21

 

 

Die Jahre flogen vorüber, bis der Tag kam, an dem Regen zu Nebel wurde, und die Krieger aus dem Westen durch den Limfjord nach Avildaro kamen.

Malcolm stand am Bug des Schiffes, mit grauem Haar und Bart, älter als die meisten und doch kaum weniger rüstig als die vier großen Söhne neben ihm. Alle waren mit schimmernder Bronze bewaffnet und gerüstet. Sie spähten zur Küste hinüber, bis der Vater sagte: »Dort ist unsere Landestelle.«

Der Eifer seiner sechzehn Jahre klang aus der Stimme Hawks, des Kindes Auris, als er den Befehl weitergab. Auf dem ganzen Schiff machten sich Männer bereit, Waffen klirrten, sie sprangen von den Bänken in das bis an die Schultern reichende kalte Wasser. Die Fellboote ihrer Verbündeten liefen auf Grund und wurden an die Küste gezogen.

»Sorgen Sie dafür, daß sie sich still verhalten«, sagte Malcolm. »Wir dürfen nicht gehört werden.«

Der Kapitän nickte. »Leise, ihr dort!« befahl er seinen Matrosen. Iberer wie er, dunkle Rundschädel mit Hakennasen, kleiner und schlanker als die blonden Stammesangehörigen aus England hatten sie nicht viel für Disziplin übrig; selbst er, ein relativ zivilisierter Mann, der oft in Ägypten und Kreta gewesen war, hatte Mühe zu begreifen, daß es sich hier nicht um einen Piratenüberfall handelte.

»Ich habe genug Zinn und Pelze, um zehnmal für die Überfahrt zu bezahlen«, hatte der Häuptling namens Malcolm zu ihm gesagt. »Alles gehört Ihnen, wenn Sie mir helfen wollen. Aber wir ziehen gegen eine Zauberin aus, die sich die Blitze untertan gemacht hat. Werden Ihre Männer sich fürchten, obwohl ich das gleiche tun kann? Darüber hinaus müssen Sie wissen, daß es nicht um Beute geht, sondern darum, Angehörigen meines Stammes die Freiheit zu bringen. Werden Sie und Ihre Besatzung mit dem Lohn, den ich zahle, zufrieden sein?«

Der Kapitän beschwor es bei Ihr, die er verehrte, wie es diese mächtigen Barbaren taten. Lockridge glaubte ihm. Es ist wirklich eine Befreiung, dachte er. Heute nacht werde ich mich von meiner Bestimmung befreien. Nicht daß die Zeit in England schlecht für ihn gewesen wäre. Im Gegenteil. Er hatte besser, glücklicher, sinnvoller gelebt, als er zu hoffen wagte.

Er ging zum Heck des Schiffes. Auri stand neben der Achterhütte. Ihre anderen Kinder, drei Mädchen und ein Junge, der zu jung war, um zu kämpfen, warteten mit ihr. Sie war ein wenig voller geworden, das Haar fiel etwas weniger schimmernd über ihr kretisches Gewand, und ihr Blick wurde nicht von Tränen verschleiert. Ein Vierteljahrhundert, in dem sie Lockridges rechte Hand gewesen war, hatten auch ihr Größe und Standhaftigkeit beschert.

»Lebewohl, Liebster«, sagte sie.

»Nicht auf lange. Sobald wir gesiegt haben, können wir in die Heimat zurückkehren.«

»Du hast mir mein Heim jenseits des Meeres gegeben. Wenn du fallen solltest ...«

»Dann kehre um ihretwillen zurück«, sagte er und sah die Kinder zärtlich an. »Herrsche über Westhaven, wie wir es solange taten. Das Volk wird sich freuen.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Aber mir wird nichts zustoßen.«

»Es wird seltsam sein«, sagte sie langsam, »uns selbst jung vorüberziehen zu sehen. Ich wünschte, ich könnte es mit dir erleben.«

»Würde der Anblick dir wehtun?«

»Nein. Ich würde es grüßen, dieses Paar, und mich freuen über das, was vor ihm liegt.«

Sie allein hatte begriffen, was mit der Zeit geschehen war. Für den Rest der Tenil Orugaray war es ein beunruhigender Zauber, an den sie möglichst wenig dachten. Gewiß, er hatte sie in ein gutes Land geführt, und sie waren dankbar, aber sollte Malcolm die Bürde der Zauberei tragen, denn er war der König.

