15
In weitem Bogen zog das Raumschiff der Wardens westlich und abwärts über einen Ozean, auf dem ein für diese Nacht geschaffener Sturm tobte. Am Ende des langgestreckten Fahrzeugs erklang eine Stimme: »Jetzt!«, und Lockridges Kapsel wurde ausgestoßen. Einem Meteor gleich, zischte sie durch Wind und Regen, glühend von der Gewalt der Luftströmung. Das Raumschiff jagte vorbei und stieg steil in die Höhe.
Lockridge lag im Mittelpunkt dieser Glut. Hitze drohte ihn zu ersticken, die Vibrationen ließen seinen Schädel dröhnen. Dann barst die dünn gewordene Hülle, und er brachte sich mit dem Schwerkraftgürtel aus dem Bereich der Trümmer. Sobald seine Geschwindigkeit unter die Schallgrenze gesunken war, hörte er den Wind heulen, Donner grollen, das Wasser brausen. Ein blauweißer Blitz zuckte über den Himmel und blendete ihn minutenlang. Der folgende Donner traf seine Ohren wie ein Hammerschlag.
Klimakontrollfelder drängten den Sturm von der Küste zurück. Lockridge durchbrach die letzte Wolkenwand und sah Niyorek. Riesig glühte es an der Küste und weiter ins Landesinnere, als er erkennen konnte. Die Karten und der Diaglossa hatten ein Amerika beschrieben, das eine einzige Riesenstadt war. Nur hier und dort schob sich ein Streifen Wüste, der einst grünes Land gewesen war, in die Masse aus Zement, Stahl, Energie und zehn Milliarden Sklaven, die auf engstem Raum zusammengepreßt lebten.
Geradeaus, sowie nördlich und südlich wuchsen die Mauern der Stadt auf, und nur wenige schwache Lampen neben Hunderten von glühenden Öfen erhellten den tief im Dunkel gelegenen Teil der Stadt. Ein summender, dröhnender, zuweilen schriller und die Ohren schmerzender Laut kam über das Meer – die Stimme der Maschinen. Auf den oberen Ebenen reckten sich Einzeltürme über eine Meile hoch in den Himmel; das erste Grau der Dämmerung lag fahl auf ihren fensterlosen Seiten. Kabel, röhrenförmige Übergänge und Hochstraßen verbanden sie wie ein Netz miteinander. Es ließ sich nicht leugnen, daß der Anblick von einer gewissen Großartigkeit war. Sie waren nicht kleinlich, die Menschen, die diese senkrechten Schächte in den Himmel erträumt und verwirklicht hatten. Aber die Konturen der Bauten waren brutal, sie verkörperten einen Geist, dessen einziges Ziel darauf gerichtet war, für alle Zeiten uneingeschränkter Herrscher über unvorstellbare Kräfte zu sein.
Lockridges Helm vibrierte, als der Ruf ihn erreichte: »Wer kommt dort?« Zwei Streifenposten, schwarz uniformiert wie er selbst, stießen auf ihn herab. Tief unten schoben sich die Mündungen von Waffen aus den Dächern.
Lockridge war für Fälle wie diesen geschult worden. »Wachtruppführer Darvast von der Privattruppe Direktor Branns zurück von Sonderauftrag.« Die Rangersprache klang rauh aus seinem Mund.
»Landen Sie zur Überprüfung an Tor 43«, befahl die Stimme.
Lockridge gehorchte. Er setzte auf einer Plattform auf, die über das Wasser ragte. Sie war, wie das mächtige Tor vor ihm in der Mauer, aus kaltem Stahl. Ein Wachmann trat an Lockridge heran. »Ihre Ego-Schablone«, sagte er.
Die Wardenagenten hatten gute Arbeit geleistet. Um jederzeit darauf zurückgreifen zu können, war für jeden Bewohner der Hemisphäre eine Identitätsplatte, die alle Daten seines Lebens registrierte, in einer Maschine gestanzt und eingeordnet worden. Lockridge ging zum Gedankenraster und dachte ein Kodewort. Es entsprach dem Biogramm eines Mannes namens Darvast, 05-874-623-189, geboren vor 30 Jahren, erzogen in Creche 935 und auf der Kriegsakademie, im Sondereinsatz bei Direktor Brann stehend, politisch zuverlässig und Träger hoher Auszeichnungen für die erfolgreiche Ausführung gefährlicher Einsätze. Der Posten salutierte mit über die Brust gelegtem Arm. »Sie können passieren, Sonderagent.«
Trotz der riesenhaften Ausmaße öffnete sich das Tor fast lautlos. Der Pulsschlag der Stadt drang heraus, mit ihm eine Welle ungesunder, fauliger Luft. Lockridge betrat die Stadt.
