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Der Spiegel der Frisierkommode war zerschmettert, Teppich und Bett waren mit Glassplittern übersät. Die Frau auf dem Bett war aber anscheinend unversehrt, abgesehen von einem frischen Schnitt auf der Wange, aus dem Blut tropfte.
Neben dem Spiegel lagen die Scherben des Bechers, den sie auf ihn geworfen hatte, vergossener Tee zog eine rostrote Spur über die Kommode und den hellen Teppich auf den Holzdielen.
Kaleb fragte nicht nach dem Grund ihres Ausbruchs. »Bleib sitzen.« Die größten Scherben teleportierte er in die Recyclingtonne. Es gab einen Teleporter, der das Blut vom Teppich aufnehmen konnte, Kalebs eigene Fähigkeiten reichten sogar noch weiter. Er konnte eine Stadt mit einem Erdbeben verwüsten, konnte mit seinen Kräften ein Flugzeug vom Himmel holen oder eine Flutwelle auslösen – doch er konnte nicht jeden einzelnen winzigen Glassplitter entfernen.
»Du kannst nicht hierbleiben«, sagte er. »Erst muss das Zimmer gereinigt werden.«
In stiller Rebellion setzte sie sich ans Kopfende des Bettes. Sie zu etwas zu zwingen, hätte den Versuch torpediert, ihr Vertrauen zu gewinnen, deshalb verfiel er auf eine andere Lösung. »Warte.«
Sein Gast schnappte nach Luft und krallte sich im Laken fest, als das Bett hochgehoben wurde. Kaleb hielt die Möbel telekinetisch in der Luft und rollte den dicken Teppich zusammen, der den größten Teil des Bodens bedeckte. Auf den Dielen entdeckte er keine weiteren Scherben, suchte aber noch einmal jeden Zentimeter danach ab, bevor er den Teppich mithilfe eines im Kopf gespeicherten Bildes in den Brennofen der zentralen Müllverbrennungsanlage verfrachtete.
Zu viel Tee war verschüttet worden, und weder seine DNA noch ihre sollten in die falschen Hände geraten.
Nun musste er die Frau ebenfalls hochheben und das Bettzeug zum selben Brennofen schicken. Er setzte sie auf das leere Bett und holte einen Teppich aus dem Lagerraum im Keller. »Bemüh dich bitte, ihn nicht zu beschädigen«, sagte er, während er das Bett bezog. »Das ist handgeknüpfte Seide.«
Vor fünf Jahren hatte er den leuchtend blauen Teppich mit dem zarten Muster aus gebrochenem Weiß und dunklem Indigo gekauft. Die Firma hatte damals zum ersten Mal Gewinne abgeworfen, die selbst streng konservativ denkende Leute als weit über der Sicherheitsreserve betrachtet hätten. »Gibt es noch mehr, was du zerstören möchtest? Nur zu, dann kann ich die Scherben gleich beseitigen.«
Die Frau auf dem Bett starrte ihn an, und tat dann etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Sie nahm eine kleine Vase vom Nachttisch und zielte damit eine Handbreit über seinen Kopf. Er fuhr gerade rechtzeitig herum, um die Vase aufzuhalten, ehe sie den winzigen Sensor des Feueralarms traf.
Als sie ohne Unheil anzurichten vor dem roten Blinklicht schwebte, begriff er, was zu dem scheinbar irrationalen Verhalten geführt hatte. »Das ist keine Kamera. Und der Spiegel war auch nur ein Spiegel.« Natürlich würde sie ihm nicht glauben und den Sensor zerschmettern, sobald er den Raum verließ, selbst wenn sie eigentlich nichts mehr zum Werfen hatte.
Kaleb stellte die Vase zurück und nahm den Sensor von der Wand – für sie wäre er zu hoch gewesen. Dann sah er die Frau wieder an, deren Augen ihm die ganze Zeit gefolgt waren. »Noch etwas?«
Ihr Blick ging zum Deckenlicht.
»Wenn ich das mitnehme, sitzt du im Dunkeln.«
Sie wandte den Blick nicht ab.
Das war kein wichtiges Schlachtfeld, er holte eine andere Lampe. »Sieh dir die an.«
Sie nahm sich Zeit, gelangte aber offensichtlich zu der Überzeugung, dass keine Überwachungssensoren angebracht waren, und schaltete die Lampe ein, statt sie zu zerstören. Er entfernte die Deckenlampe und überprüfte den Raum auf weitere Dinge, die ihr verdächtig erscheinen konnten. Ihm fiel nichts weiter auf, und sie hatte sicher schon Wände und Decke mit Argusaugen betrachtet, ehe sie gehandelt hatte.
Also absolut kein Verstand, der nur auf der Stufe eines Tieres funktionierte, trotz der verdrehten Gedanken, die er in ihrem Kopf gesehen hatte.