Lockridge ging, nachdem er Auri ein letztesmal geküßt hatte. Er watete ans Ufer und fand sich von seinen Männern umringt. Einige wenige waren in Avildaro geboren, waren Kinder, als sie sich auf die Flucht begaben. Der Rest hatte sich aus halb England zusammengefunden. Das war sein Werk gewesen.

Er war nicht nach Ostengland zurückgekehrt, um zu vermeiden, daß Gerüchte Storm Darroway erreichten. Statt dessen hatte er seine Gruppe in jenes herrliche Land geführt, das später den Namen Cornwall bekommen sollte. Dort bestellten sie ihre Äcker, jagten und fischten, liebten und opferten, wie sie es gewohnt waren, aber langsam lehrte er sie, was sie durch die Zinnminen und durch Handel verdienen konnten, er warb Männer aus den umherziehenden anderen Stämmen an, bis Westhaven von Skara Brae bis Memphis als reiches und mächtiges Land bekannt war. Nebenher schuf er sich Verbündete – die Axtleute von Langdale Pike, die Siedler längs der Themse, selbst die sturen Bauern aus dem Flachland, denen er beibrachte, daß Totschlag den Göttern nicht wohlgefällig war. Jetzt sprachen sie davon, auf der Ebene von Salisbury einen großen Tempel als Zeichen ihres Bündnisses zu errichten. So konnte er sie beruhigt zurücklassen und aus den vielen, die sich anboten, hundert Jäger auswählen für diesen Kampf im Osten.

»Formiert euch!« befahl er. »Vorwärts!«

In geschlossenen Reihen bewegten sie sich auf Avildaro zu.

Lockridge fühlte ein Würgen in der Kehle. Fünfundzwanzig Jahre hatten ihn Storm nicht vergessen lassen. Er erinnerte sich an ihre grünen Augen, die bernsteinfarbene Haut, an Lippen, die einmal auf seinen geruht hatten. Schritt für Schritt hatte er begriffen, wozu das Schicksal ihn auserwählt hatte. Der Norden mußte vor ihr gerettet werden. Die ganze menschliche Rasse. Ohne Brann konnte sie ihre Wardens zum Sieg führen. Aber weder Wardens noch Rangers durften die Oberhand gewinnen. Sie mußten sich gegenseitig zur Ader lassen, bis das, was gut an ihnen war, übrigblieb und Johns und Marys Welt Gestalt annehmen konnte.

Doch er war nicht der kluge und unbesiegbare Malcolm. Er war nur der Mann, der Storm Darroway geliebt hatte. Es war schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er zum Kampf gegen sie anrückte.

Hawk kam von seiner Erkundung zurück. »Ich sah nur wenige Männer im Ort, Vater«, meldete er. »Und sie sahen nach dem, wie du sie mir beschreibst, nicht wie Yuthoaz aus. Die Wachfeuer der Wagenlenker sind schwach in diesem Nebel, und die Männer liegen gegen die Kälte eng beisammen.«

»Gut.« Lockridge war froh, daß die Zeit des Handelns gekommen war. »Wir werden die Gruppen nun teilen, und jede bekommt ihren Abschnitt.« Er rief die Anführer zu sich und gab seine Befehle. Nacheinander verschwanden die Gruppen in der Dämmerung, nur Lockridges Männer mit ihren Schilden aus Rinderfell und den scharfgeschliffenen Feuersteinwaffen blieben. Er hob den Arm und sagte: »Uns fällt die schwerste Aufgabe zu denn wir müssen der Zauberin selbst entgegen treten. Ich schwöre noch einmal, daß mein Zauber ebenso stark wie der ihre ist. Wer sich aber fürchtet, möge zurückbleiben.«

»Lange hast du uns geführt, und immer behieltest du recht«, murmelte ein Mann aus den Bergen. »Ich stehe zu meinem Eid.« Beifälliges Flüstern durchlief die Reihen.

