5
Die weißen Nebel des Sonnenaufgangs wallten langsam über die regenfeuchte Erde. Wasser tropfte von tausend Blättern, funkelte in der Luft und verlor sich in Busch und Farnkraut. Vogelzwitschern erfüllte den Wald. Hoch am Himmel zog ein Adler seine Kreise, und das junge Tageslicht lag wie Gold auf seinen Schwingen.
Lockridge erwachte von einer Hand, die ihn schüttelte.
»Stehen Sie auf«, sagte Storm. »Bereiten Sie das Frühstück. Das Feuer brennt bereits.«
Erst jetzt sah er, daß sie nackt war. Er richtete sich in seinem Schlafsack auf und fühlte sein Herz hämmern. Zitternd vor Kälte kroch er aus dem Schlafsack. Storm schien die Temperatur nichts auszumachen, obwohl Tau auf ihrem Haar lag und ihre Hüften glänzen ließ.
Sie kauerte sich nieder und öffnete eines der Bündel aus dem Schrank. Lockridge benutzte die Gelegenheit und begann, sich hinter ihrem Rücken anzuziehen. Sie blickte sich zu ihm um. »Wir werden zeitgemäße Kleidung benötigen«, sagte sie. »Unsere Ausrüstung wird ohnehin genug Gesprächsstoff geben. Nehmen Sie das andere Gewand.«
Er gehorchte ihrem Befehl und löste die Verschnürung des Pakets. Die Hülle entpuppte sich als kurzer Mantel aus lose gewebter, mit pflanzlichen Stoffen blau gefärbter Wolle. Das Hauptbekleidungsstück war eine ärmellose Basttunika, die er über den Kopf zog und mit einem Riemen um die Hüften hielt. Die Füße schob er in Sandalen, um die Stirn wand er ein Band aus Vogelfedern mit Zickzackmuster. Zur weiteren Ausstattung gehörten ein Halsband aus Bärenkrallen und Muscheln, dazu ein blattförmiger Dolch aus Feuerstein, der so glatt geschliffen war, daß er fast metallisch wirkte. Der Griff war mit Leder umwickelt, die Scheide bestand aus Birkenrinde.
Storm musterte ihn kritisch. Auch er betrachtete sie neugierig. Ihre weibliche Bekleidung bestand nur aus Sandalen, einem Stirnband, dem Halsband aus unbearbeitetem Bernstein, einer von der Schulter hängenden Tasche aus Fuchsfell und einem kurzen Rock, der mit Federn geschmückt war.
»Es wird gehen«, sagte sie. »Eigentlich stellen wir einen Anachronismus dar. Wir sind gekleidet wie Angehörige der wohlhabenden Sippe der Tenil Orugaray, des Meeresvolkes, der Ureinwohner. Aber Sie tragen das Haar kurz geschnitten und sind glatt rasiert, und mein Rassentyp ... aber was hilft es. Wir sind eben Wanderer, die ihre abgetragene Kleidung an Ort und Stelle durch neue ersetzen mußten. Das ist allgemeiner Brauch. Außerdem haben diese Primitiven wenig Sinn für logisches Denken.«
Sie deutete auf ein kleines Kästchen, das sich auch in dem Bündel befunden hatte. »Öffnen Sie es.« Er nahm es auf, aber sie mußte ihm zeigen, auf welche Stelle er drücken mußte, damit sich der Deckel hob. In dem Kästchen lag ein durchsichtiges Kügelchen. »Stecken Sie es in ein Ohr«, sagte sie. Sie strich das Haar beiseite und zeigte ihm einen ähnlichen Gegenstand, den er für ein Hörgerät gehalten hatte. Er schob die kleine Kugel ins Ohr. Sie beeinflußte seine Hörfähigkeit nicht, fühlte sich aber sonderbar kühl an. Ein leiser Schauder rann ihm über den Rücken.
»Verstehen Sie mich?« fragte Storm.
»Ja, natürlich ...«, stammelte er. Sie hatte nicht Englisch gesprochen. Überhaupt nicht in einer Sprache, die er kannte.
Storm lachte. »Geben Sie gut auf Ihren Diaglossa acht. Sie werden feststellen, daß er mehr wert ist als eine Pistole.«
Lockridge zwang sich zu kühler Überlegung. Was hatte sie tatsächlich gesagt? Pistole war englisch, und Diaglossa paßte nicht zu dem Rest ihrer Worte. Langsam, während er sich an die Sprache gewöhnte, fand er, daß sie eine komplizierte Grammatik hatte und viele feine Unterschiede kannte, die dem zivilisierten Menschen unbekannt waren. So gab es beispielsweise zwanzig verschiedene Worte für ›Wasser‹, je nachdem, welches Wasser gemeint war und auf welche Umstände es sich bezog. Andererseits fand er, daß er unfähig war, Begriffe wie ›Masse‹, ›Regierung‹ oder ›Monotheismus‹ auszudrücken, wenn er nicht zu den ausgefallensten Umschreibungen Zuflucht nehmen wollte. In den folgenden Tagen entdeckte er, welche völlig andere Bedeutung Begriffe wie ›Sache‹, ›Zeit‹, ›Selbst‹ und ›Tod‹ in dieser Sprache hatten.
