34
Sobald sie auf der von Sternen beschienenen Terrasse standen, stellte Sahara den Laptop ab und borgte sich Kalebs Handy aus, um Faith anzurufen. Ihr eigenes Handy lag noch im Baumhaus. »Ich bin in Sicherheit«, sagte sie. »Was ist mit dir? Und mit Mercy? Mit den Babys?«
»Uns geht es gut. Mercy hat die Sanitäter fast bei lebendigem Leib gefressen, als ich sie zwingen wollte, sich untersuchen zu lassen«, sagte Faith lachend. »Dann ist Riley aufgetaucht, und sie hat es doch über sich ergehen lassen, weil er krank vor Sorge war – doch es ist alles in Ordnung. Nicht ein Kratzer und laut ihrem heldenhaften Gefährten haben die Wolfsleoparden die Aufregung genossen.«
Erleichtert erklärte Sahara, sie werde vor Einbruch der Nacht wieder zurück sein, und legte auf, bevor ihre Cousine fragen konnte, wo sie jetzt war.
»Du musst etwas essen«, befahl Kaleb, als sie ihm das Handy zurückgab und zeigte auf eine Reihe Energieriegel, die mittlerweile auf dem kleinen Tisch neben der Sonnenliege aufgetaucht waren. »Du bist noch nicht gesund genug, um Mahlzeiten auszulassen.«
»Ich bin auch am Verhungern«, sagte sie und setzte sich. Sie streifte Schuhe und Pistolenholster ab und nahm sich einen Riegel. »Es strengt mich nicht an, meine Gabe einzusetzen, verbraucht aber geistige Energie.« Ebenso wie die telepathischen Kontakte zu Kaleb, aber das hatte sie schon in ihren Kalorienverbrauch mit eingerechnet.
Kaleb lehnte sich an das Geländer und schwieg, bis sie fertig gegessen und getrunken hatte. »Du gehst viel selbstbewusster mit deinen Fähigkeiten um.« Der Ausdruck auf seinem Gesicht war nicht zu deuten, doch in seinem eisigen Ton lag Anerkennung. »Deine Ablehnung habe ich nie geteilt.«
»Ich war jung.« Sie lächelte, als ein zweiter Energieriegel auf sie zuschwebte. »Und du warst schon immer überbehütend.« Sie griff nach dem Riegel und riss das Papier ab.
»Du bist mir wichtig.«
So einfach. So ehrlich. So übermächtig.
Sie strich sich mit der Hand über die linke Brust und teilte ihre Geheimnisse mit dem einzigen Individuum, das sie nie verraten oder benutzen würde. Es war kein Widerspruch für sie, dass dieselbe Person ein weltumspannendes Imperium gründen wollte. »Meine Gabe ist stärker geworden.« Mit sechzehn war sie noch nicht gefestigt gewesen, deshalb konnte Tatiana sie überhaupt einsperren. Einmal gefangen, hatte sie nicht mehr ausbrechen können – Sahara konnte durch jeden Schild gelangen, nur nicht durch einen, der ihren Geist umschloss.
Das war ihre größte Schwäche, ein natürlicher Ausgleich für die Macht, die sie in Händen hielt.
Niemand konnte sie jetzt noch so leicht einkerkern, doch vor sieben Jahren war sie ein verängstigtes Mädchen gewesen und Tatiana eine mächtige Telepathin, die Erfahrung mit mentaler Gewalt besaß. Auch Enrique musste eine Rolle dabei gespielt haben – die Übelkeit, die in ihr aufstieg, sobald sie an ihn dachte, war Beweis genug.