»Dann folgt mir!«

Sie fanden einen Pfad zum Heiligen Hain. Wenn der Kampf begann, sollten Storm und ihre Anhänger aus dem Langhaus über diesen Weg kommen.

Schreie hallten durch die niedrig hängenden Wolken. Lockridge hielt unter tropfenden Ästen. Immer stärker wurde der Lärm zu seiner Rechten – Hörner tönten, Pferde wieherten, Männer feuerten einander an, Bogen schnellten, Räder dröhnten, Äxte begannen zu klirren.

»Will sie nie kommen?« murmelte sein Sohn Arrow.

Lockridges Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Es gab keine Garantie für einen Erfolg. Eine Energiepistole konnte eine ganze Gruppe zersprengen, und gegen die Waffe, die er in seiner Hand wog, standen zwei andere.

Schritte dröhnten eilends von Avildaro her. Ein Dutzend Yuthoaz schälte sich aus dem Nebel. Sie hatten die Waffen drohend erhoben, und ihre Gesichter funkelten wild. An ihrer Spitze lief Hu.

Der Warden hielt im Lauf inne. Er hob die Pistole. Aus der gleichen Waffe in Lockridges Hand ergoß sich rot, grün, gelb und tödlich das schirmende Feuer. Die Yuthoaz warfen sich auf die Briten, die in übernatürlicher Furcht zurückwichen.

»Koriach!« schrie Hu über die aufeinanderprallenden Energien. »Sie sind Rangers!« Er erkannte in dem Mann, der ihm gegenüberstand, Lockridge nicht. Und noch in dieser Stunde würde er tot vor dem Langhaus liegen. Der Gedanke daran ließ Lockridge erstarren. Hu trat näher an ihn heran. Ein Yutho schwang seine Axt. Der Mann aus den Bergen, der zu seinem Eid gestanden hatte, sank entseelt vor Lockridge nieder.

Das ließ ihn aus seiner Erstarrung erwachen. »Männer aus Westhaven!« rief er. »Schlagt zu!«

Arrow stürmte vor. Sein Bronzeschwert blitzte auf und traf den Gegner tödlich. Hawk erhielt einen Hieb auf seinen Helm, und er dröhnte wie sein Lachen, als er zurückschlug. Ihre Brüder Herdsman und Beloved stießen zu ihnen, der Rest der Männer schloß sich an. Sie waren zahlreicher als die Männer der Streitaxt. Es war ein kurzer Kampf ohne Gnade.

Lockridge zog sein Schwert gegen Hu. Der Warden sah seine Leute fallen, hob sich vom Boden ab und verschwand im Nebel. Über dem Kampffeld hörte man ihn nach Storm rufen.

Sie hat also einen andern Weg genommen, dachte Lockridge. Sie ist dort drüben. »Hier entlang!«

Er kam zu den Wiesen. Ein Kampfwagen jagte vorüber, auf eine Reihe seiner Männer zu. Sie hielten stand, bis die Räder sie fast berührten, dann teilten sie sich und ihre von der Seite geführten Hiebe töteten den Wagenlenker. Mit schleifenden Zügeln rasten die Pferde davon und wurden vom Nebel verschluckt. Die Briten griffen die zu Fuß folgenden Yuthoaz an. Für Lockridge war ihr Kampf ein Schattenspiel, das er aus den Augenwinkeln beobachtete. Seine Jagd galt Storm.

Um ihn brauste die Schlacht. Ein Yutho zerschmetterte einem Westhavenkrieger den Schädel und wurde von einem Iberer getötet. Zwei Männer wälzten sich im Schmutz und versuchten, einander an die Kehlen zu gehen. Ein Jüngling namens Thuno lag in seinem Blut, die leeren Augen zum Himmel gerichtet. Lockridge eilte vorüber. Die Scheide des Schwertes schlug gegen seinen Schenkel. Helm und Brustpanzer wurden zur Last.

Nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, hörte er Schreie. Eine Gruppe seiner Männer kam näher, die Augen weit vor Furcht. Er rief ihren Anführer zu sich. »Wir haben sie gesehen, am Rande der Stadt«, sagte der Mann. »Ihre Flammen töteten drei von uns, ehe wir entkommen konnten.« Sie flohen nicht, sondern folgten seinen Befehlen und suchten nach neuen Gegnern.

