicht bloß besonders seelenlos waren alle die einmal doch so zarten Geräusche auf die Kranken, sondern sie wirkten, statt wie früher lindernd, aktiv entseelend. Das Säuseln, ein solches und ein solches, es schnürte die Brust ab und verstärkte das Leiden, und anstelle der Heimlichkeit beim Aufschwirren eines Vogels oder beim Surren eines Fahrraddynamos allein auf der Landstraße in der Nacht: Unheimlichkeit. »Ah, alle die Geräusche der Heimlichkeit, wo sind sie geblieben?«

Der ehemalige Schweigemönch fragte das, und er war es auch in der Runde, der wohl am meisten redete. Er hatte das Kartäuserkloster verlassen, weil er das Schweigen, das eigene und das der anderen, das gemeinsame Schweigen, nicht mehr ertrug. »Einmal war dort eine Fabrik der Stille gewesen, hatten dort die Bauten des Schweigens gestanden. Aber mit den Jahren wurde es ein falsches Schweigen, die falsche Stille. Wir hätten einander ja nicht unbedingt ständig in die Augen schauen sollen. Aber ich nahm mit der Zeit die neben mir in den Nachbarklausen oder draußen in den Fluren überhaupt nicht mehr wahr. Und wenn, dann als Hustende, als Gebetbankrücker, eben als Dahinschlurfer. Unsere Große Stille war ein Schwindel. Statt uns zu sammeln, hat sie uns, in meinen Ohren dann jedenfalls, entzweit. Statt mir zur Einkehr zu verhelfen, fand in ihr zuletzt nur noch ein herzloses Ohrenspitzen statt. Wir gaben dort der Welt draußen kein Beispiel. Mehr und mehr hätte ich jeden Maschinenlärm und jedes musikpochende vorbeiteufelnde Auto unserem pompösen, weder Gott noch sonst wem gefälligen Aneinandervorbeischweigen vorgezogen. Und wißt ihr, wo ich, in meiner Not, zeitweise doch der anderen, der immer noch ersehnten Stille, wie soll ich es sagen? teilhaftig geworden bin? Nein, weniger in der Küche, oder beim Brotbacken, oder im klösterlichen Gemüsegarten als, wie soll ich es sagen? auf dem stillen Ort, in den Klostertoiletten. Dort habe ich, nach dem Gottesdienst mit ewigen gregorianischen Gesängen, die mir schon zu beiden Ohren herausgekommen sind, regelmäßig aufgeatmet, und nur dort habe ich etwas von dem Veni, Creator Spiritus! gespürt. Ich freute mich jeweils auf die Woche, da ich Abortdienst hatte, und ich hätte nichts dagegen gehabt, bis zu meinem Ende sozusagen der Abortmönch zu sein. Das Rauschen dort war das alte Rauschen, so wie das Rieseln das Rieseln, und die Stille dort wahrhaft eine Große Stille. Hat mein Gehör mich zum Menschenfeind gemacht? Oder zum Weltliebhaber?«

An dem Abschiedsabend luden die Geräusch-und-Lärm-Referenten auch die zwei, drei Hörer an ihre Tafel, freilich nicht zum Mitreden. Am Ende des letzten Tages sollte nur noch getafelt werden. Um die Speisen und Getränke hatte sich die in der Zwischenzeit eingespielte Runde selber gekümmert; der Gesprächsleiter hatte sich erübrigt und saß, seiner Rolle ledig und damit gar nicht unzufrieden, stumm mit dabei. Und wieder bemerkenswert für den einen Dazugeladenen und späteren Erzähler: wie diese Krachkranken den eigenen Krach, den sie beim Kochen und Auftischen veranstalteten, nicht nur zu dulden, sondern auch zu genießen schienen. Je lauter es zuging, desto fröhlicher wurden sie. Das Quietschen eines Messers beim Aufschneiden eines Weinkartons: laß es noch einmal quietschen. Je raumfüllender ein Maschinengeheul, desto stärker der Glanz in den Augen. Markerschütternd das Geräusch, als die Elektrosäge beim Zerlegen des gebratenen Lamms auf die Knochen traf: recht so. So beschwingt sie auch lärmten: etwas wie Musik war dabei keinmal herauszuhören. Jeder schlug Krach allein für sich – antwortete nicht etwa dem Krach des anderen. Zur Musik, und sei es noch so bedrängender, fehlte es an einem gemeinsamen Rhythmus. Und außerdem wären all den kleinen und größeren zeitgenössischen Maschinen, mit denen sie umsprangen, anders vielleicht als bei den Maschinen vor einem Jahrhundert, den Lokomotiven, den Dampfhämmern undsoweiter, beim besten Willen kein Beat oder Drive oder Wummern, oder wie auch immer man das nennen sollte, zu entlocken. Gleichwohl: eine Zeitlang schienen sie alle geeint in einem wie heimatlichen Lärm, in einer Art Lebenslärm. Lärmheimat gegen die Totenstille? Bruder Lärm? Den brüderlichen Lärm, den gab es.

Das Krachschlagen war nur von kurzer Dauer. Im Lauf des Nachtmahls, wo anfangs noch die Zungen geschnalzt und die Gläser geklungen hatten, kam eine Stille auf, in der kaum mehr ein Schlürfen oder Schmatzen, geschweige denn – schon dem Indianer zuliebe – ein Gluckern sich vernehmen ließ. Es war, schien dem Hörer und mehr noch dem schwermütigen Dichter aus Nueva Numancia an seiner Seite, eine schwermütige Stille. Jeder der Tafelrunde würde am folgenden Tag, und ein jeder einzeln, zurückkehren müssen in eine lebensfeindliche Geräuschwelt, aus der es kein Entkommen gäbe. Sie würden heimkehren für ein langsames Zugrundegehen oder, wenn schon, für einen plötzlichen Amoklauf. Der Lärm hatte ein System, und war ein System, ein längst weltumspannendes, und die Inseln der Stille, da und dort, ob in Europa oder sonst wo, war nichts als Propaganda, oder ein Kaufangebot, eine Ware, oder ein Anreiz für einen Reiseprospekt. Und das Lärmsystem war unzerstörbar, und die einzig noch mögliche Gegengewalt gegen seine übermächtige Gewalt war eben das Amoklaufen, das »aus guten Gründen« überall in der Welt »in Blüte« war, nur daß alle die Amokläufer jeweils auf die Falschen losgingen – die »Richtigen« ließen sich nicht blicken, oder es gab sie überhaupt nicht, jedenfalls nicht in Fleisch und Blut. Nur solange sie gemeinsam aßen und tranken, waren sie in einer, wenn auch zittrigen, Sicherheit.