In der kurzen Zeit, die ihnen zur Verfügung gestanden hatte hatten Lockridges Berater ihm nur einen allgemeinen Lageplan der Stadt geben können. Er mußte sich auf seinen Instinkt verlassen, kannte aber mehr oder weniger die Richtung, in die er sich wenden mußte.
Branns Turm war unverkennbar gewesen mit seinem Stahlkleid und der Kugel aus blauer Flamme auf der Spitze. Er mußte etwa zwei Meilen entfernt liegen. Lockridge begann seinen Marsch. Er stellte fest, daß er die Stadt am Fuße menschlicher Behausungen betreten hatte; sie dehnte sich tief unter die Erde aus, aber dort unten hausten nur Maschinen mit einigen wenigen Ingenieuren und einer Million Sträflinge, die zwischen Abgasen und Radioaktivität kein langes Leben vor sich hatten. Schmutzige, rußige Mauern teilten einen schmalen Fußgängerweg ab. Die Luft vibrierte und stank. Um Lockridge drängten sich die Nichtstuer, Gesetzesübertreter, die noch nicht gefaßt worden waren. Ihre Kleidung war schäbig, mit ihrer talgigweißen Haut erinnerten sie an die Leiber toter Fische. Keiner von ihnen wirkte hungrig – von Maschinen hergestellte Nahrung wurde frei an jeden in der ihm zugeteilten Unterkunft verabfolgt –, aber Lockridge hatte trotzdem das Gefühl, daß seine Lungen vom Geruch ungewaschener Körper vergiftet würden.
Wo immer seine Uniform auftauchte, breitete sich Stille aus. Er brauchte sich nicht wie andere durch die Menge drängen; die Menschen drückten sich, ihm den Rücken kehrend, an die Wände, blickten zu Boden und taten, als existierten sie nicht.
Ihre Vorfahren waren noch Amerikaner gewesen!
Lockridge war froh, als er einen aufwärts führenden Gang erreichte, in dem er von seinem Schwerkraftgurt Gebrauch machen konnte. Oben lagen Stockwerke mit großen, peinlich sauberen Hallen und Korridoren. Die Türen waren geschlossen, nur wenige Gestalten bevölkerten die Räume, denn die Klasse der Techniker brauchte nicht ununterbrochen für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Die Männer, denen er begegnete, trugen Uniformen aus gutem Material, und ihr Gang verriet das Wissen um ihre Stellung. Sie grüßten Lockridge.
Dann kam eine Gruppe grau gekleideter Gestalten vorüber, die von einem bewaffneten Soldaten angeführt wurde. Ihre Schädel waren kahlgeschoren, ihre Gesichter wirkten tot. Lockridge wußte, daß es sich um unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher handelte. Die genetische Kontrolle erstreckte sich noch nicht auf die ganze Persönlichkeit, noch war die Schulung immer erfolgreich. Um diesen Menschen die Maschinen hier unten anvertrauen zu können, waren ihre Gehirne durch ein Kraftfeld verhärtet worden. Vollkommene Automation wäre wirkungsvoller gewesen als der Einsatz von Zwangsarbeitern, aber man brauchte abschreckende Beispiele. Noch wichtiger war es, die Bevölkerung ständig beschäftigt zu halten. Lockridges Gesicht verriet nicht, daß er gegen aufsteigende Übelkeit ankämpfte.
Er erinnerte sich daran, daß auf die Dauer kein Staat existieren konnte, der nicht der zumindest passiven Unterstützung einer großen Mehrheit gewiß sein konnte. Hier aber herrschte letzte Scheußlichkeit. Alle, gleichgültig, welcher sozialen Klasse sie entstammten, nahmen die Herrschaft der Rangers als etwas Unabänderliches hin, konnten sich ein Leben ohne Zwang von oben nicht vorstellen, erfreuten sich sogar dieses Lebens unter ständigem Druck. Ihre Herren ernährten sie, sorgten für ihre Unterkunft, kleideten sie, trugen die Verantwortung für ihre Ausbildung, pflegten sie, wenn sie erkrankten, und dachten für sie. Man konnte hoch steigen als Ingenieur, Wissenschaftler, Soldat oder Impresario immer ausgeklügelterer und raffinierterer Vergnügungsunternehmen. Um weiterzukommen, mußte man andere ausschalten. Natürlich strebte man nicht danach, in die höchsten Stellen zu gelangen. Diese wurden durch die Entscheidungen von Maschinen besetzt, die man für klüger als jeden Sterblichen hielt, und wenn jemand das Glück hatte, in der Nähe einer solchen Größe zu arbeiten, nahm er die Gewohnheiten eines Wachhundes an.