Lockridge eilte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Zuerst hörte er ihre Stimme: »Du und du und du – sucht die Sippenältesten! Sie sollen sich hier einfinden. Ich bleibe hier, und nachdem wir Ordnung in unsere Reihen gebracht haben, werden wir diese Seebanditen vernichten.«

Er stieß in die Wolken vor. Sie teilten sich, und da war sie.

Mehrere Yuthoaz waren an ihrer Seite. Pferde stampften vor dem einen Kampfwagen, an dem Withukar mit stoßbereiter Hellebarde stand. Storm hatte nur eine Tunika über ihre schlanke Gestalt geworfen, und der Halbmond blitzte auf ihrem Scheitel. Ihr Haar schimmerte feucht, ihr Gesicht war voll lebendiger Spannung. Er feuerte auf sie.

Sie war zu schnell. Ihr Flammenschild leuchtete auf. Ohnmächtig prallten die Energien aufeinander.

»Ranger«, rief sie über das Dröhnen, »komm her, damit ich dich erschlagen kann.« Da Lockridge zum erstenmal seit vielen Jahren seine Diaglossa trug, verstand er. Er näherte sich ihr.

Ihr Walkürengesicht verzerrte sich vor Entsetzen. »Malcolm!« schrie sie.

Lockridges Söhne stürmten auf Storms Männer ein. Schwerter, Speere und Streitäxte krachten. Aus dem Augenwinkel sah Lockridge Withukar mit seiner langstieligen Axt gegen Hawk ausholen. Der Junge wich aus, sprang mit einem Satz auf den Wagen und stach zu. Withukars junger Lenker warf sich zwischen die Klinge und seinen Herrn. Als er zusammenbrach, zog Withukar ein Messer aus Stein. Hawk brachte seine Waffe nicht schnell genug heraus. Er umschlang den rotbärtigen Mann mit beiden Armen. Sie stürzten herab und kämpften neben den Rädern weiter. »Oh, Malcolm, was hat die Zeit aus dir gemacht?« schluchzte Storm.

Er durfte sich nicht erweichen lassen, mußte mit der Pistole in der einen Hand, die andere, die das Schwert halten sollte, leer, auf sie zugehen. Jeden Augenblick konnte sie wie Hu entschweben. Aber ihre Männer wichen vor der Übermacht zurück. Sie hielt sich in ihrer Nähe, und Lockridge fand keine Gelegenheit, sie zu packen. Sobald sich eine Lücke zwischen ihnen öffnete, schalteten beide ihre Pistolen auf Verteidigung, und die Flammenkaskaden umgaben sie.

Plötzlich durchbrachen Arrow und Beloved die Yutholinie. Sie griffen von hinten an, die Gruppe löste sich in Einzelkämpfer auf. Lockridge sah Storm vor sich. Mit einem Satz sprang er auf sie zu. So grell war die Strahlung, daß beide für Sekundenbruchteile geblendet waren. Lockridges Hand hieb in die vielfarbige Dunkelheit. Storm schrie vor Schmerz auf. Er fühlte, wie die Pistole ihrer Hand entfiel. Bevor sie sich in die Nacht erheben konnte, hatte er die eigene Waffe sinken lassen und sie gepackt. Sie stürzten zu Boden. Sie kämpfte mit Händen, Nägeln, Knien und Zähnen. Aber er nagelte sie mit seinem Gewicht und dem Brustpanzer fest. Sie hob den Kopf und küßte ihn.

»Nein«, keuchte er erstickt.

»Malcolm«, sagte sie, und er spürte ihren heißen Atem, »ich kann dich wieder jung machen, jung und unsterblich.«

Er stieß eine Verwünschung aus. »Ich bin Auris Mann.«

»Bist du es?« Sie lag plötzlich reglos in seinem Griff. »Dann ziehe dein Schwert.«

»Du weißt, daß ich es nicht kann.« Er stand auf, löste ihren Gurt, half ihr auf die Füße und hielt ihr die Arme hinter ihrem Rücken zusammen. Sie lächelte und lehnte sich an ihn.

Der Kampf um sie herum war verklungen. Als sie sahen, daß ihre Göttin in Gefangenschaft geraten war, warfen die Yuthoaz, die dazu noch in der Lage waren, ihre Waffen fort und flohen.