Am Ende des Nachtmahls stieg wie aus dem Grunde der gemeinsamen stummen, geballten Schwermut, fern vom Amok, noch etwas Widerständisches auf, und machte sich Luft, worauf dann, eins nach dem andern, die Zeichen für ein Fest wurden, wenn dieses auch das eines Abschieds für immer war. Es begann damit, daß der Wandermusikant, oder wer immer, mit dem Messer gegen sein Glas schlug, vielleicht gar nicht absichtlich. Niemand erwartete eine Rede. Kein zusätzliches Verstummen in der ohnehin stummen Runde. Im Gegenteil: andere Töne und Klänge gaben zuerst sporadisch, dann in einer Folge, einer zunehmend beschleunigten, mit der Zeit auch synkopierten, gleichsam eine Antwort. Das führte schließlich dazu, daß einer, sagen wir, der Ex-Mönch, der ohnehin wie unwillkürlich aufgestanden war, in der Tat zu einer Rede ansetzte, die dann, sagen wir, von dem Schafhirten, aufgenommen und fortgeführt wurde, und so weiter, bis zuletzt ein jeder kurz das Wort ergriffen hatte, jeweils so im Einklang mit dem Vorredner, daß es bald nicht mehr zählte, wer da gerade sprach.

Und diese gemeinsame Rede der Geräuschkrankenrunde, wobei dann auch der eine oder andere Gasthörer mittat, ging ungefähr so: »Ich glaube nicht an den Urknall. Hätte es ihn gegeben, so würde ich von ihm träumen. Wohl aber glaube ich an das Urgeräusch. Denn ich habe es geträumt. Nein, das ist gelogen. Denn geträumt habe ich die Urgeräusche in der Mehrzahl, jetzt das, und dann das. Ich habe sie nicht nur geträumt, sondern auch gehört am hellichten Tag, und wacher war ich vielleicht nie. Und gehört habe ich die Urgeräusche als Stimme. Ja, das Flappen eines Schmetterlingsflügels, auch wenn es inzwischen nichts mehr ist: Es hat mich einmal eingestimmt, es war einmal, immerhin. Oder, ja doch, das Klatschen dazumal jenes einen Tautropfens, Klatschen, das zugleich an der Hörgrenze geschah, und dann, im Abstand, ich einmal darauf eingestimmt, noch so ein Tropfen, und in der Folge, im selben großen Abstand, noch so einer auftreffend, sagen wir, auf ein Holzscheit, auf die Kiesel in der Traufe, auf das Gehsteigpflaster, immer auf dieselbe Stelle, bis ich die Tropfen des Taus als ein Ticken hörte, ein regelmäßiges, einer unerhörten Uhr, die zugleich im inneren Ohr stimmhaft wurde. Und auf ähnliche Weise, damals zumindest, das Fensterlädenöffnen morgens im Umkreis als noch solche Urgeräusche. Ebenso das Vorbeiknattern und -rattern, dicht auf dicht, der Morgenzüge, der Morgenbusse. Ebenso die Torschreie aus der Ferne. Ebenso die Lust- oder Sonstwieschreie in den Nebenzimmern. Und natürlich die leibhaftigen Stimmen als Urgeräusche: Die Stimme meiner sterbenden Schwester im Telefon. Die Stimme der verlassenen Kinder in der Nacht (und auch bei Tage). Die Stimme der aus einem tiefen Schlaf geweckten Frau, wovon meine Liebe auflebte. Die Kleinkinderstimmen der im Schlaf redenden Greise. Urgeräusche, das hieß früher: Nachklänge, die für immer im Ohr bleiben würden – das versprachen sie wenigstens. Im Ohr? Nein, im Herzen, wo sie ursprünglich auch erklungen waren, entsprechend dem Urgeräusch noch vor allen Urgeräuschen – also doch die Einzahl! –, jener Stimme im Traum, die mich seinerzeit geweckt hat, wie ich weder vorher noch später je geweckt worden bin. Warst du es, der mich gerufen hat? Nein. Und du? Auch nicht. Aber es war doch ein Ruf. Sogar ein Raunen, das inzwischen, als Wort schon, verpönte, hörte ich zeitweise als solch eine Stimme, als eines der Urgeräusche, und desgleichen auch ein gewisses Wispern. Und ein gewisses Hämmern? Ja, das auch. Und das eine oder andere Dröhnen, Röhren, Brausen, Schrillen, Trommeln? Wie denn nicht – solange auf diese Weise etwas vonstatten ging, fabriziert wurde, weitergebracht, weiterbefördert wurde, und nicht die Geräusche vor allem um der Geräusche willen in Gang gesetzt wurden, ohne Frucht, ohne Produkt – in Gang gesetzt und auf der Stelle im Leeren laufen gelassen von Milliarden dabei vollkommen unschuldiger Lärmteufel, jeder zweite Hinterhof und Kleingarten erfüllt von einem Geheul und Getöse, gegen das selbst die stärksten Lärmschutzmauern nichts ausrichteten, im Vergleich mit denen der Werkkrach in den größten Fabrikshallen sich als Labsal, aus einer Oase der Ruhe, anhörte. Lärmteufel ihr, statt mit Bocksfüßen mit Stahlkappen an den Sohlen, und keine Ohren, die euch aus euerm Freizeitoverall spitzen, keine Spur von irgendwelchen Ohren. Ah, das eine Geräusch, der eine Ton, der alle die bösen stillte, indem er sie einschwingen ließe in sich, sie in sich einverwandelte, so daß sie hinter ihm daherzögen als eine Karawanenmusik. Ah, die Zeit, da mein Gehör ein Spielautomatengeräusch in den Gesang eines Pirols verwandeln konnte: Ah, die Zeit des verwandelnden Hörens. Nur daß der Fall längst wohl eher der umgekehrte ist: Der Schrei eines Eichelhähers ahmt, scheint es, das Zerreißen einer Alufolie nach. Aus dem Ruf einer Elster höre ich das Schluckauf meines betrunkenen Vaters heraus, und aus einem Amselträllern sein betretenes Gepfeife einen Tag später. Beim Spatzentschilpen greife ich zu meinem Telefon, oder ist es der Spatz, der mein Telefon nachmacht?, und das Falkenschreien, ahmt es das Trillern einer Schiedsrichterpfeife nach, oder bin ich es, der …? Flügelschlagen? Falltüraufstoßen. Und außerdem gibt es, vielleicht seit je, Geräusche, die keinerlei Urgeräusche werden verwandeln können – mit denen nie und nimmer etwas anzufangen sein wird. Ein Turnier kann dagegen? Unmöglich. Der Ferne Klang? Das Ferne Grollen. Wenn ein Turnierkampf, dann Lärm gegen Lärm, gegen ihren Lärm mit einem anderen, einem guten Lärm. Ja, den Lärm mit dem Lärm bekämpfen. Aber was wäre der? Und wie? Und wo? Die Muschel ans Ohr gehalten, und statt des angeblichen Meeresrauschens der Pfeifton im Schädelinnern. Einen anderen täglichen Lärm gib uns heute, und morgen. In dem gängigen Lärm habe ich die Seele fast verloren. Verderblich ja vor allem am Lärm, daß ich wider meine bessere Ahnung gezwungen bin, die Lärmer auf den Lärm zu reduzieren … Ein einziger lieber Laut, und meine Seele wird wieder gesund. Heimlichkeit: zeig mir den Ort, wo du verborgen bist.«

