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Sie hörte, was der Mann sagte, der so schwer einzuschätzen war wie eine Kobra vor dem Biss und bei dessen Stimme sich jedes Haar an ihrem Körper aufrichtete, doch sie wusste genau, dass er ihr etwas verschwieg. Sie konnte sich nicht erklären, ja nicht einmal in Worte fassen, was sie so sicher machte oder warum es sie so heftig danach verlangte, die eisige Fassade herunterzureißen. Nur eines war in dem Augenblick, in dem sie noch überlegen, noch denken konnte, kristallklar: Sie brauchte ihre Fähigkeiten, um der kalten Kraft standzuhalten.
Sonst würde sie nicht überleben.
Anders als die Wärter, die sie brechen wollten, würde sich der Kardinalmediale ihr gegenüber nicht von dem Labyrinth aufhalten lassen. Fest entschlossen würde er tiefer gehen und sie aus ihrem Versteck holen. Rücksichtslos, mit aller Brutalität. Nichts und niemand würde ihn aufhalten können – und schon gar nicht eine Mediale, die ihre größten Fähigkeiten beschnitten hatte.
Sie trank die süße Flüssigkeit, die er ihr in fürsorglicher Absicht gegeben hatte, mit der er aber wohl nur ihr Vertrauen gewinnen wollte. Sie …
Das Labyrinth drehte sich.
Doch dieses Mal drehte sie sich mit ihm, denn sie wollte dem Gedanken weiter folgen. Mit gefülltem Bauch, dem Gefühl von angenehmer Wärme in der Kehle und dem frischen Duft, der von Kaleb ausging … ganz anders als der männliche Schweiß, den sie gestern Nacht im Sternenlicht gerochen hatte … alles zusammen überzeugte sie davon, dass sie nicht halluzinierte.
Kaleb konnte keine Halluzination sein, von ihm ging eine Kraft aus, die der Erdanziehung nahe kam, eine stete Erinnerung an die schiere Stärke, mit der er sie durch einen Wimpernschlag aus ihrem Gefängnis in dieses Haus gebracht hatte, das ebenso gut ein weiteres Gefängnis sein konnte. In ihrem gegenwärtigen Zustand, den Geist in Stücken, ihre Fähigkeit kunstvoll in ein undurchdringliches Netz eingewoben, konnte sie das niemals überleben.
»Es gibt einen Schlüssel zu dem Labyrinth«, sagte sie leise.
Vollkommen unbeweglich saß er da, wie eine in Stein gehauene Skulptur. »Wo?«
»In meinem Kopf.« Sie sprach mehr zu sich selbst als zu ihm, während das Labyrinth weiterhin seine Gestalt veränderte, dabei aber nicht mehr die Gedanken abschnitt … was es auch nicht getan hatte, seit sie aus dem ersten wirklichen Schlaf seit Jahrhunderten erwacht war. Über eine Stunde waren ihre Gedanken vollkommen klar gewesen, waren ihr Selbst und ihre Erinnerung nicht durcheinandergeraten.
Und ihr war klar geworden, was sie getan hatte.
Es gab keine feste Anleitung, um ihren Geist zu öffnen und das Labyrinth aufzulösen. Nicht einmal sie konnte auf Kommando die kunstvolle Falle entschärfen. Folter, Elektroschläge und mentaler Zwang hatten das schützende Dickicht nur verstärkt. Selbst wenn die Wärter sie totgeschlagen oder bei lebendigem Leib verbrannt hätten, hätte das nichts gebracht.
Um den vernichtenden Vorgang, den sie selbst in Gang gesetzt hatte, wieder rückgängig zu machen, gab es nur eine Möglichkeit: Man musste sie in eine Umgebung bringen, die ihr Unterbewusstsein als »sicher« einstufte.
Ihre jetzige Situation konnte doch unmöglich dieser Vorgabe entsprechen – der Mann mit dem kohlrabenschwarzen Haar, dessen Geruch nach Eis und Kiefernholz sie so sehr anzog, dass sie ihr Gesicht gerne an seinem gerieben hätte, und dessen Augen sie stets beobachteten, war in keiner Weise, keiner Gestalt oder Form sicher. Er war ein Raubtier, hatte ohne das geringste Anzeichen von Reue von seiner Gabe gesprochen, Irrsinn auszulösen. Noch dazu lagen seine Motive, sie zu befreien, vollkommen im Dunkeln.