»Sobald ich in den Schilden Tatianas eingeschlossen war, erstickte sie meine Fähigkeiten, von kurzen Momenten der ›Freiheit‹ abgesehen, in denen ich sie benutzen sollte.« Die ehemalige Ratsfrau hatte Sahara brechen wollen, bis sie ihr aus der Hand gefressen und ihre Gabe nicht mehr gegen sie verwandt hätte. »Doch die gewaltsame Komprimierung meiner Kräfte hat das Wachstum auf eine Weise beschleunigt, mit der Tatiana nicht gerechnet hat.« Sahara hatte diese Entwicklung im Labyrinth versteckt, denn Tatiana konnte chaotische Zustände nicht aushalten. »Ich muss niemanden mehr berühren – ich muss ihm nur noch nahe kommen.«
»Dadurch entfällt eine gefährliche Verletzlichkeit«, sagte Kaleb so frostig, dass er sicher an die hässlichen Dinge dachte, die ihr zugestoßen waren. »Wenn dich jemand früher außer Gefecht gesetzt hat, warst du hilflos, solange er aufpasste, dass er dich nicht unabsichtlich berührte.«
Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. »Setz dich doch zu mir. Ich kann es nicht ertragen, wenn du so allein im Dunkeln stehst.«
Er kam, setzte sich nicht zu ihr, sondern auf den Boden und lehnte sich an ihre Beine. Sie öffnete die Knie und zog ihn zu sich, fuhr ihm mit den Fingern durch das weiche Haar.
»Ich bin im Dunkeln mehr zur Hause als im Licht«, sagte er leise.
»Das weiß ich.« Es schmerzte sie, und dennoch war es wie ein Wunder, hier mit ihm unter dem glitzernden Sternenhimmel zu sitzen und zu wissen, dass er ihr gehörte. In diesem Moment zählte nichts anderes, weder der Bürgerkrieg, noch sein zerstörtes Gewissen, noch ihr Verdacht, er könnte Dinge getan haben, die durch nichts zu rechtfertigen waren. Es gab nur die samtschwarze Nacht und Kalebs warmen Körper. »Aber ich kann nicht ertragen, wenn du einsam bist.«
Er griff nach ihrer Hand und küsste die Handfläche. »Ich spüre dich in mir, in jedem Augenblick.«
Mit brennenden Augen schlang sie die Arme um ihn und legte den Kopf an seine Wange. »Ich habe noch etwas entdeckt, das sehr problematisch werden kann«, sagte sie. »Die Telepathin, die mich ausbildete, hat es nicht bemerkt, und ich zu der Zeit ebenso wenig, wahrscheinlich weil die Tests an Freiwilligen durchgeführt wurden.« Sie richtete sich wieder auf und spielte erneut mit den Fingern in seinem Haar. »Ich gehe kein Risiko ein, wenn ich in einen Verstand eindringe, Erinnerungen durchkämme, sie neu ordne oder auslösche, selbst dann nicht, wenn ich völlig neue hinzufüge.«
Kaleb streichelte ihre Wade. »Dafür brauchte Tatiana dich nicht. Sie kann selbst durch Schilde dringen, obwohl du mit dem Skalpell arbeitest und sie eher mit Hammer und Meißel.«
»Du hast recht, sie wollte natürlich die Kontrolle, die ich ausüben kann.« Tatiana konnte auch die Gedanken anderer kontrollieren, doch auf Dauer erschöpfte sie das physisch und psychisch und laugte sie völlig aus, selbst wenn es nur um eine Person ging. »Sie wollte durch mich zu noch mehr Macht gelangen.«
Angesichts ihrer Gabe hatte es eine Menge zu bedeuten, dass Kaleb seinen Kopf nun in ihre Hände legte. Nie war er vor ihr zurückgeschreckt, seit sie ihm gebeichtet hatte, was sie vermochte. Er hatte sie nur darum gebeten, nie in sein Gehirn einzudringen.
Ich möchte nicht, dass du siehst, was ich getan habe.
Das Versprechen war so tief in ihr eingebrannt, dass sie nicht einmal versucht gewesen war, es zu brechen, als sie noch nicht gewusst hatte, wer sie war. Kalebs Vertrauen war so wertvoll, es konnte durch nichts ersetzt werden.
»Was hast du noch entdeckt?«, fragte er mit geschlossenen Augen und ganz entspannt.
Ihr wurde ganz warm zumute, und sie küsste seine Wange. »In den ersten Jahren der Entführung brachte mich Tatiana verkleidet in die Nähe eines bestimmten Individuums und stellte durch Manipulationen einen körperlichen Kontakt her. Später sollte ich dann in das Bewusstsein der Person eindringen und sie dazu bringen, irgendwelche dummen Dinge zu tun.« Sie schluckte. »Ich habe es vor mir immer damit gerechtfertigt, dass es harmlose Tests waren, die mir Zeit verschafften.«
Kaleb hielt die Augen weiter geschlossen, fuhr mit der Hand aber unter ihr Hosenbein und umfasste den Knöchel. »Du hast Entscheidungen getroffen, um am Leben zu bleiben.« Er sah keinen Grund, warum sie sich deswegen schuldig fühlen sollte.