Am Morgen des folgenden Tages der allgemeine Aufbruch von Numancia. Aber längst nicht alle aus der Tafelrunde machten sich auf den Rückweg. Einige hatten offenbar über Nacht beschlossen, zusammenzubleiben und, in der Regel als Paar, in eine dritte, unbekannte Richtung zu ziehen – wenn es die überhaupt gab. Auch der Rundreisende und der ortsansässige Dichter taten sich fürs erste zusammen. Freilich rührten sie sich nicht von der Stelle, sondern behielten ihre Zimmer in dem Einödzentrum. (Der Zwischenfrager auf dem Boot: »War es denn gut geheizt? War noch was übrig zum Essen und Trinken? Was hat das Zimmer gekostet?«)

Jetzt erst, allein mit ihm, nahm er den alten Bekannten allmählich wahr, wozu auch beitrug, daß die beiden taglang miteinander durch die Steppe wanderten, eine Art Rundgang, bei gegen Abend sich verengenden Spiralen, deren letzte sie in Serpentinen hinaufführte zur Kuppe, eingenommen von dem vorzeitlichen Numancia – die kargen Spuren davon unten im Museum von Neu-Numancia. Der Dichter – um dieses Wort nicht ständig verwenden zu müssen, nannte ihn der Erzähler in jener Nacht auf der Morawa »Juan Lagunas« – hatte in dem Vierteljahrhundert seit ihrer Begegnung in der Provinzhauptstadt sein Aussehen vollkommen beibehalten. Aber das war nicht, und war es auch damals nicht gewesen, das Aussehen eines Lebenden, jedenfalls nicht das eines sozusagen üblichen Lebenden oder Sterblichen. Es war, als habe er all die Zeit eingeschlossen in einen Glassarg verbracht, und das Jünglingshafte an ihm, schon damals in einer beständigen Scheintotenstarre, sei konserviert worden, samt der Bleichheit der, nein, nicht »pergamentenen« Haut (von dieser gleich später). Starr selbst, bis auf rare, kaum auszumachende Winzigmomente, auch das seit der Zeit tief im vergangenen Jahrhundert ganz unverändert, die Augen, schwarze, wie wimpern- und auch liderlose Glaskugeln, ein Schwarz ohne jemals einen Glanz oder ein Aufleuchten, ein Glas von einer Art, als würde sich darin nie etwas spiegeln können.

Dabei wirkte er nach wie vor beispiellos gegenwärtig, und wie niemand anderer von den Begegnungen des Reisenden in Erwartung, in Erwartung eines Gegenübers. Und wenn ihm so eines, wie jetzt wieder, vor die Augen kam, in der geradezu fordernden Erwartung eines ausschließlich auf ihn, Juan Lagunas, bezogenen Rede-und-Antwortstehens. Und wortspielerisch, oft nah am Sentenziösen, wurde er, wenn er selber sprach, wie etwa in dem Satz, welchen er einem von der Tafelrunde mit auf den Weg gegeben hatte: »Es ist eine Zeit für die Stille, und es ist eine Zeit für den Lärm« – bei unbewegten Lippen allerdings unter den starren schwarzen Augen, so als komme diese Stimme aus dem Bauch einer Mumie, nein, aus keinem Bauch, aus keinem irgendwie Inneren, und aber ebenso aus keiner Luft – die gleiche stimmlose Stimme wie vor fünfundzwanzig und mehr Jahren.

Damals war Juan Lagunas dem Noch-Autor, für die Wochen dessen Sitzens an einem anderen Buch, der einzige Umgang in Nueva Numancia gewesen. Der kaum erwachsene Dichter, einen Packen selbstgedruckter und -verlegter Broschüren unter dem Arm – auch das mit den Broschüren war beim alten geblieben hatte ihn auf offener Straße gestellt, und vor diesen Augen, von diesem Augenblick an, kam kein Ausweichen mehr in Frage, nicht für die folgende Stunde wenigstens, und im Lauf des Monats noch für die eine und die andere. Sie trafen sich jeweils in einer der Bars um die Plaza Mayor, und anders als jetzt an dem Tag ihrer Steppenwanderung, da taglang allein der Dichter sprach, wollte der seinerzeit von dem anderen noch einiges – dem Gefragten kam vor, »alles« – wissen. Wie hieß dessen fernes Heimatdorf? Seine Mutter, war sie schön gewesen? Name und Wohnsitz der ersten Geliebten? Wieviel Prozente bekam er von einem verkauften Buch? War er wirklich verfolgt worden von einer Frau quer durch Amerika? Zypressen am Missouri, gab es die? Und sein Bruder, war der tatsächlich Sägearbeiter in Oregon gewesen? Und war er in Atlanta ernstlich Johnny Cash begegnet?

