16
»Guten Morgen, Malcolm Lockridge«, sagte ein Mann. »Sie sind bei Freunden«, sagte die Stimme einer Frau. Die beiden sprachen Kentucky-Dialekt.
Er setzte sich auf. Der Mann und die Frau traten näher. Beide waren groß und von mittlerem Alter. Ihr Haar endete unterhalb der Ohren und wurde von reich verzierten Bändern zusammengehalten. Außer diesem Schmuck trugen sie nichts, wenn man von dem mit einer Tasche versehenen Band um das linke Handgelenk absah. Lockridge stellte fest, daß auch er nackt war. Er tastete nach seiner Gelenktasche. Die Frau lächelte. »Ja, Ihre Diaglossas sind da«, sagte sie. »Ich nehme an, mehr brauchen Sie nicht.«
»Wer sind Sie?« fragte Lockridge verwundert.
Sie wurden ernst. »Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß Sie nicht lange bei uns sein werden«, erwiderte der Mann. »Nennen Sie uns John und Mary.«
»Und ... jetzt ist wann?«
»Tausend Jahre später.«
Die Stimme der Frau klang mitleidig, als sie sagte: »Wir wissen, daß Sie durch einen Alptraum gegangen sind. Aber wir hatten keine andere Möglichkeit, diese Leute zurückzuschlagen, wenn wir sie nicht umbringen wollten. Ihre Heilung vollzog sich, während Sie schliefen.«
»Sie werden mich in meine Heimat schicken?«
Schmerz zeigte sich in den Zügen der Frau. »Ja.«
»Ich meine nicht meine eigentliche Heimat. Ich meine Europa zur Zeit der Wardens.«
»Ich weiß. Kommen Sie.«
Sie gingen hinaus. Lockridge suchte zu begreifen. »Ich verstehe, daß Sie mit niemandem aus der Vergangenheit zu tun haben wollen. Was bedeute ich Ihnen also?«
»Bestimmung«, sagte John. »Das grausigste Wort, das ein Mensch aussprechen kann.«
»Sie meinen ...? Meine Arbeit ist noch nicht beendet?«
»Nein«, sagte Mary und griff nach seiner Hand.
»Ich darf Ihnen nicht mehr erzählen«, sagte John. »In Ihrem eigenen Interesse. Der Zeitkrieg war der Tiefpunkt menschlicher Erniedrigung, nicht zuletzt, weil er den freien Willen verleugnete.«
»Aber die Zeit ist etwas Feststehendes, nicht wahr?«
»Vom göttlichen Standpunkt aus vielleicht«, sagte John. »Aber die Menschen sind keine Götter. Sehen Sie sich selbst an. Sie wissen, daß Sie Ihre Wahl frei treffen. Oder nicht? Im Zeitkrieg versuchten die Menschen, alles Schreckliche, was sie taten, dadurch zu rechtfertigen, daß es sich ohnehin ereignen würde. Doch sie waren selbst und direkt für mehr Tyrannei, Tod, Haß und Leiden verantwortlich, als ich aufzählen könnte. Wir von heute sind klüger, als daß wir in unsere eigene Zukunft blicken, und wir begeben uns nur heimlich, als Beobachter, in die verdammenswerte Vergangenheit.«
»Mich ausgenommen«, sagte Lockridge leicht verärgert.
»Es tut mir leid. Dies ist ein Unrecht, das wir begehen müssen, um ein größeres Unrecht zu verhindern.« Er sah Lockridge fest an. »Ich tröste mich damit, daß Sie Manns genug sind, es zu ertragen.«
»Nun ...« Lockridge spürte die Trockenheit seiner Lippen. »Okay. Ich bin Ihnen jedenfalls dankbar, daß Sie dort im Tunnel eingriffen.«
»Wir werden es nicht wieder tun«, sagte Mary.
Sie traten auf die Straße hinaus. Dies schien eine stattliche Ortschaft zu sein, mit Häusern, die sich weit unter hohen Bäumen erstreckten. Eine Maschine, die von niemandem bedient wurde, mähte den Rasen. Gut aussehende Menschen schritten ohne Eile dahin. Einige waren nackt, andere schienen der Ansicht zu sein, daß eine leichte Tunika dem Wetter besser entsprach. Lockridge bemerkte, daß John mit Achtung gegrüßt wurde.