Sie rieb ihre Wange an seiner. »Aber ich habe zu lange gebraucht, ehe ich bemerkte, dass ich jedes Mal ein Stück von mir verlor, wenn ich in einen fremden Verstand zurückkehrte.« Und es gab keine Möglichkeit, Einfluss darauf zu nehmen, welche Erinnerungen in ihrem Kopf ausgelöscht wurden. »Wenn ich weitergemacht hätte, wäre ich vielleicht eines Tages völlig leer gewesen und Tatiana hätte mich nach ihrem Willen lenken können.« Sie schüttelte sich und umarmte Kaleb fester.
Er öffnete die Lider und sah sie an. »Bist du sicher, dass ich sie nicht foltern soll? Ich könnte sie brechen, bis sie auf die Knie sinkt und um ihr Leben bettelt.«
Das Angebot war absolut ernst gemeint. Ein Teil von ihr war fast versucht, es anzunehmen – schließlich war sie keine Heilige, und Tatiana hatte ihr so viel Gewalt angetan, dass sie beinahe vergessen hatte, wie es war, ein fühlendes Wesen zu sein – doch ihre Empfindungen für Kaleb waren stärker. Er lebte im Dunkel, sie durfte ihm nicht gestatten, sich von der Finsternis schlucken zu lassen, durfte ihn nicht benutzen, wie Tatiana sie hatte benutzen wollen.
»Keine Folter.« Sie setzte sich auf und massierte seine Schultern, weil sie ihn so gern berührte. »Wir sollten uns lieber darauf konzentrieren, herauszufinden, wer für den neuerlichen Entführungsversuch verantwortlich ist.«
»Darum kümmere ich mich.«
»Aber ich kann die Wahrheit herausfinden, ohne dass jemand es merkt«, sagte sie. »Ich bin sicher, dass es einer der Wärter gewesen sein muss, niemand sonst konnte herausfinden, was ich kann – und es macht mir nichts aus, in ihre Gedanken einzudringen.« Ganz abgesehen davon, dass sie Tatiana geholfen hatten, sie zu quälen.
»Nein.«
Sahara probierte es weiter mit ruhiger Vernunft und zornigen Argumenten, doch Kaleb war nicht umzustimmen. »Ich lasse nicht zu, dass du dich jemandem näherst, der dir etwas tun könnte.«
Sie nörgelte noch eine Weile, musste dann aber zugeben, dass sie die Schlacht verloren hatte. Sie würde Kaleb niemals kontrollieren können, und sie konnte auch nicht erwarten, jede Auseinandersetzung zu gewinnen – doch in einem Punkt würde sie sich nicht beugen. »Versprich mir, dass du nicht zum Lagerhaus zurückkehrst, um den Entführer zu töten.«
»Da du ihn nicht unter Kontrolle hast, ohne deine Erinnerungen dauerhaft zu schädigen, gilt dein Argument nicht mehr, er sei lebendig nützlicher als tot.«
Deshalb brauchte sie ja sein Versprechen. »Vergiss es. Ich will seinen Tod nicht auf dem Gewissen haben.«
Kurze Pause. »Ich werde nur zurückkehren und ihn töten, wenn er sich noch einmal als Bedrohung erweist.«
»Das kann ich akzeptieren.« Sie hielt den Atem an, als er mit der Schulter die Innenseite der Schenkel berührte. Just in dem Augenblick klingelte sein Handy.
Er meldete sich und hörte zu. »Wann?« Pause. »Ich werde kommen.« Er steckte das Handy wieder ein.
»Eine Besprechung?«, fragte sie und massierte ihn wieder, denn vor der Auseinandersetzung hatte es ihm offensichtlich gefallen. »Muss ein wichtiges Geschäft sein, wenn es deine persönliche Anwesenheit erfordert.«
»Ist nichts Geschäftliches.« Kaleb legte den Kopf zur Seite, damit Sahara eine Stelle erreichen konnte, an der die Muskeln besonders fest waren. Keinen anderen hätte er so nah an seine Kehle herangelassen. Nur Sahara. »Fester«, sagte er und knöpfte das Hemd weiter auf, damit sie die bloße Haut erreichen konnte.