Wie Darvast, dachte Lockridge. Ich darf nicht vergessen, hinter wessen Maske ich mich verberge. Er eilte weiter.
Die Sonne brach gerade durch die Wolken, als er die Dächer hinter sich ließ und Branns Festung zustrebte. Posten machten ihre Kontrollgänge auf den Mauern, die Rohre schwerer Waffen drohten, Flugzeuge umrundeten die feurige Kugel auf der Spitze des Turmes. In dieser Höhe war die Luft rein und kalt, das Dröhnen der Stadt drang nur wie ein Flüstern herauf. Lockridge landete, wie ihm befohlen war, und mußte sich erneut ausweisen. Dann folgten drei zermürbende Stunden des Durchlaufens bürokratischer Institutionen und des Wartens, weil der Herr noch nicht bereit war, jemanden zu empfangen. Lockridge ließ sich in einem kleinen, einfach eingerichteten Raum nieder. Sein Plan war einfach genug. Zuerst mit Brann sprechen, dann Flucht. In den Kellergewölben befand sich ein Zeittor, das einen Zugang in dieses Jahr besaß. Vielleicht brachte die Flucht ihm den Tod; vielleicht vermochte er seine Verfolger abzuschütteln, nach Europa zu gelangen, einen der Tunnel zu finden, von denen man ihm berichtet hatte, und nach Hause zurückzukehren.
Eine Stimme aus der Luft sagte: »Wachtruppführer Darvast, der Direktor wird Sie jetzt empfangen.«
Lockridge durchschritt eine Mauer, die sich vor ihm teilte, und kam in ein Vorzimmer mit gepanzerten Wänden. Die Soldaten, die sich darin aufhielten, forderten ihn auf, sich zu entkleiden und durchsuchten ihn und seine Sachen sorgfältig und rücksichtsvoll zugleich. Als er sich wieder ankleidete, durfte er seinen Diaglossa behalten, nicht aber den Schwerkraftgürtel. Eine Doppeltür öffnete sich und gab den Blick auf einen großen Raum mit hoher Decke frei, dessen Wände und Fußboden in Grau ausgelegt waren.
Brann saß neben einem blitzenden Automaten. Seine schlanke, schwarz gekleidete Gestalt schien entspannt, das Gesicht hätte einer Statue gehören können. Er sagte ruhig: »Es muß Ihnen bewußt geworden sein, daß ein Mensch wie Sie mir nicht nahe genug steht, um mir dem Namen nach bekannt zu sein. Auf der anderen Seite ist die Tatsache, daß Sie die Identifizierungskontrolle passieren konnten, so bedeutend, daß ich mich entschieden habe, Sie anzuhören. Nur meine Stummen beobachten uns. Ich nehme an, daß Sie keine lächerlichen Attentatsversuche im Sinn haben. Sprechen Sie!«
Lockridge sah den anderen an, und der Gedanke traf ihn wie ein Fausthieb: Ich bin diesem Mann vor 600 Jahren begegnet und habe mit ihm gekämpft, und doch ist dies das erstemal, daß er mich sieht!
Brann wartete. Lockridge fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Nein«, sagte er. »Ich meine ... ich bin kein Ranger, aber ich stehe auf Ihrer Seite. Ich habe Ihnen etwas zu berichten, von dem ich glaube, es liege Ihnen daran, es geheimzuhalten.«
Brann musterte ihn mit unbewegter Miene. »Nehmen Sie Ihren Helm ab«, sagte er. Lockridge tat es. »Archaischer Typ«, murmelte Brann. »Ich dachte es mir. Die meisten Menschen würden es nicht bemerken, aber mir sind zu viele Rassen in zu vielen Zeitabschnitten begegnet. Wer sind Sie?«
»Malcolm ... Lockridge ... USA. Mitte des 20. Jahrhunderts.«
»Aha.« Brann überlegte. Ein Lächeln veränderte ihn plötzlich. »Setzen Sie sich doch«, sagte er einladend. Er berührte ein Lämpchen des Automaten. Ein Fach öffnete sich und gab eine Flasche und zwei Gläser frei. »Sie müßten eigentlich Wein lieben.«
»Ich hätte nichts gegen einen guten Tropfen«, nickte Lockridge. Die Erinnerung, schon einmal mit Brann getrunken zu haben, ließ ihn das Glas in zwei Zügen leeren. Brann schenkte ihm wieder ein. »Lassen Sie sich Zeit«, sagte er.