Dennoch entwirrte sich das Labyrinth, befreite sich ihr Geist von den Spinnweben, und sie erwachte aus einem langen Winterschlaf. Stück für Stück setzten sich Erinnerungsfetzen zu einem mottenzerfressenen Strom zusammen. Deshalb begriff sie auch sofort, was es bedeutete, als Kalebs Augen plötzlich vollkommen schwarz wurden. Er musste große Kräfte benutzen … und bei seiner Stärke hieß das, dass etwas sehr Schlimmes geschehen war oder gleich geschehen würde. »Kaleb.«
Die psychische Druckwelle erfasste Kaleb mit voller Kraft.
Es ging so schnell, dass ihm sofort klar war, welch katastrophalen Zerstörungen es gegeben haben musste. Telekinetisch verschloss er das Haus, schoss ins Medialnet und traf auf hunderttausend flackernde Sterne, die unter Schock standen.
Die einzige verletzliche Stelle der Medialen war die lebensnotwendige Versorgung durch Biofeedback im Medialnet. Durch die Verbindung im Netz konnten Mediale sich geistig zu jedem Ort der Welt hinbegeben und Informationen mit einer Geschwindigkeit austauschen, die sich andere Gattungen gar nicht vorstellen konnten. Aber dadurch konnten sie auch dem verheerenden Nachbeben nicht entkommen, wenn auf einem der Kontinente etwas Schlimmes geschah – zum Beispiel in Perth, einer Stadt in Australien.
Die Kaleb nun erreichte.
Das samtschwarze Medialnet war an einer Stelle eingedrückt und zertrümmert, die Sterne flackerten in hellroter Panik, weil ihre Konditionierung unter fürchterlichen Schmerzen zerbrach. So etwas hatte er bisher nur einmal erlebt, damals waren Hunderte Männer, Frauen und Kinder gestorben, doch Cape Dorset hatte weit weniger Einwohner gehabt als Perth.
Sobald Kaleb nahe genug war, warf er einen schützenden telepathischen Schild um die Stadt und hielt so den Zusammenbruch auf. Tausende waren sicher bereits tot. Die Implosion hatte sie so brutal und schmerzhaft vom Netz getrennt, dass die Kinder vermutlich sofort tot waren. Erwachsene würden ein paar Sekunden länger leben, die stärksten von ihnen aber auch nur höchstens eine Minute.
Das Ankernetzwerk in Perth ist zusammengebrochen, teilte er dem Anführer der Pfeilgarde mit, einer geheimen und gut ausgebildeten Kampftruppe. Backup starten. Das Backup-System, das sie still und leise aufgestellt hatten, nachdem die Makellosen Medialen Anker angegriffen hatten, war noch nicht ganz fertig.
Erledigt, meldete sich Aden kurz darauf. Ich helfe beim Schild.
Nicht nötig. Kaleb konnte den Riss selbst versiegeln. Findet lieber heraus, wie es passiert ist. Der TK-Mediale, der die ersten Morde begangen hatte, war während eines Attentats von einem Gestaltwandler getötet worden. Man hatte alle Anker benachrichtigt, die meisten hielten sich an Orten versteckt, die nur ein paar wenigen Auserwählten in der jeweiligen Region bekannt waren.
Aus verschiedenen Teilen von Perth werden Brände gemeldet, sagte Aden nach einer kurzen Pause. Vasic und ich werden dorthin teleportieren.
Kaleb verschloss das Loch im Medialnet und sprach dann zu den Leuten, deren Leben in seinen Händen lag. Hier spricht Ratsherr Kaleb Krychek. Der Titel war obsolet, würde sie aber beruhigen. Ich stabilisiere die Region gerade. Sie sind sicher.
Einfach. Sachlich. Wirksam.
Keiner hier würde je vergessen, wer ihnen geholfen hatte, als die Hölle losbrach.
Aden sah auf den Haufen verbrannter Balken, von denen schwarzer Rauch in die Mittagssonne aufstieg; das Holz glühte innen immer noch rot von den Flammen, die die Reste der kleinen Behausung verzehrten. Gerade hatte einer seiner Leute bestätigt, dass hier ein Anker gewohnt hatte, obwohl sie sich in einer Vorortsiedlung befanden, und Anker eher die Einsamkeit vorzogen.
Man hatte wohl angenommen, so würde er weniger auffallen.
Die Strategie war nicht aufgegangen, wie die Zerstörungen zeigten. »Was hast du zur Teleportation benutzt?«, fragte Aden den Mann, der ihn hergebracht hatte.
Vasic wies mit dem Kopf auf ein paar Nachbarn, die Smartphones dabeihatten. »Einer sendet live. Ich habe das Gebäude hier gesehen.«
»Gute Wahl.« Die weiß gestrichene Holzkirche stand schräg gegenüber der Brandstelle. So konnten sie gut sehen, ohne aufzufallen. »Grobes Vorgehen.« Nichts Raffiniertes, man wollte nur ein Leben auslöschen, an dem Tausende anderer Leben hingen.