»Wir haben die Zauberin«, sagte Lockridge. »Nun bleiben nur noch ihre Krieger.«

Er ließ Storm los. Sie funkelte ihn an. »Glaubst du auch nur einen Augenblick, daß du der Rache entgehen kannst?« fragte sie.

»Ja. Deine Spione werden zwar erfahren, was geschehen ist, aber sie werden dich nicht finden. Sie werden von einem Überfall hören, bei dem du offensichtlich den Tod fandest. Kein Überfall der Rangers, soweit sie aus den verworrenen Berichten der Eingeborenen hören werden, nur ein Angriff eines ehrgeizigen Stammeshäuptlings, der in Jütland im trüben fischen wollte und das Glück hatte, daß verirrte Pfeile dich und Hu erledigten, bevor du den Angriff zurückschlagen konntest. Darüber hinaus werden deine Nachfolgerinnen mit ihren eigenen Sorgen genug zu tun haben, als daß sie sich um uns kümmern könnten.«

Storm stand lange reglos. Dann reckte sie sich und strich ihr Gewand glatt, bis es fest an ihrem Körper lag. »Was wirst du mit mir tun?« fragte sie leise.

»Ich weiß es nicht«, sagte er ehrlich. »Solange du lebst, bist du eine tödliche Gefahr. Aber ... ich kann dir kein Leid antun.« Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Vielleicht können wir dich irgendwo verstecken«, sagte er rauh.

Sie lächelte. »Wirst du mich besuchen kommen?«

»Ich sollte es nicht tun.«

»Du wirst es tun. Dann können wir uns unterhalten.« Sie schob das Schwert von Auris Sohn mit einer lässigen Bewegung zur Seite, trat vor Lockridge hin und küßte ihn. »Lebwohl, Malcolm!«

»Bringt sie fort!« sagte er scharf. »Fesselt sie. Aber seid vorsichtig, damit sie nicht verletzt wird.«

»Wohin sollen wir sie bringen, Vater?« fragte Arrow.

Lockridge trat auf den Platz vor dem Langhaus. Hus reglose Gestalt wirkte, als sei sie zusammengeschrumpft.

»Dort hinein«, sagte er. »In ihr eigenes Haus. Stellt einen Posten vor den Eingang. Tragt die Toten zusammen und kümmert euch um die Verwundeten.« Er sah ihr nach, bis sich der Vorhang hinter ihr schloß.

Dann wandte er sich um und lief durch den Ort. »Männer von Avildaro!« rief er. »Wir sind gekommen, um euch zu befreien! Die Zauberin ist in unserer Gefangenschaft. Meine Männer kämpfen draußen auf den Wiesen für euch. Wollt ihr zusehen und selbst keinen Hieb führen? Wer ein Mann ist, der komme heraus!«

Und sie kamen: Aus allen Türen strömten sie, Jäger, Fischer Ruderer, Steuermänner der großen und kleinen Boote. Mit ihren Waffen sammelten sie sich um den Verkünder ihrer Befreiung. Fünfzig Mann stark stürmten sie durch den Heiligen Hain und warfen sich wutentbrannt den Männern der Streitaxt entgegen.

Als der letzte Kampfwagen zertrümmert auf dem Feld lag und der letzte Yutho in die Heide geflüchtet war, befahl Lockridge, alle Gefangenen zu ihm zu bringen. Zumeist waren es Frauen und Kinder, aber auch Withukar lebte. Er erkannte Lockridge und verfluchte ihn.

Ein fast niedergebranntes Feuer loderte wieder auf, bis seine Flammen fast so wild tanzten wie die Tenil Orugaray. Lockridge trat vor die Gefangenen und sagte: »Niemand wird euch etwas antun. Morgen könnt ihr gehen, wohin ihr wollt. Aber einer unserer Männer wird euch begleiten, um den Frieden zu verkünden. Das Land ist weit, und wir kennen Gebiete, in denen ihr auf keinen Menschen stoßen werdet. Dieses Land hier gehört uns, nicht euch. Wenn der Winter halb vorüber ist, werden die Stammeshäuptlinge hier zu Beratungen zusammenkommen, um Wege zu suchen, wie wir einander helfen können. Withukar, ich hoffe, du wirst unter ihnen sein.«