»Nein, ich muß ... Hören Sie! Die Koriach aus der Westmark. Kennen Sie sie?«
Brann behielt seine Ruhe, aber sein Gesicht nahm wieder den maskenhaften Ausdruck an. »Ja. In immer neuen Zeitabschnitten.«
»Sie bereitet ein Unternehmen gegen Sie vor.«
»Ich weiß. Das heißt, sie verschwand vor einiger Zeit, zweifellos in einer wichtigen Angelegenheit.« Brann beugte sich vor. Sein Blick wurde hart. Mit tiefer Stimme fuhr er fort: »Wissen Sie Näheres?«
»Ja. Sie hat sich in mein Jahrhundert begeben – in mein Land, um einen Tunnel hierher vorzutreiben.«
»Was? Unmöglich! Wir würden es wissen.«
»Sie haben ihre Arbeit gut getarnt. Einheimische Arbeitskräfte, einheimisches Baumaterial. Wenn der Tunnel fertiggestellt ist, werden die Wardens mit allen verfügbaren Kräften anrücken.«
Branns Faust dröhnte auf die Maschine. Er sprang auf. »Beide Seiten haben das schon einmal versucht«, widersprach er. »Keiner ist es gelungen. Die Aufgabe kann nicht gelöst werden.«
Lockridge musterte die Gestalt, die vor ihm aufragte: »Diesmal hat es den Anschein, als sollte es gelingen. Die Tarnung ist vollkommen, kann ich Ihnen versichern.«
Brann begann auf und ab zu gehen. Lockridge lehnte sich zurück und beobachtete ihn. Es kam ihm zu Bewußtsein, daß Brann keineswegs bösartig war. In Avildaro hatte er – das heißt, würde er von seinen Yuthoaz lobend sprechen, weil sie unnötige Grausamkeit vermieden. Die Qual, die sich in seiner Miene spiegelte war echt. Das Böse hatte ihn geschaffen, und er diente ihm, aber hinter diesen grauen Augen lag die Unschuld des Tigers. Lockridges Stimme klang fast mitleidig, als er fortfuhr:
»Sie müssen ihr Einhalt gebieten. Ich kann Ihnen genau sagen, wo sich der Tunnel befindet. Wenn sich sein Tor hierher öffnet, müssen Sie zuschlagen. Sie wird nur einige wenige Helfer bei sich haben. Sie werden sich ihrer nicht bemächtigen können, sie wird entkommen, aber es wird sich Ihnen später eine andere Gelegenheit bieten.«
Sich mehr oder weniger an die Wahrheit haltend, sprach er von seinen eigenen Erfahrungen bis zu dem Zeitpunkt, als er mit Storm in Avildaro ankam. »Sie behauptete, ihre Göttin zu sein«, sagte er, »und stand einem ziemlich lasterhaften Festgelage vor. Von diesem Zeitpunkt an betrachtete ich sie mit anderen Augen. Dann kamen Sie an der Spitze einer Gruppe indo-europäischer Krieger, eroberten den Ort und nahmen uns gefangen. Ich konnte entkommen. Damals glaubte ich an Glück, aber jetzt nehme ich an, daß Sie mich absichtlich nur oberflächlich bewachen ließen. Ich schlug mich nach Flandern durch, wo ich auf einem iberischen Handelsschiff als Matrose anheuern konnte. Schließlich gelangte ich nach Kreta, wo ich Verbindung mit den Wardens aufnahm. Sie schickten mich in dieses Jahr. Ich wollte nach Hause zurückkehren. Dies ist nicht mein Krieg. Aber sie ließen es nicht zu.«
»Natürlich nicht«, sagte Brann, der seine Selbstbeherrschung wiedergefunden hatte. »Der Hauptgrund liegt in ihrem Aberglauben. Sie halten sie für heilig, eine unsterbliche Verkörperung der Göttin, wie ihre Gefährtinnen. Sie, der ihr begegnete, sind nun selbst zu heilig geworden, als daß man Sie profanierte, der gewöhnliche Bürger eines Zeitalters zu werden, das sie verabscheuen.«
Lockridge war verblüfft, wie leicht die Geschichte, die von den Wardens erdacht war, für bare Münze genommen wurde. Konnte Branns Idee am Ende wahr sein?