Kaleb ging ins Bad, nahm die Lampe und den Wärmestrahler an der Wand ab und ersetzte den Spot durch eine wasserfeste Stehlampe, die sie auseinandernehmen konnte, wenn sie wollte. Der Spiegel musste auch fort, ebenso das Gitter vor dem Lüfter, damit sie sehen konnte, dass das leise Gebläse wirklich nur die Feuchtigkeit beseitigen sollte.
Als Kaleb auf die Terrasse zurückkehrte, spürte er die Kälte, doch trotz der leichten Brise, die vom Wald am Rande der Schlucht herüberwehte, wurde ihm bald wieder warm. Bei seiner Arbeit musste er an den Raum denken, in dem man sie gefangen gehalten hatte, und an die mögliche Reaktion der Wärter auf das plötzliche statische Rauschen der Monitore. Ein paar Sekunden nur, dann hatten sie in einen leeren Raum gestarrt.
Das nützliche Rauschen hatte er schon als Jugendlicher entdeckt. Durch die schiere Stärke seiner telekinetischen Kräfte sandte er ein tiefes »Summen« aus, unhörbar für menschliche Ohren, rief es Unruhe bei Tieren und technische Störungen hervor. Inzwischen hatte er das Phänomen natürlich unter Kontrolle und ließ es nur nach außen dringen, wenn er seine Anwesenheit vor Überwachungskameras und Ähnlichem verbergen wollte. Außer ihm wusste nur eine einzige lebende Person Bescheid über diese Fähigkeit.
Aufgrund der schnellen Teleportation ahnten die Wärter sicher, dass große telekinetische Kräfte im Spiel gewesen sein mussten. Und obwohl es nur sehr wenige TK-Mediale dieser Kategorie gab, würde niemand auf Kaleb tippen, nicht bevor er selbst bereit war, sich zu zeigen.
Und dann würden sie um Gnade winseln.
Selbst die Mächtigsten, die vollkommen in Silentium waren, baten am Ende um Gnade, ihre Konditionierung bekam in dem Augenblick Risse, in dem sie in ihrer Panik nicht mehr wahrnehmen konnten, dass Kaleb keine Gnade kannte.
Die letzte Schraube saß, Kaleb packte sein Werkzeug zusammen und verstaute es telekinetisch. Die Terrasse bot ein eigenartiges Bild mit dem hohen Metallgeländer – man konnte zwischen den Streben hindurchsehen, aber nicht mehr in den schwarzen Schlund der Schlucht fallen. Nicht einmal sein Gast war dünn genug, sich hindurchzuzwängen.
Sir.
Die höfliche telepathische Anfrage kam von Silver, seiner Assistentin aus der einflussreichen Familie Mercant, die im Stillen ihren Einfluss ausübte.
Kaleb öffnete den telepathischen Kanal. Was gibt es? Er musste nicht darauf hinweisen, dass er darum gebeten hatte, nicht gestört zu werden – Silver verstieß nur gegen Anordnungen, wenn es unbedingt notwendig war.
Eine kleine Forschungsgruppe in Khartum wurde angegriffen. Sie hatten gerade die Parameter des nächsten Projekts bekannt gegeben: Vorteile für die Medialen aus weitreichender Kooperation und Interaktion mit Menschen und Gestaltwandlern.
Dann flogen also bereits die nächsten Kugeln im Bürgerkrieg, der dem Medialnet drohte. Wie viele Tote?
Alle zehn, die sich im Gebäude aufhielten. Giftgas in der Lüftungsanlage.
Haben die Makellosen Medialen sich bereits zu dieser Tat bekannt? Um die rassistischen Befürworter von Silentium war es still geworden nach der verheerenden Niederlage in Kalifornien gegen eine Streitmacht aus SnowDancer-Wölfen und DarkRiver-Leoparden, die zudem von Medialen unterstützt worden waren, die den zwei Ratsmitgliedern der Region – Nikita Duncan und Anthony Kyriakus – unterstanden. Auch Menschen hatten sich dem Widerstand angeschlossen. Der Versuch der Makellosen Medialen, die Herrschaft in San Francisco und der Sierra Nevada zu übernehmen, hatte gerade jene Rassengrenzen zum Einsturz gebracht, die diese Fanatiker unbedingt aufrechterhalten wollten, ganz egal um welchen Preis.
Das Motiv schien auf den ersten Blick nicht zu der Gruppierung zu passen, deren ursprünglicher Fokus auf das Medialnet gerichtet war. Doch den »rationalen« Argumenten der Makellosen Medialen lag die Überzeugung zugrunde, dass die mediale Gattung allen anderen überlegen sei, und dass sie wieder unangefochten an der Spitze der Macht stünde, wenn sie nur die Risse versiegeln könnte, die sich im Fundament von Silentium zu zeigen begannen.