»Brandbeschleuniger und ein Molotowcocktail zum Anzünden, wenn ich das richtig sehe.«
»Billig und sehr wirkungsvoll.« Aden überlegte. »Der Brandbeschleuniger ist der Schlüssel – wie ist es gelungen, genug auszuschütten, damit die Zielperson in der Falle saß?« Ein kleines Zeichen auf dem Briefkasten des Nachbarhauses gab ihm die Antwort. »Gas. Sie haben die Gasleitung angezapft, wahrscheinlich ein Loch hineingebohrt, das erklärt auch die Explosion, die von den Nachbarn beschrieben wurde. Das Opfer kann schon tot gewesen sein, bevor das Feuer ausbrach.«
»Möglich … erst recht, wenn die Makellosen Medialen Unterstützung bei der Gasgesellschaft haben.« Vasics kühler Blick verfolgte die Bemühungen der Feuerwehr, die Flammen einzudämmen, was ihnen auf einmal auch zu gelingen schien.
»Verschwende nicht deine Kräfte«, sagte Aden. Er wusste um die kinetischen Fähigkeiten Vasics. »Die Nachbarhäuser sind evakuiert, und wir müssen uns noch die anderen Tatorte anschauen.«
Vasic blickte auf den Computerhandschuh, der nach Forschungstests von zellkompatibler Hardware Teil seines Arms geworden war. Die Prozedur war risikoreich, und Aden hatte davon abgeraten, doch Vasic hatte darauf bestanden, derjenige Gardist zu sein, an dem das Experiment vorgenommen werden sollte.
Für Vasic spielte es keine Rolle, wie lange er noch lebte.
»Ich habe Bilder von allen Bränden«, sagte er.
»Dann los.«
Überall sah es gleich aus – überall fanden sie brennende Häuser. In zwei Fällen hatte das Feuer auch auf Nachbargrundstücke übergegriffen, hatte sich rasend schnell ausgebreitet, bevor die Feuerwehr eingreifen konnte, obwohl sie angesichts der Vielzahl der Brände bemerkenswert schnell vor Ort gewesen war. Da wahrscheinlich Gas im Spiel gewesen war und die Brände so heftig waren, gab es keine Hoffnung auf Überlebende und sehr wenig Hoffnung, die Leichen noch als Ganze zu finden.
Außerhalb der Häuser sah es anders aus. Ein Mann von den Gaswerken war in einer Sackgasse in der Nähe gefunden worden, die Explosion hatte den Körper weit fortgeschleudert. »War nicht schnell genug«, sagte Aden. »Oder hat einen Fehler gemacht.«
»Er war nur ein Bauer in diesem Spiel.«
»Ja.«
Vasic half ein weiteres Mal mit seinen telekinetischen Kräften den Feuerwehrleuten, einen gefährlichen Brand einzudämmen, der das nahe gelegene Krankenhaus bedrohte, dessen schwerkranke Patienten nicht evakuiert werden konnten, und Aden erstattete in der Zeit dem früheren Ratsherrn Bericht, der den Riss fast vollständig telepathisch versiegelt hatte, was nur einem doppelten Kardinalmedialen gelingen konnte – einer beinahe unglaublichen Kombination von Fähigkeiten.
Die Gegend muss ein Leck in der Geheimhaltung haben. Verstecke von mindestens der Hälfte der Anker sowie von deren Sicherungen wurden zerstört. Ohne eine genaue Karte hätten die Makellosen Medialen nie so viele Leute auf einmal angreifen können. Keine Überlebenden.
Sucht nach dem Verantwortlichen und statuiert ein Exempel.
Aden und die Pfeilgarde hatten sich mit Krychek verbündet, würden aber nicht jedem seiner Befehle blind folgen. Nach den Erfahrungen mit Ming LeBon hatte die Garde ihre Lektion gelernt, außerhalb der eigenen Reihen galt Loyalität nicht viel. Nur weil man wusste, dass Kaleb sich nie gegen jemanden gestellt hatte, der ihm gegenüber loyal war, hatten sie sich entschlossen, mit ihm zusammenzuarbeiten. Wirkliches Vertrauen stand allerdings auf einem ganz anderen Blatt.
Bei diesem Befehl musste Aden aber nicht lange überlegen. Ich arbeite bereits daran. Er hatte keinerlei ethische Bedenken, den Verräter in aller Öffentlichkeit hinzurichten, um die Konsequenzen eines Verrats deutlich zu machen, denn nur wenige Meter vom Haus eines der ermordeten Anker lag ein Kindergarten, den mediale Kinder besuchten. Und diese Kinder waren mit dem implodierten Medialnet verbunden gewesen. Keines von ihnen hatte überlebt.