Wenn dagegen Juan etwas gefragt wurde – wovon er lebe, was er vorhabe, ob er in Numancia bleiben wolle –, kam nie eine Antwort. Er war es, der fragte, so wie jetzt in der Savanne er allein es war, dem gleichsam das Wort erteilt war. Er verkörperte und vertrat ein Gesetz, dem der andere sich zu unterwerfen hatte. Der andere: das war, bei den paar Treffen einst, nicht nur er, der Ortsfremde. Ein-, zweimal vielleicht war noch ein Dritter, ein ebenso Junger, dabei, der freilich stumm blieb – unklar, ob er überhaupt zuhörte. Er hatte bloß so da zu sein, als Knappe, als Gefolge für Juan, die örtliche Dichterautorität. Eine Autorität freilich, von der in den Bars sonst, gedrängt voll wie sie waren an den Abenden, so gar nichts auf ein Publikum übergriff. Wurde er eigens übersehen? Nein, er wurde überhaupt nicht bemerkt. Die Mädchen insbesondere, von denen so viele seiner Gedichte handelten, blickten über seine doch breiten Schultern und an seinem doch dicken Kopf vorbei, ohne auch nur, so oder so, eine Miene zu verziehen, einhellig woandershin. Und er schien das auch gewöhnt und hatte seinen Platz im hintersten Winkel des Lokals, und nicht etwa als Beobachter – das überließ er dem anderen –, sondern mit dem Blick einzig und starr auf diesen und die Wand. Aber, das entfuhr ihm dann beim Abschied, er würde es denen noch zeigen. Eines Tages, das sprach er freilich nicht aus, würden sie erkennen, wer er, Juan Lagunas, war. Eines Tages würden ihnen die Augen aufgehen, und sie würden sich in ihn verlieben, heiß, unbedingt – nein, nur eine von ihnen, die eine.

Bis zum heutigen Tag war er so allein geblieben. Selbst seine Knappen, seine Gefolgschaft, hatte er nicht mehr, nicht einmal in der Einzahl. Immer noch dichtete er, verlegte Jahr für Jahr eine Broschüre. Zwar beschworen manche seiner Texte weiterhin die jungen Frauen. Aber für ihn, den Dichter, kamen sie nicht mehr in Frage. Er wußte inzwischen, daß es sein Los war, draußen zu bleiben, und nicht bloß, was die Frauenwelt anging. Kein Mensch auf der ganzen Welt – und das Neue Numancia blieb für ihn die ganze Welt – scherte sich um ihn, wenn auch bei dem alljährlichen Erscheinen wieder einer Gedichtbroschüre für ein paar Tage lang sein Photo im Schaufenster der Buchhandlung stand mit der Legende: »Der Dichter, der in unserer Stadt lebt.« Hatte man ihn früher ziemlich übersehen, so störte er jetzt die Umwelt sogar, und er bildete sich das nicht nur ein. Er war trotz allem, nicht nur durch das Photo im Schaufenster, sondern auch durch die lokale Zeitung, etwas wie eine öffentliche Gestalt geworden, und zugleich hatte niemand sein Geschriebenes gelesen. Er wurde auf der Straße erkannt, ohne daß die Passanten, anders als etwa bei einem aus dem Fernsehen vertrauten Sänger oder Fußballer, eine Ahnung davon hatten, was er im einzelnen tat. Ein Dichter, damit verbanden sie nichts mehr, weder ein Bild noch einen Ton. Selbst Antonio Machado war für die meisten ein bloßer Name geworden, der, weil er aber in der Stadt zugleich fast allgegenwärtig auftrat, nicht selten Gereiztheit hervorrief, siehe die zugeschwärzten Poeme, die immer noch, übriggeblieben, in der und jener Taverne hingen. Und er, sein Nachfolger, der einzige, machte nun tagaus, tagein die Straßen unsicher, und man schützte sich dagegen, indem man entweder den Kopf wegdrehte oder ihn mit einem Blick der Mißbilligung bedachte, über seinen Beruf, von dem die Mitansässigen wieder nur den Namen wußten und der, da er ihn außerdem allein und heimlich ausübte, nur gegen sie, gegen ihre Existenz gerichtet sein konnte. Er war ihr heimlicher Feind.

»Und darin täuschen sich die Leute von Nueva Numuncia nicht einmal ganz«, sagte Juan Lagunas wählend des Rundgangs durch die Steppe. »Ich habe mit Liebesgedichten, nicht nur an Frauen, an die eine Frau, angefangen und schreibe mittlerweile fast nur noch Verlustgedichte. So wie ich selber draußen bin, so sind auch die anderen, die Mitbewohner im Pueblo, draußen. So sehe ich sie, so höre ich sie, so bedichte ich sie: wie sie jetzt sind im Vergleich zum Ehemals. Eine Horde, eingehüllt in schwarzen Staub, das ist mein Pueblo geworden, und in dem schwarzen Staub verborgen ein Lamento und eine Erinnerung, die ich wecken will mit einem Peitschenhieb.«