»So?« Eine leise Frage, als sie genau den richtigen Druck anwandte.
»Hmm.« Mit geschlossenen Augen strich er mit dem Daumen über ihren Knöchel, vollkommen entspannt. In diesen Zustand geriet er nur mit Sahara, und bislang auch nur nach Sex mit ihr.
»Im Bad vom Baumhaus steht ein kleines Fläschchen mit Öl«, sagte Sahara leise und fuhr mit den sinnlichen Berührungen fort, bei denen selbst der Teil von ihm, der in der dunklen Leere lebte, sich faul der Länge nach ausstreckte. »Es gehört zu den Toilettenartikeln, die sie mir hingestellt haben. Kannst du es holen?«
Nachdem sie ihm telepathisch ein Bild des Fläschchens und des genauen Standorts geschickt hatte, fiel es ihm nicht schwer, es zu holen. Schon erfüllte der Duft von Vanille die Luft, doch er spürte Saharas Hände nicht mehr. »Zieh das Hemd aus, damit es kein Öl abbekommt.«
Kaleb mochte sich nicht bewegen, doch er tat, worum sie ihn gebeten hatte. Als Belohnung spürte er wieder die warmen Hände, die durch das Öl leichter über die Haut glitten, die Muskeln tiefer bearbeiteten. Bestimmte Körperempfindungen konnten offenbar süchtig machen. Doch nur, wenn Saharas Schenkel an seinen Schultern lagen, und ihre Stimme ihm zuflüsterte, wie lustvoll es war, ihn zu berühren.
»Bist du eigentlich auch auf den Rebellen ›das Gespenst‹ gestoßen, als du dich neulich im Internet informiert hast?«, fragte er ein paar Minuten später, bevor die zunehmende Erregung ihm noch den Kopf vernebelte.
»Willst du gerade jetzt über Politik sprechen, da ich dich doch nach allen Regeln der Kunst verführen will?«
Er zog die lachende Sahara von der Liege auf seinen Schoß. »Du musst mich nicht verführen.« Er gehörte ihr. Auf immer und ewig. »Allerdings macht es großen Spaß.« Körperliche Intimität besaß doch mehr Nuancen, als er bislang angenommen hatte – für ihn war sie immer mit Sex verbunden gewesen.
Saharas Mundwinkel hoben sich. »Dann werde ich weitermachen.« Ein langer Kuss, ebenso besitzergreifend wie die Hände auf seinen Schultern, als sie sich zurücklehnte. »Was deine Frage betrifft … einigen weiter zurückliegenden Berichten des Bake zufolge war das Gespenst vor der Auflösung des Rats für eine Reihe von Lecks in der Geheimhaltung verantwortlich, die den Rat in Erklärungsnöte brachten. Außerdem«, sagte sie und rieb mit den Daumen über Kalebs Nackenmuskeln, »war das Gespenst gerüchteweise in die Explosion eines Labors verwickelt, in dem an einem neuronalen Chip geforscht wurde, um Leute in Silentium zu zwingen.« Ein Schauder lief durch Saharas Körper, so abstoßend war der Gedanke. »Meiner Meinung nach hat er das Medialnet gegen den Rat als Gesamtheit aufgewiegelt und so dessen Machtbasis von innen zerstört. Sein Ziel ist es wahrscheinlich, Silentium zu Fall zu bringen.«
»Genau.« Kaleb erstaunte nicht, dass es ihr in so kurzer Zeit gelungen war, so viele Informationen zu sammeln – Sahara Kyriakus war von Geburt an wissensdurstig und konnte unheimlich schnell einmal aufgenommene Informationen verarbeiten. »Das Gespenst ist gefährlich für jeden, der an der Macht ist.«
Sahara hörte auf, ihn zu massieren, die blauen Augen blickten besorgt. »Du darfst diesem Wesen nichts tun. Ihr habt doch viele gemeinsame Ziele – das Gespenst kämpft gegen die Fäule im Kern unserer Gattung, genau wie du. Ihr könntet zusammenarbeiten.«
»Es kann nicht zwei Mächtige im Medialnet geben.« Es würde nur in Teile zerfallen und die Bevölkerung entzweien. »Noch habe ich das Gespenst verschont, doch seine Zeit neigt sich dem Ende zu.«