Der Yutho fiel auf die Knie. »Herr«, sagte er, »ich weiß nicht, wie ich dich so verkennen konnte. Ich möchte weiter dein Kamerad sein, wenn du mich noch magst.«

Lockridge hob ihn auf. »Löst seine Fesseln. Er ist unser Freund.«

Er blickte über die Gesichter hinweg, die ihm zugewandt waren. Er wußte, daß seine Aufgabe noch nicht beendet war. Westhaven konnte nicht mehr erschüttert werden. In den nächsten zwanzig oder dreißig Jahren – wieviel Zeit ihm immer vergönnt war – mußte er in Dänemark einen ähnlichen Bund gründen.

Wenn nur Storm ...

Ein Mann lief auf ihn zu und ließ sich vor ihm auf das Gesicht fallen. »Wir wußten es nicht! Wir wußten es wirklich nicht! Wir hörten den Lärm zu spät!«

Lockridge war, als würde es dunkel vor seinen Augen. Er rief nach einem Fackelträger und folgte ihm zum Langhaus.

Sie lag im gnadenlosen Licht der Kugeln. Ihre Schönheit war vergangen; man wird nicht zu Tode stranguliert, ohne daß die Haut sich dunkel färbt, die geschwollene Zunge zwischen den Zähnen hervortritt, die Augen fast aus den Höhlen treten.

Branns Leiche lag über ihr.

Ich vergaß ihn, dachte Lockridge. Ich wollte mich nicht an ihn erinnern. So kam er durch den Vorhang, vom Tode gezeichnet, und sah sie, die ihn gefoltert hatte, hilflos zu seinen Füßen.

Die Männer vom Meer verstummten, als Tränen Lockridges Blick verschleierten. Dann ließ Lockridge Holz herbeibringen. Er legte Storm selbst zur letzten Ruhe, Hu neben ihr, den großen Feind zu ihren Füßen. Dann setzte er mit der Fackel das Langhaus in Brand. Hoch und laut loderten die Flammen, um die Dunkelheit in einen neuen Tag zu überführen.

Allein kehrte Lockridge zum Schiff zurück. Auris Arme umschlossen ihn. Als die Sonne aufging, fand er wieder Frieden.

Das Bronzealter, das neue Zeitalter, nahte. Was er in seinem eigenen ungeborenen Gestern gesehen hatte, gab ihm die Gewißheit, daß es eine glückliche und friedvolle Zeit werden würde – glücklicher vielleicht als jene ferne Zukunft, von der er einen Blick erhascht hatte. Denn was nach ihr blieb, trug nicht den Stempel von Brandschatzung, Gemetzel oder Versklavung. Hingegen sprachen der goldene Sonnenwagen von Trundholm und die Lurhörner, deren Rundungen an ihre Schlangen erinnerten, dafür, daß die Völker des Nordens zu einer Rasse geworden waren. Auf weite Fahrten würden sie sich dann begeben; die Straßen von Knossos würden von Dänen betreten werden, Männer würden von England nach Arabien aufbrechen. Einige mochten sogar nach Amerika gelangen, wo die Indianer von einem klugen freundlichen Gott und einer Göttin mit dem Namen Blumenfeder erzählen würden. Aber die meisten würden zurückkehren. Denn wo sonst war das Leben so schön wie in dem ersten Land, das stark und frei war!

Am Ende würde es untergehen, bevor das grausame Zeitalter des Eisens begann. Aber tausend Jahre glücklichen Lebens waren keine kleine Errungenschaft, und der Geist, den sie hervorbrachte, würde von Bestand sein. In jedem zukünftigen Jahrhundert mußte die vergessene Wahrheit, daß die Menschen einst Generationen des Frohsinns gekannt hatten, erhalten bleiben und im stillen arbeiten. Diejenigen, die das letzte Morgen schaffen würden, mochten wohl auf das Reich, das Malcolm gegründet hatte, zurückkommen und aus ihm lernen.

»Auri«, sagte Lockridge bewegt, »bleibe bei mir und hilf mir.«

»Immer«, erwiderte sie.