»Sonst wurde ich nicht schlecht behandelt«, fuhr Lockridge fort. »Ich schloß sogar Freundschaft mit einer recht angesehenen Dame.«
Brann zuckte nur die Achseln.
»Sie war es auch, die mich schließlich mit diesem Überwachungsauftrag fortschickte, zu dem ich in eine Ihrer Uniformen schlüpfen konnte. Das war gestern abend. Da ich mich mit der Identität dieses Darvast auskannte ...« Er spreizte die Hände. »Hier bin ich nun jedenfalls.«
Brann stand eine volle Minute reglos, bevor er fragte: »Wie ist die genaue geographische Lage dieses Tunnels?«
Lockridge erklärte es ihm. »Ich frage mich, warum Sie sich nicht ein paar Monate zurückversetzen, um sie zu warnen.«
»Sie können nicht«, erwiderte Brann geistesabwesend. »Was gewesen ist, muß sein. Praktisch gesprochen: eine Koriach genießt absolute Autorität, mehr als selbst ein Direktor wie ich. Sie gibt ihre Pläne niemandem preis, den sie nicht selbst erwählt. Aus Furcht vor Spionage hat sie wahrscheinlich zu niemandem außer den wenigen Technikern, die sie mitnahm, davon gesprochen. Dafür blieb Zeit genug, wenn der Tunnel fertig war. Nun fehlt die Zeit plötzlich, eine Streitmacht der Wardens aufzustellen, die wirksam in der Vergangenheit operieren kann. Die sie schicken konnte, sind wahrscheinlich durch den Unsicherheitsfaktor verwirrt worden; sie tauchten entweder zu früh oder zu spät auf. Das heißt, falls überhaupt jemand ausgesandt wurde. Sie hat Rivalen, die nicht um ihren Verlust trauern würden.« Er musterte Lockridge lange, ehe er fortfuhr: »Angenommen, Ihre Meldung entspricht den Tatsachen, so bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet. Sie können sich darauf verlassen, zurückgeschickt und reichlich belohnt zu werden. Zuerst müssen wir jedoch Ihre ehrliche Absicht durch eine Seelenerforschung feststellen.«
Furcht stieg in Lockridge auf. Er kam dem Augenblick, nach dem seine Zukunft unbekannt war, immer näher.
»Nein«, sagte Lockridge schwach. »Bitte nicht. Ich habe gesehen, was dabei geschieht.« Er brauchte für seine Flucht einen Grund, der Brann nicht davon abhalten würde, nach Storms Zeittor zu suchen und seine Truppen hindurchzuschicken. Aber seine Furcht war echt. Er hatte nicht den verdunkelten Teil des Landhauses vergessen.
»Sie brauchen nichts zu befürchten«, sagte Brann mit leichter Ungeduld. »Die Behandlung wird oberflächlich bleiben, sofern nichts Verdächtiges zum Vorschein kommt.«
»Woher weiß ich, daß Sie die Wahrheit sprechen?« Lockridge stand auf und wich zurück.
»Sie müssen meinem Wort glauben. Und zugleich meine Entschuldigung annehmen.« Brann machte eine Geste. Die Tür öffnete sich, zwei Posten traten ein. »Bringen Sie diesen Mann auf Abteilung 8 und sagen Sie dem Abteilungsleiter, er soll mich anrufen«, befahl Brann.
Die Männer in Schwarz führten Lockridge über einen leeren Gang. Alle Laute klangen gedämpft, kein Wort wurde gesprochen. Lockridge holte tief Atem. Okay, alter Junge, dachte er. Du weißt, daß du es bis zum Zeittunnel schaffen mußt. Mit einem Schlag arbeiteten seine Gedanken klar.