Nicht viel anders klangen auch seine Gedichte: ein stilles Rasen. Bloß, daß dieses kaum jemanden mehr aufmerken ließ. Es war, als habe er, der Schwermütige, zu büßen für den Übermut, den angesichts der Gegenwart als frevelhaft oder zumindest als leichtsinnig empfundenen, der Schulstoff gewordenen Poeten vor seiner Zeit. Weder dichterischer Übermut noch entsprechende Schwermut galten mehr etwas, griffen, ergriffen. Den Dichterberuf, gab es ihn weiterhin? Oder wurde er bloß so behauptet, als Anmaßung? War es nicht bezeichnend, daß selbst Juans Mutter – bei der er noch immer hauste, wie schon als Kind, und noch immer im Kinderzimmer – seit jeher ihn gedrängt hatte, doch nicht so verstockt zu sein, den Mund aufzumachen, etwas zu sagen – und sowie er aber dann ihr, der lange einzigen Vertrauten, mit den Gedichten kam, von Anfang an eine gequälte Miene aufgesetzt und später, ohne sich irgend zu verstellen, überhaupt weggehört hatte? (»Nur keine Gedichtvorlesungen mehr. Auch ich selber habe, als Hörer, allen den Dichterlesungen abgeschworen, den schwer- wie den übermütigen, den letzteren ganz besonders.«)

Und auch sein Mitgeher in der Steppe hätte diese Fragen – auf die Juan Lagunas ohnedies keine Antwort erwartete – nicht beantworten können. Auch er, der Prosamann, war im Ungewissen über den heutigen Poetenberuf. Gewiß dafür war er sich, daß er in einer Periode seines Lebens bedürftig gewesen war nach dem Augenblick der Poesie, bedürftig wie nach nichts sonst. Es gab Gedichte, die, selber an den Rändern balancierend, mit versagender, nicht hörbar zu machender allein zu lesender Stimme, ohne Reim und ohne vorgestanzten Rhythmus, ihn von den eigenen Rändern oder Grenzen lautlos zurückgerufen hatten In die Mitte des Lebens – zurück zur Prosa – zum Prosaschreiben. »Wie das Malen, so die Poesie?« Für ihn dagegen galt seit damals: »Wie die Poesie, so die Prosa.« Und für ein einziges derartiges Gedicht hätte er auch jedem heutigen Poeten dessen wirkliche oder vermeintliche Amtsanmaßung nicht bloß nachgesehen. Und insofern könnte das Dichten, unabhängig, ob Beruf oder nicht, immer noch ein Amt sein?

»Einmal«, sagte Juan Lagunas dann, »hatten wir ein Vaterland: konnten wir benennen. Denn für alles gab es einen Namen, Namen für jeden Moment im Leben, auch für die Momente, die sich wiederholten. Die Mutter konnten wir benennen, und den Sohn. Gott, und diese Zeit ist vergangen, und nie wird sie wiederkehren, nie mehr werden wir die Tage, die Abend- und die Morgendämmerungen benennen können. Wir haben die Namen verloren, haben dieses Vaterland, haben jenes Dorf verloren. Leer ist unser Leben jetzt. Lebendig begraben sind wir, die Augen zum Himmel, den wir nicht mehr sehen können. Und nie mehr werden wir einer Frau begegnen und mit ihr über unser verlorenes Vaterland reden können. Bleibt nur, zu warten auf die Nächte und sich zu verabreden mit den Vorfahren. Wenn alle die Toten zu reden anfangen: da werden wir noch das Leben benennen können, tief in der Nacht das Gedicht wie eine Schlange, die überwintert und, die schrägen Augen fast geschlossen, den Frühling erwartet und die Sonne auf ihrer Haut.«

Und, sieh da, unvermittelt wechselte Juan den Tonfall zu Prosa. Und nur ein Dichter konnte auf solche Weise prosaisch werden. Und dabei bekam er auch eine Stimme, und was für eine, zwischen Schreien und Kreischen. »Ich bin ein Sozialfall. Jedes Jahr ein paar Wochen mehr in der geschlossenen Anstalt. Die einzige Frau im Leben ist meine Mutter gewesen. Nie habe ich mit einer Frau gevögelt.« (»Jodado!« brüllte er in seinem Spanisch.) »Ich hätte sogar mit einer Kuh vorlieb genommen. Mich in sie verlieben können wie, wenn ich mich recht erinnere, einer der durch die Bücher deines William Faulkner geisternden Schwachsinnigen. Mit meiner geliebten Vaca wäre ich Tage um Tage durch die Steppe gezogen und hätte sie von Zeit zu Zeit besprungen, Auge in Auge mit ihr, deren Kopf mit den blonden Kringeln über der Stirn mir still zugekehrt gewesen wäre, und in den langen extrastillen Kuhwimpern in keinem Moment auch nur ein kurzes Zucken. Und weißt du, was meine Mutter beim letzten Mal zum Anstaltschef gesagt hat? ›Behalten Sie ihn doch endlich, für immer!‹ Nicht einmal einen Knopf kann ich mir annähen. Nicht einmal die Schuhe kann ich mir selber putzen, geschweige denn mir etwas kochen. Nicht einmal die Hirtenkrümel, die migas del pastor; die einstige Armenspeise der Gegend um mein Numancia, kann ich mir vom Tisch in meine hölzerne Poeten-, nein, Bettlerschale zusammenschaben. Kaiser, König, Edelmann; Bürger, Dichter, Bettelmann. Ich bettle heimlich gewisse Leute an, für die Kopie eines Gedichts. Und wenn mir dann einer was zusteckt, so nur, wenn er dafür nicht das Gedicht nehmen muß. Auch meine Mutter bettele ich vor meinem täglichen Ausgang jedesmal an. Wäre ich ohne sie nicht vollends verloren, hätte ich sie schon längst um die Ecke gebracht. Jeden Sonntagnachmittag lege ich ihr die Hände um den alten bösen Hals. Und jetzt liegt sie im Sterben, meine Mutter. Was wird aus mir werden? Vielleicht, wenn ich heute abend nachhause in den Sozialbau am Rand von Nueva Numancia komme, liegt sie schon in dem Sarg, nach dem sie sich in meiner Gegenwart zeitweise laut gesehnt hat. Der Aufschlag eines Sargs auf die Erde ist etwas vollkommen Ernstes. Wird etwas vollkommen Ernstes sein.