»Es handelt sich um ein Molekularkodegerät«, sagte Storm auf Englisch. »Es speichert die wichtigsten Sprachen und Gebräuche eines Zeitalters und eines Gebietes – in diesem Falle Nordeuropas, von dem, was eines Tages Irland sein wird, bis zum späteren Estland. Das Gerät bezieht seine Energie aus Ihrer Körperwärme und bedient sich für die Leistung der Nervenströmungen Ihres Gehirns. Mit anderen Worten, Ihr natürliches Erinnerungsvermögen ist um ein künstliches Gedächtniszentrum verstärkt worden.«
»Das alles steckt in diesem kleinen Ding?« fragte Lockridge ungläubig.
Storms breite Schultern hoben und senkten sich. »Ein Chromosom ist noch kleiner, kann aber mehr Auskünfte geben. Machen Sie uns nun etwas zu essen.«
Lockridge war froh, Zuflucht zum alltäglichen Kochen über dem Lagerfeuer nehmen zu können. Zudem hatte er sich schlafen gelegt, ohne eine Abendmahlzeit einzunehmen. Die Bündel enthielten Konserven mit Gerichten, die Lockridge nicht kannte, aber sie schmeckten aufgewärmt köstlich. Storm bedeutete ihm ungeduldig, den Rest der Dosen zurückzulassen. »Wir werden von der Gastfreundschaft leben«, sagte sie. »Diese eine Bratpfanne ist ein so großartiges Geschenk, daß sie uns, selbst am Hofe Pharaos, ein Jahr lang den Unterhalt garantieren sollte.«
Lockridge mußte lachen. »Und was, wenn ein Archäologe sie vier Jahrtausende später aus dem Küchenabfall eines Haushalts fischt?«
»Eisenblech ist in diesem feuchten Klima bis dahin längst zerfallen. Die Zeit läßt sich nicht betrügen.«
Sie sah zu, wie er das Feuer auslöschte, dann machte sie ihn mit der Handhabung der Torkontrollröhre bekannt und versteckte sie mit ihren Kleidungsstücken aus dem 20. Jahrhundert in einem hohlen Baum. Die Waffen behielten sie. Sie nahmen ihr Gepäck auf die Schultern und machten sich auf den Weg.
»Unser Ziel ist Avildaro«, erklärte Storm. »Ich war selbst nie dort, aber es ist ein Anlaufhafen, und wenn in diesem Jahr dort kein Schiff erwartet wird, erfahren wir, wohin wir uns wenden müssen.«
Die Sonne war aufgegangen, die Nebel lösten sich auf, ein Himmel mit kleinen weißen Wolken wölbte sich über ihnen. Am Rand des Waldes blickte Storm sich suchend um. Unter den hohen Eichen hatte dichtes Unterholz eine fast unüberwindbare Mauer geschaffen. Storm brauchte eine Weile, um den Weg nach Norden zu finden – einen schmalen, gewundenen Pfad, mehr von Tieren als von Menschen benutzt.
»Geben Sie acht, keinen Schaden anzurichten«, warnte sie ihn. »Wälder sind heilig. Niemand darf jagen, ohne IHR zuvor ein Opfer zu bringen, kein Baum darf gefällt werden, der nicht zuvor versöhnlich gestimmt wurde.«
Der Wald war nicht sehr tief. Nach wenigen Stunden hatten sie ihn durchquert. Flaches Land reichte nun nach Norden und Westen bis an den schimmernden Horizont. Der Weg verbreiterte sich, schlängelte sich um ein Sumpfloch. Irgend etwas erweckte Storms Aufmerksamkeit. Ihre Muskeln spannten sich, ihre Hand senkte sich an die Pistole. Lockridge beugte sich zugleich mit ihr herab. Wagenräder und Hufe ohne Eisen hatten ihre Spuren auf dem feuchten Boden hinterlassen. Zwei oder drei Tage zuvor hatte jemand dieses Gebiet durchquert und ...
»Soweit sind sie also gekommen«, murmelte Storm Darroway.
»Wer?« fragte Lockridge.
»Die Yuthoaz.« Der Diaglossa verriet ihm, daß sich unter dieser Bezeichnung ortsansässige Stämme aus der Steinzeit verbargen.