Der Gang, den er brauchte, kam in Sicht. Der Eingang war ein Oval in der kahlen Wand. Die Soldaten führten Lockridge daran vorüber. Sie hatten die Energiepistolen gezogen, die Mündungen jedoch nicht auf ihn gerichtet. Gefangene machten hier selten Scherereien. Lockridge blieb mit einem Ruck stehen. Seine Handkante traf den Adamsapfel des Wächters zu seiner Rechten. Der Helm rutschte ins Genick, die Gestalt landete auf allen vieren. Lockridge wirbelte nach links herum. Die Schulter, hinter der sein Gewicht lag, traf den anderen Wächter. Der Mann taumelte rückwärts auf das Oval zu. Lockridge packte ihn und zerrte ihn mit in den Schacht. Gemeinsam stürzten sie hinab. Eine Alarmsirene schrillte. Die vieläugige Maschine, die der Bau darstellte, hatte das Ungewöhnliche wahrgenommen und rief seine Kenntnis in fast menschlicher Stimme hinaus. Die Wände des Schachtes jagten vorüber. Lockridge umklammerte den Ranger mit einem Arm, während die andere Faust während des ganzen Falls das Gesicht des Uniformierten bearbeitete, bis die Gestalt schlaff wurde und die Waffe ihrer Hand entfiel. Lockridge tastete den Mechanismus seines Gurtes ab. Wo, zum Henker, steckte ...?
Tür nach Tür jagte nach oben vorbei. Zweimal zuckten Energieblitze aus ihnen. Und nun raste der Boden Lockridge entgegen. Er fand die Scheibe, die er brauchte, und drehte sie. Die plötzlich einwirkende Bremskraft riß den Ranger fast aus seinem Griff. Aber die Verlangsamung des Falles bewahrte sie davor, am Boden zerschmettert zu werden. Der Boden des Schachtes mündete auf einen anderen Gang. Zwei Posten starrten sie über die drohenden Mündungen ihrer Pistolen an. Eine Gruppe Uniformierter donnerte im Laufschritt durch den Gang heran.
»Nehmen Sie diesen Mann fest!« keuchte Lockridge. »Und lassen Sie mich durch!«
Er trug Uniform und die Abzeichen eines hohen Ranges. Arme zuckten salutierend empor. Lockridge sprang in den Vorraum. Die Stimme Branns dröhnte wie die Stimme des Jüngsten Gerichtes:
»Achtung! Achtung! Hier spricht der Direktor. Ein Mann in der Uniform eines Wachtruppführers hat soeben den Behelfsdurchgang auf Unterabschnitt neun betreten. Er ist unter allen Umständen gefangenzunehmen.«
Durch das Tor! Der wirbelnde Schock des Phasenwechsels brachte Lockridge zu Fall. Instinktiv rollte er über die Schulter ab, wobei sein Kopf hart auf den Boden schlug. Schmerz durchzuckte ihn, und er lag ein paar Sekunden halb betäubt. Die Furcht vor der Seelenerforschungsmaschine brachte ihn wieder zu sich. Er richtete sich auf und warf sich auf einen der wartenden Schwerkraftschlitten. Ein halbes Dutzend Verfolger strömte durch den Vorhang. Lockridge preßte sich an den Boden des Gefährts. Betäubungsstrahlen trafen die Panzerung um ihn. Er hob eine Hand und führte sie über die Beschleunigungsskala. Der Schlitten setzte sich in Bewegung.
Er entfernte sich von den Rangers. Aber sie befanden sich auf der Seite seiner Vergangenheit. Der Schlitten führte ihn der Zukunft entgegen. Er warf einen Blick zurück. Schon wurden die schwarzen Gestalten kleiner und kleiner.
»Ich habe dir gedient, Koriach«, murmelte Lockridge. »Göttin, hilf mir!«
Wie aus weiter Ferne klangen Branns Befehle durch die vibrierende Weiße des Schachtes. Die Verfolger formierten sich. Von ihren Schwerkraftgeräten angehoben, machten sie sich an die Verfolgung. Lockridge sah kein Ende des Tunnels, kein Tor voraus. Der Schlitten kam zum Stehen. Er hämmerte mit der Faust auf die Kontrollknöpfe. Die fliegenden Gestalten näherten sich. Lockridge sprang ab und begann zu laufen. Ein Strahl traf den Boden hinter ihm, streifte seine Ferse. Ein Siegesruf erklang. Und dann kamen die Nacht und die Furcht. Lockridge wußte nicht, was mit ihm geschah.