Jeder Versuch, die Medialen ins Menschenvolk oder in Gestaltwandlerrudel zu integrieren, musste nach dieser Argumentation nicht nur als Angriff auf Silentium, sondern auch als Gefahr für die Überlegenheit des medialen Genpools aufgefasst werden. Was eine unsinnige Annahme war, denn Mediale hatten ebenso viele Defekte wie Menschen oder Gestaltwandler – das hatte Kaleb selbst erfahren. Er war in Räumen voller Blut aufgewachsen, mit Schmerzensschreien in den Ohren. Niemand wusste besser als er, dass die dunkle Seite ihrer Gattung nur begraben und nicht ausgelöscht war.
Beteiligung bestätigt, teilte ihm Silver nach einer kurzen Pause mit. Die Makellosen Medialen haben sich öffentlich zu dem Giftanschlag bekannt. Sie schickte ihm ein Bild, ihre telepathischen Kräfte waren stark genug für eine gestochen scharfe Abbildung.
Auf einer Seite des Gebäudes der Forschungsgruppe prangte ein schwarzer Stern mit einem großen, weißen M in der Mitte. Darunter standen die Worte: Vergebung durch Makellosigkeit, SCHLIESST EUCH AN.
Vergebung
durchMakellosigkeit
SCHLIESST EUCH AN
Das ist etwas Neues, sagte Kaleb.
Ja. Der Aufkleber taucht zum ersten Mal auf.
Ein Aufkleber. Natürlich, deshalb hatte die Truppe der Makellosen Medialen das Bild so schnell anbringen können. Kaleb überlegte, ob der religiöse Unterton Absicht war. Vasquez, der gesichtslose Anführer der Makellosen Medialen seit dem Ableben von Ratsherrn Henry Scott, war ein Fanatiker, aber dennoch sehr schlau, was die Tatsache bewies, dass niemand bisher herausgefunden hatte, wie er aussah. Selbst wenn er jene anprangerte, deren Silentium Risse aufwies, und die nicht glaubten, dass Gefühle eine Gefahr für ihre Gattung seien, nutzte er Gefühle, damit sie sich ihm anschlossen.
Sehr schlau.
Oder vollkommen psychotisch.
Warum hat das Medialnet nichts davon mitbekommen? Kaleb war zwar in den vergangenen Stunden beschäftigt gewesen, hatte aber dennoch das Netz überwacht und nichts von Gewalttaten gehört.
Der Zeitpunkt war schlecht gewählt. Der Aufkleber war erst kurz zuvor angebracht worden, als ein Polizeiwagen es entdeckte. Die Polizisten wurden misstrauisch, überprüften das Gebäude und fanden die Leichen.
Anschließend wurde die Untersuchung abgeschlossen und das Bild entfernt, bevor die Stadt erwachte. Ich habe die Daten nur, weil ein entfernter Cousin einen hohen Posten bei der Landespolizei hat – es ist ihnen gelungen, den Vorfall komplett aus den Medien herauszuhalten.
Keine weltweite Aufmerksamkeit erregt zu haben, würde die Makellosen Medialen nur zu noch mehr grausamer Gewalt anstacheln. Ist es Ihrem Kontaktmann gelungen, näher an den inneren Kreis heranzukommen? Den Makellosen Medialen war es zwar perfekt gelungen, jene Instabilität zu produzieren, die Kaleb für den endgültigen Schlag brauchte, aber sie waren auch unberechenbar, und er zog es vor, die Dinge unter Kontrolle zu haben.
Nein. Vasquez ist äußerst vorsichtig.
Verfolgen Sie weiter die Ereignisse in Khartum. Und halten Sie mich auf dem Laufenden.
Sehr wohl, Sir.
Als Kaleb die telepathische Verbindung kappte, hörte er ein leises Geräusch hinter sich, drehte sich aber nicht um, sondern trat an das Geländer und schaute in den tiefen Schlund der Schlucht.
Kurz darauf gingen die Lichter im Haus aus, nur die Sterne erhellten noch die Terrasse, es war Neumond.
Bloße Füße auf den Holzbohlen, ein kaum wahrnehmbarer, frischer Duft, ein grüner Schemen neben ihm – allerdings mindestens drei Meter entfernt. Sie trug ein grünes T-Shirt, eine graue Schlafanzughose und hatte die Haare gewaschen, deren Strähnen aber immer noch ihr Gesicht verbargen, als sie das Geländer so fest umklammerte, dass die Knöchel der Hand weiß hervortraten.
»Es ist nur dann ein Gefängnis, wenn du nicht die Kontrolle über deinen Verstand hast.« Er konnte die Schilde um sie nicht senken, denn sonst wäre sie selbst den Schwächsten ihrer Gattung hilflos ausgeliefert. »Sobald du deine Schilde wieder aufgebaut hast, gebe ich dich frei.«
Das war eine Lüge.
Er würde sie nie mehr gehen lassen.