Wird etwas vollkommen Ernstes gewesen sein. Und sie wird mir immerhin, so wie ich sie kenne, vor dem Sterben noch die Socken gestopft haben. Wird mir die Olla potrida, den Eintopf, für eine ganze Woche im voraus gekocht haben, bei kleiner Flamme. Wird mir den Anzug meines Vaters, aus englischem Kammgarn, aus der Gegend von Manchester, den Zweireiher, den breitgestreiften, mit den Perlmuttknöpfen und den besonders hohen Stulpen, wie sie jetzt wieder in Mode gekommen sind, gebügelt haben, mit dem auf dem Sparherd erwärmten schweren alten Eisen und einem feuchten Tuch, und die Bügelfalten, die scharfen, aber eben nicht messerscharfen, sie werden meine Mutter zuletzt den Tod, den des Vaters wie auch den eigenen, haben vergessen lassen. Ja, mein Gedicht lügt: Ich kann benennen, noch und noch. Aber was ich auch benennen und sagen kann: Ich bin nicht fähig, es zu tun. Und ich will es auch nicht tun. Es ist meine Sache, zu benennen, und nicht, danach zu handeln. Es ist nicht mein Amt, zu handeln. Ich bin ein Dichter, und es ist mein Amt, nicht zu handeln – nicht nur, auf keinen Fall ein Olympiasieger zu sein, sondern auch kein Koch, kein Weber, kein Nachtportier, kein Reiseleiter, kein Holz- oder Stahlarbeiter, kein Gärtner, kein Zuhälter, kein Waffenhändler, kein Baumwollpflücker, kein Pipelineleger, kein Wäschewäscher, kein Schuhbandeinfädler, kein Schlüsselzuschleifer, kein Eßtischschmirgler, kein Handelnder, auf keinen Fall.«

War es freilich nicht doch eine Art des Handelns, als Juan Lagunas dabei zuletzt auf seinen Begleiter losging und dem einen Fauststoß gegen die Brust versetzte, einen gar nicht sanften? Für den einen Moment war es, als verkörpere der andere da die wirklichen oder auch eingebildeten Widersacher und Verächter des Dichters in dessen Stammort, von Anfang an bis jetzt – nein, vor jeder Feindschaft und Mißachtung die, welche in seinen Augen falsch lebten und deren Lebensweise ihn auf eine Weise abstieß, die er für sein Dichteramt nicht brauchen konnte.

So tätlich wurde er, als die beiden Steppenwanderer am Ende des Tages oben auf dem Rundhügel des einstigen Numancia, des vorchristlichen, des kelto-iberischen, standen. Bei seinem ersten Aufenthalt in der Gegend hatte der damalige Prosa-Autor den Juan Lagunas jeweils nur in der Stadt, intra muros, getroffen. Über die Ränder hinaus war er immer allein gegangen. Beim zweiten Mal jetzt wurde es klar, daß der Dichter zu Fuß noch nie über seine Stadt hinausgekommen war. Der Steppenboden unter den Sohlen war ihm fremd. In einem fort stolperte er, stieß sich mit den Schuhkappen an den einzeln liegenden Verwitterungsbrocken, und geriet mit den Beinen übers Kreuz, auch wo kein Hindernis war, nur kurzes Gras, Sand und die Weite. Er hob die Knie vor nichts und wieder nichts und wich einem Stier aus, der eine Kuh war, und keine etwa nah vor Augen, sondern am fernen Horizont. Ständig auch erwartete er sich einen Weg, der dabei gar nicht vonnöten war. Weglose Steppe? Die ganze Steppe, wenn auch da und dort mit kleinen Hindernissen, schmalen Wassergräben, einem verrotteten Zaun, war ein einziger, übersichtlicher Weg. Selbst das Geräusch der eigenen Schritte schien ihm nicht geheuer. Wo sein Mitwanderer ein altes Vergnügen auffrischte beim Knirschen des Sandes unter den Sohlen, beim Knistern der vor- und vorvorjährigen Halme und Stengel an den Knöcheln, beim Seufzen der bis in den Abend morgentaunassen Moospolster – all das war und blieb, wenn je eine, immer wieder neue Musik in seinen Ohren, bei der sein ganzes Wesen verstummte und lauschte –, gab es bei dem Dichter in seinem taglangen Monolog kein einziges Aufhorchen oder, Gott bewahre, Innehalten. Selbst aufmerksam gemacht auf etwa das Klingeln von aufeinandertreffenden Kieseln jetzt, auf das von Schritt zu Schritt im Ton wechselnde Platzkonzert von trockenen Schilfrohren, hätte er höchstens kurz abgewunken und sein Stadtgespräch, unberührt von seinem Gestolper und den fehlenden Gehsteigen, weitergesponnen. Das so vielstimmige Lauten des Steppenbodens war nicht seine Sache.

Ein kalter Vorabendwind umwehte die beiden auf dem Hügel des antiken Numancia. Von dem Neuen Numancia weit weg unten in der Flußschleife stieg ein Nebel auf, der sich oben auf der schon eingedunkelten Steppe stauseehaft ausbreitete. Trotz der Verlassenheit der vereinzelten Gehöfte roch es nach Holzfeuer, stark und stärker. Der Geruch kam aus dem Untergrund der verschwundenen, einst jahrlang von den Legionen des Römerreichs belagerten Festung. Sie standen auf einem besonderen Köhlerhaufen. Sie sprachen nicht. Auch Juan Lagunas bewahrte wie selbstverständlich das Schweigen. Ein Hund umkreiste sie, der ihnen schon den ganzen Tag lang gefolgt war, und von dem der Erzähler der Morawischen Nacht dann wollte, es sei wieder derselbe wie in Porodin, am Anfang der Rundreise, gewesen, obwohl der Hund nun kalbsgroß war, mit einem Bauch, der, wie bei einem Dachs, manchmal den Steppenschotter streifte: das Tapsen der Pfoten habe sich angehört genau wie bei dem kleinen Enklavenköter.