»Sie müssen ein bedeutender Mann sein«, sagte er.
»Festländischer Ratsherr.« Liebe und Stolz sprachen aus Marys Stimme.
Nach einer Weile kamen sie an ein Gelände, das durch eine Hecke abgegrenzt war. John berührte ein Blatt, und die Zweige teilten sich. Dahinter lag ein wie ein Torpedo geformtes Fahrzeug, in das sie stiegen. Die vordere Kabine war eine durchsichtige Blase, aber es waren keine Steuergeräte sichtbar. Am Heck, hinter einem Durchgang, sah Lockridge – Maschinen? Formen? Was immer die Gebilde sein mochten, sie hatten keine festen Umrisse, sondern schienen unmöglichen Kurven in unendliche Ausdehnungen zu folgen.
John setzte sich. Lautlos hob sich das Schiff. Schnell blieb die Erde zurück, bis Lockridge unter dunklem Himmel die ganze Ostküste überblicken konnte. Größtenteils war das Land grün – wie lange hatten die Menschen gebraucht, um das unheilvolle Wirken der Rangers vergessen zu machen? –, aber im Süden dehnte sich mehrere Meilen weit ein mächtiger Gebäudekomplex. Die Gebäude zeugten von Geschmack, die Luft um sie war rein, und Lockridge erkannte Parkanlagen. »Ich dachte, die Wardens bauten keine Städte«, sagte er.
»Sie tun es auch nicht«, erwiderte John. »Aber wir.«
Lockridges Überlegungen wurden durch das Erscheinen eines silbrig leuchtenden eiförmigen Körpers unterbrochen, der sich über den Horizont hob. Er schätzte die Entfernung ab und dachte: Mein Gott, dieses Ding muß eine halbe Meile lang sein! »Was ist es?«
»Der Plejadenkreuzer«, sagte John.
»Aber in Storms Jahren konnten sie die Sterne nicht erreichen!«
»Nein. Sie waren zu beschäftigt damit, einander umzubringen.«
Ihr Gefährt beschleunigte. Amerika verschwand in der Einsamkeit eines Ozeans, der sich nie veränderte. Lockridge begann, weitere Fragen zu stellen. Mary schüttelte den Kopf. Tränen verschleierten ihren Blick.
Nach kurzer Zeit kam Europa in Sicht. Das Gefährt, das sie trug, verursachte kein Geräusch, als es sich abwärts senkte. Sie waren immer noch so hoch, daß die Küste wie eine Landkarte unter ihnen abrollte.
»Sie steuern ja Dänemark an!«
»Wir müssen«, sagte John. »Sie können Ihren Bestimmungsort auf dem Landwege erreichen.«
Das Fahrzeug blieb in der Luft stehen und hing in Sicht des Limfjords. Lockridge sah eine Herde bunt gemusterter Tiere. Waren sie von einem anderen Planeten? Nahe der Einmündung der Bucht erhob sich eine Stadt. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit der die er gerade verlassen hatte, und er war froh darüber. Er hatte sich nie mit dem Gedanken an eine Welt, in der alles gleichförmig war, abfinden können. Rote Mauern und kupferne Turmspitzen erinnerten ihn an das Kopenhagen, das er gekannt hatte.
Nun gut, sagte er sich, was immer mir noch zu tun bleibt, wird wahrscheinlich für eine gute Sache sein.
»Ich wünschte, wir könnten Ihnen mehr zeigen, Malcolm«, sagte Mary leise. »Aber hier verlassen wir Sie.«
»Wie? Wo ist Ihr Tunnel?«
»Wir haben einen anderen Weg gefunden«, sagte John. »Dieses Gerät wird uns ans Ziel bringen.« Die Maschine landete weich. »Steigen Sie schnell aus. Wir dürfen nicht riskieren, beobachtet zu werden.« Er griff nach der Hand seines Passagiers. »Leben Sie wohl!« sagte er rauh.
»Leben Sie wohl«, sagte auch Mary und küßte ihn. Die Tür glitt zurück. Er sprang hinaus. Das Gefährt hob sich und verschwand.