Storm richtete sich auf, rieb sich das Kinn und legte die Stirn in Falten. »Die zur Verfügung stehenden Auskünfte sind dürftig«, sagte sie unbehaglich. »Niemand hielt diesen Ort für wichtig genug, um genauere Erkundigungen einzuziehen. Wir wissen nicht, was sich dieses Jahr hier ereignen wird.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Auf alle Fälle konnte die Aufklärung mit Sicherheit feststellen, daß während des ganzen Milleniums in diesem Gebiet keine Energiegeräte zum Einsatz kamen. Das ist einer der Gründe, warum ich es vorzog, so weit zurückzugehen, statt den Tunnel zu einem späteren Zeitpunkt, an dem die Wardens ebenfalls tätig sind, zu verlassen. Ich weiß, daß die Rangers nicht hierherkommen. So konnte ich es wagen, den Tunnel im ersten Jahr seines Tores zu verlassen; es wird ein Vierteljahrhundert lang zugänglich sein. Ein Bericht, den eine Vermessungsgruppe aus Irland brachte, dessen Zeittore sich um ein Jahrhundert von denen Dänemarks unterscheiden, meldet, daß Avildaro noch existiert, daß es heute in hundert Jahren sogar in seiner Bedeutung noch gewachsen ist.« Mit einer ungeduldigen Bewegung verlagerte sie das Gewicht des Gepäcks auf ihren Schultern und nahm den Marsch wieder auf. Schweigend legten sie die nächste halbe Stunde zurück.
Felder umgaben sie jetzt. Geschützt durch Dornenhecken, hatten Gerste und Weizen zu sprießen begonnen. Nur wenige Morgen Land waren bestellt – in Gemeinschaftsarbeit, wie auch die Schafe, Ziegen und Schweine, nicht jedoch die Ochsen, gehalten wurden. Die Frauen, die gewöhnlich das Unkraut jäteten, waren nicht zu sehen. Sonst erstreckten sich zu beiden Seiten Weideflächen, die nicht eingezäunt waren. Voraus blitzte die helle Fläche des Limfjords. Ein Gehölz verbarg die Ortschaft, aber Rauch stieg über den Baumwipfeln auf.
Mehrere Männer schlenderten ihnen von dort entgegen. Sie waren grobknochig und blond, ähnlich wie Lockridge gekleidet, trugen das Haar geflochten und die Bärte kurz gestutzt. Einige trugen Weidenschilde, die bunt bemalt waren. Ihre Waffen bestanden aus Speeren mit Feuersteinspitzen, Bogen, Dolchen und Schleudern.
Storm blieb stehen und hob die leeren Hände. Lockridge folgte ihrem Beispiel. Die Männer aus der Ortschaft schienen erleichtert. Aber sie wurden unsicher, je näher sie kamen, senkten die Blicke und blieben schließlich stehen.
Sie wissen nicht genau, wer oder was sie ist, dachte Lockridge. So geht es allen, die ihr begegnen.
»In allen IHREN Namen«, sagte Storm, »wir kommen als Freunde.«
Der Führer faßte Mut und trat vor. Er war ein untersetzter, grauhaariger Mann mit verwitterten Zügen, die von einem auf dem Meer verbrachten Leben zeugten. Sein Halsschmuck enthielt unter anderem ein Paar Walroßzähne. »Dann heiße ich euch in IHREN Namen und in meinem, Echegon, dessen Mutter Ularu war und der im Rat vorsteht, willkommen«, murmelte er.
Lockridges neues Gedächtnis setzte ihn in die Lage, zu verstehen, was er gehört hatte. Die Namen, die genannt worden waren, waren echt. Man machte, aus Furcht vor böser Magie, kein Geheimnis aus ihnen, und sie waren auf die Auslegungen zurückzuführen, die Avildaros Kluge Frau Träumen gegeben hatte, die die Betreffenden während der Pubertätsriten gehabt hatten. Das ›Willkommen‹ bedeutete mehr als nur eine Höflichkeitsfloskel. Der Gast war heilig und hatte das Recht, jede Bitte auszusprechen. Ausgeschlossen war lediglich die Teilnahme an den besonderen Riten der Sippe.
Nur mit halbem Bewußtsein lauschte Lockridge Storms Erklärung, während die Gruppe der Küste entgegenwanderte. Sie und ihr Gefährte waren Wanderer aus dem Süden (dem so weit entfernten exotischen Süden, woher alle Wunder kamen), die von ihrer Gruppe getrennt worden waren. Sie wünschten, in Avildaro zu bleiben, bis sich die Gelegenheit zur Heimfahrt auf einem Schiff bot. Und Storm deutete an, daß sie nicht mit Geschenken geizen würden, wenn man ihre Wünsche erfüllte.
Die Erleichterung der Fischer war offenkundig. Wenn diese beiden eine Göttin und ihr Begleiter waren und unerkannt zu bleiben wünschten, so schienen sie zumindest gewillt, sich wie gewöhnliche menschliche Wesen zu verhalten. Und ihre Geschichten würden die Langeweile mancher Abende füllen; neidische Besucher würden von weither kommen, um zu hören und zu sehen und in ihrer Heimat die Bedeutung Avildaros zu betonen. Ihr Kommen mochte vielleicht die Yuthoaz, deren Späher kürzlich beobachtet worden waren, beeinflussen, sich fernzuhalten. So betrat die Gruppe froh und mit munteren Reden die Ortschaft.