Auch der Wind, ohne eigens zu drehen oder umzuspringen, blies jetzt, allmählich, aus einer anderen Zeit. In den Geruch des Holzfeuers mischte sich der von nassen Fellen und saurer Milch. Hinter einer Umzäunung war, für den örtlichen Tourismus, der Versuch einer Nachbildung der vorrömischen Siedlung zu besichtigen – zu dieser Stunde längst geschlossen –, samt den höhlenartigen, mit Ginsterrutenwerk bedachten Hütten und den Gassen, die zugleich die Kanalisationswege vorstellten. Doch das Numancia, das jetzt neu auftauchte, war ein anderes, ganz unabhängig von dem vor- oder nachgestellten. Es gab kein Bild, und ließ sich auch nicht hören: weder ein Töpfeklappern noch etwa ein filmreifes Kriegsgeschrei, noch sonst ein Tamtam. Selbst die Halluzination der Gerüche war im Nu vorbei. Was dieses Numancia bleibend machte, das war dann der Wind gewesen. Mochte der bald wieder am jetzigen Vorabend im Leeren wehen: für ein paar Momente, nein, für eine dann andauernde Sekunde, hatte sich da ein Numancia ausgebuchtet, wie es keine Rekonstruktion und keine Geschichtsschreibung vergegenwärtigen oder habhaft machen konnte. Numancia lebte. Und inwiefern lebte es? Als was? Als jähe Ahnung. Als bleibende Ahnung. Als andere Gegenwart. Wer hatte einmal erkannt, daß Ideen Tatsachen seien und entsprechend betrachtet gehörten? Und waren ebenso die Ahnungen, solche jedenfalls, vielleicht Tatsachen, die man wahrzunehmen hätte in ihrer Körperlichkeit, als lebendige Materie wie nur je eine – als ein besonderes Adernwerk?

Nachtwerden, schnelles – man war doch im Süden. Der Hund, der die beiden auf dem Tumulus weiter umkreiste, fiel in ein Wolfsheulen. Und der Dichter aus Neu-Numancia heulte dann mit. Seinem Nebenmann, seit seinem Aufenthalt vor dem Vierteljahrhundert in der Provinzstadt ein treuer Leser seiner Gedichte, ging da auf, daß diese, ohne auch nur in einem einzigen Vers je einen Namen zu nennen, sämtlich von dem entschwundenen Numancia handelten. Wenn er in einem fort die jetzige Stadt und die heutigen Städte verfluchte und ihnen, ihren Gesetzen wie Menschen, den Untergang wünschte, so beschwor er damit die Vor- oder eher die Andere-Zeit-Siedlung. Was er »Schmerz der Abwesenheit« nannte, in der die »Musik der Ferne« nicht mehr zu hören war, und schuld daran »die Diebe der Illusion«, mit ihrem »Dorn, gespitzt mitten in unsere Venen«, das umschrieb seinen Traum, seine Ahnung, seine Idee von einem anderen, oder andersmöglichen Numancia. Darum betete er. Darum flehte er. Darum heulte Juan hin zu den finstergefallenen Horizonten, so wütend, daß er damit den Hund zum Schweigen brachte. Etwas wie ein Gestank puffte von dem Dichter da weg, der Gestank einer, nein, der Verlassenheit.

Seit jeher hatte der neben ihm, wenn Liebe, so die zu einem, ob wirklich oder vorgestellt, Verlorenen empfunden, und immer in der Einzahl, nie in der Mehrzahl – zu einem einzelnen Verlorenen. Seine Liebe war ohne Ausnahme aus dem Drang gekommen, denjenigen oder diejenige retten zu wollen. Die wenigen Male, da er sich verliebt hatte, waren gleichsam Hand in Hand mit dem Gedanken gegangen: »Diese Frau da will von mir, von mir höchstpersönlich gerettet werden.« Selbst sein Bücherschreiben, in der Zeit, da er sich noch als Autor verstand, war immer wieder mit auf den Weg gebracht worden von dem, ja, Bedürfnis, jemanden retten zu sollen, und eines Tages war ihm auch klar geworden, wie er einmal zu sterben wünschte: entweder am Tisch, mitten im Aufschreiben, oder im Versuch, zum Beispiel jemanden aus einem brennenden Haus oder vor einem Todeskommando zu retten.

An diesem Juan Lagunas schien freilich nichts mehr zu retten, und er schien darauf auch gar nicht aus zu sein. Und außerdem hatte unser Gastgeber von den Ergebnissen jeweils seiner Rettungsversuche kaum etwas zu erzählen. Wenigstens zog er aber den Heulenden an sich heran und stand dann mit ihm Wange an Wange, bis er still wurde. Nicht bloß kalt war die Haut des verlorenen Dichters, sondern vollkommen leblos. Keine Pore, die etwas ausatmete und der Berührung durch die andere Wange irgendwie antwortete. An eine Indianermaske ließ das denken, wo in den beiden Wangen sich Mäuse hineinfraßen, was einen Menschen darstellen sollte, der »dabei war, seine Seele zu verlieren«. Und trotzdem erwartete diese wie erstorbene Haut, und mit ihr spürbar der ganze Mensch da im Finstern, noch etwas. Er forderte. Er hatte von ihm, dem anderen, noch etwas frei. Und wenn er das bekommen hätte, würde er weiterfordern. Er würde ihn nicht gehen lassen, nie mehr. Und wenn er, der andere, ihn alleinließe, so hieße das Verrat. Es hieße: Du läßt mich also im Stich, wie alle bisher. Und er, im Augenblick noch sein Partner (wie »Partner« in den Western), würde ihn tatsächlich im Stich lassen, kurzerhand, gleich, so wie er es bisher zuletzt mit jedem getan hatte? Er hatte das tun müssen, um sich selber zu retten? Und so würde er es auch diesmal wieder tun?

Es war eine sternlose Nacht geworden. Der Dichter von Numancia gab an, er sei nachtblind, »wie meine Mutter«. Und so stiegen die beiden Arm in Arm von dem Steppenhügel, der Hund ihnen voraus, wie den Weg spurend. Von überall her, nah und fern, ein eintöniges Flöten, eine Art Unken, nur sozusagen eine Tonleiter höher und auch mehr oben aus den Lüften kommend als unten aus etwaigen Wassergräben, wobei jeder der Eintöne einen in die Finsternis sich staffelnden Geräuschhorizont vorstellte. Juan, untergehakt in seinen Begleiter, vollführte unversehens einen Hüpfschritt, und dann noch einen, undsofort, den ganzen Hügelweg hinab. Es wurde ein Tanz, und keiner der Verlorenheit. Und er, der Erzähler, konnte nicht anders, als mit dem jäh übermütigen Dichter mitzutanzen. Ja, der, samt seiner Nachtblindheit, zeigte sich auf einmal guter Dinge. Und es stimmte wohl gar nicht, daß er nur bei sich in der Stadt heimisch war: Er nannte, frei nach den Gerüchen, die von seinen Tanzschritten aufstiegen, die zugehörigen Pflanzen oder Kräuter: »Lavendel«, »Thymian«, »Mohn«, »Blaudistel« … Sein Heulen vorhin auf der Hügelkuppe: Es war jetzt, als habe er damit in Wahrheit eher Energie gesammelt; es eingesetzt zum Sicheinstimmen. »Ah, ihr meine lieben Alpträume«, sagte er dann am Hügelfuß mit einer auf einmal so ruhigen wie ausschwingenden Stimme: »Ihr habt mir bis jetzt noch immer das Leben gerettet, mich im letzten Moment aus dem Todesschlaf geweckt. Alpträume, meine Schutzengel.«

Vor dem unbeleuchteten, für die Woche geschlossenen Kongreßzentrum in der Halbwildnis klimperte Juan Lagunas im Dunkeln mit etwas: seinen Autoschlüsseln. Der einzelne Jeep am Rande der Schotterpiste war also der seine. Er öffnete gleich drei Türen, eine für sich beim Lenkrad, eine für den Erzähler neben sich und die dritte hinten für den großen, inzwischen wieder lautlosen Hund. »Das wird eine Eulenrufnacht heute«, sagte er noch, bevor er den Motor anließ. Wie würde er chauffieren bei seiner Nachtblindheit? Scheinwerfer an, kein Problem. (Aber war er überhaupt nachtblind?)

Auf der Fahrt ins Neue Numancia stellte er dem Nebenmann doch eine Frage – eine, die dieser im Lauf seines Lebens mehr und mehr zu Ohren bekommen hatte: »Schreibst du noch immer?« Sonst war die Antwort jeweils ein »Nein« gewesen, anfangs eines, das ihm ersparte, weiterreden zu müssen – denn es war allen den Fragern ganz selbstverständlich, daß er mit dem Schreiben aufgehört hatte –, später ein wahrheitsgemäßes. Diesmal freilich log er: »Ja, ich schreibe noch immer.« Und sowie das heraus war, der Gedanke: Indem das gesagt ist, habe ich mich auch daran zu halten. Die Lüge war ihm bloß so herausgerutscht – und war das überhaupt ein Lügen, ohne Vorsatz, ohne ein Ziel? Darauf der rasant chauffierende Dichter – kein einziges Fahrzeug auf der Piste sonst unterwegs –: »Noch nie habe ich eine Zeile Prosa geschrieben. Für mich gibt es nur das Gedicht. Mit Beschreibungen, Dialogen, Geschichten habe ich nichts im Sinn, und schon gar nicht mit Handlung, Aktion, Dramatik. Konflikte und Probleme – ja. Aber allein die der Sprache. Dort sind meine einzigen Siege. Aber du bist ein Erzählmann, ein Prosamann. Und als Dichter weissage ich dir, daß du eine Liebesgeschichte schreiben wirst, eine dramatische, eine, wie nur du sie erleben lassen kannst. Ich weiß im übrigen, daß du sie schon schreibst. Und sie muß ja nicht wieder auf einen Revolver zulaufen, dem Liebesflüchtling vor die Brust gehalten an der Felsenküste des Pazifischen Ozeans. Knall und Fall, die können sich auch anders ereignen.«

Juan Lagunas ließ den Erzähler aussteigen irgendwo in der Stadt. (Zwischenfrage des »Spielverderbers« auf dem Morawa-Schiff: »Vor einem Hotel? Vor dem Bahnhof? Und wo ist denn den ganzen Tag der kleine Koffer geblieben?« – Keine Antwort.) Letzter Blickwechsel, auch mit dem Hund, der sich auf dem freigewordenen Vordersitz breitmachte, als seinem angestammten Platz. Juans Augen: Unverändert erwartend – dann bitter enttäuscht – zuletzt wieder ausdruckslos. Auch dieser Mensch da hatte ihm, bei dem Wiedersehen nach einem Vierteljahrhundert, den seit je so benötigten Existenzgrund nicht besorgt. Den Existenzgrund? Ja. Und daneben, darüber hinaus, den Existenzbeweis. Ja, Existenzgrund wie -beweis konnten ihm, dem Juan Lagunas aus dem verschwundenen Numancia, nur von jemand anderem erbracht werden, ein anderer hatte ihm seine, Juans, Existenz zu begründen und zudem zu beweisen. Und wieder war er von so einem anderen enttäuscht worden.

Und als er sich zuletzt doch noch einmal nach außenhin hören ließ, bildeten sich die Worte wie ohne seine Stimme, einzig aus einem Flappen der Lippen, so wie es kleine, noch sprechunfähige Kinder tun im Spiel – bloß daß das hier kein Spiel war. Mit Mühe zu entziffern war, was er redete und am Ende von den inzwischen lautlos sich bewegenden Lippen abgelesen werden mußte: »Heim zu meinen Kindern, meinen Anvertrauten, meinen Gespenstern. Nur noch schlafen möchte ich, nackt, ohne Träume und Alpträume, die mich wecken. Einmal habe ich eine Geheimschrift erfunden, und bin in der Stadt hier von einem zum andern gegangen, mit dem Gedanken, es möge einer sie entziffern. Aber niemand konnte sie entziffern. Niemand wollte sie entziffern. Zweimal sind wir beiden einander über die Jahre begegnet, amigo lector. Und ein drittes Mal wird es nicht mehr geben, und wenn, dann auf eine übertragene Weise, in einer grundverschiedenen Sphäre, als deren Musik vielleicht ein weißes Rauschen.«