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Bei der Vorstellung, diese Fähigkeit gegen Kaleb einzusetzen, drehte sich ihr der Magen um, doch sie kam sich nun nicht mehr völlig hilflos vor. Sie war nicht mehr die betäubte Sechzehnjährige, die nur zeitweise die Herrschaft über ihren Verstand besaß – sie war eine Frau, die Schreckliches überlebt hatte. Sahara zog sich an, band ihr Haar im Nacken zusammen und öffnete leise die Tür. Da Kaleb anscheinend immer wusste, wo sie sich gerade aufhielt, musste er ihr irgendwie folgen … kontrollierte ihre Gedanken vielleicht mithilfe eines Trojaners.
Bittere Galle stieg ihr in der Kehle auf, und sie suchte im Kopf nach einem Mechanismus, der eine telepathische Hintertür sein konnte. Nichts Offensichtliches, doch Kaleb verfügte über große Kräfte und wusste sicher, wie man eine solche Fessel verbarg – Macht war sein Lebenselixier, daran gab es nichts zu deuteln, obwohl ihr Unbewusstes ihm immer noch vertrauen wollte. Allerdings sagte ihr die Vernunft, dass kein noch so fein gesponnenes Konstrukt die natürlichen Schilde ihrer Gabe umgehen konnte.
Man konnte ihren Geist nicht von außen beeinflussen.
Außerdem hatte Kaleb sie gefragt, was sie dachte, obwohl er sich doch leicht in ihrem Kopf hätte umsehen können. Die Sicherungen im Labyrinth waren unversehrt, er hatte es also nicht versucht. Was sie aber nicht beruhigte, sondern ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ – denn nun blieb nur noch eine Möglichkeit, warum er sie unter seiner Kontrolle haben wollte.
Und sie hatte die Gabe noch nie gegen jemanden mit Obsidianschilden angewandt.
Ihr Atem ging stoßweise, ihr Herz geriet völlig aus dem Takt, als sie sah, dass die Tür zu seinem Zimmer offen war. Sie wollte ihm nicht begegnen und schlich leise in die Küche, in der sanftes Morgenlicht schimmerte. Etwas essen sollte sie, sie musste zu Kräften kommen. Doch ihre Hand zitterte, als sie nach einem Bagel griff, der noch warm war und in einer Papierhülle mit dem Emblem eines Luxushotels steckte.
Die meisten TK-Medialen bewahrten sich ihre Kräfte für wirklich notwendige Dinge auf, doch Kalebs Fähigkeiten waren gewaltig, geradezu furchterregend. Dennoch hielt ein verrückter Teil von ihr ihn immer noch für nicht gefährlich und tabu für die zerstörerische Waffe, über die sie verfügte. Dieses irrationale Verhalten ängstigte sie und weckte ihr Misstrauen gegenüber der eigenen Urteilskraft – denn jedem denkenden Wesen musste doch klar sein, dass ein Mann, der so vollkommen in Silentium war, niemals einem anderen helfen würde, wenn es nicht zu seinem eigenen Vorteil geschah.
Der Bagel blieb ihr im Hals stecken, doch sie spülte ihn mit dem Vitamindrink hinunter, den sie im Kühlschrank entdeckt hatte, und nahm sich vor, in spätestens einer Stunde wieder etwas zu essen. Dann atmete sie tief durch und ging in Kalebs Büro.
Es war leer.
Mit feuchten Händen sah sie auf den transparenten Computerbildschirm. Er war angeschaltet, und Nachrichten liefen ein. Also hatte Kaleb bereits das Passwort eingegeben.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr.
Sie fuhr herum und sah Kaleb auf der Terrasse. Mit bloßen Füßen, nacktem Oberkörper und in einer langen schwarzen Sporthose übte er die Abfolgen einer ihr unbekannten Kampfkunst, die sicher nicht für einen Zivilisten gedacht waren.
Doch das war Kaleb offensichtlich auch nicht.
Sie ballte die Fäuste. Die wundervoll geschmeidigen Bewegungen verbargen nicht, wie schnell sie den Tod bringen konnten. Dennoch war es faszinierend anzusehen, wie sich Muskeln anspannten und wieder entspannten, es wirkte so anziehend, dass sie sich schließlich an den Schiebetüren wiederfand und die Handflächen gegen das Glas drückte.
Die Kälte war ein Schock, der sie in die Wirklichkeit zurückbrachte, in der sie eine Gefangene war, die eine ungesunde und gefährliche Anziehung gegenüber ihrem neuen Wärter entwickelt hatte – obwohl sie während der langen Jahre ihrer Gefangenschaft niemals auch nur ansatzweise in eine solche Falle getappt war. Doch schon nach zwei Tagen mit Kaleb hatte sich das Labyrinth entwirrt. Und nicht nur das, sie hatte sich auch an seinen gefährlichen Leib geschmiegt, hatte ihn sogar liebevoll gestreichelt.
Und war dabei sogar … glücklich gewesen.
Mit trockener Kehle und brennender Haut warf sie noch einen letzten Blick auf den Mann auf der Terrasse, bevor sie sich in seinen Sessel setzte. Sie spürte die Angst im Nacken, als sie ins Internet ging, und schaute immer wieder über die Schulter, ob er noch an Ort und Stelle war. Er verließ den Platz nicht, das blauschwarze Haar schimmerte im weichen Licht der Morgensonne.
Die Suchmaske blinkte auf.
Sahara biss sich auf die Unterlippe und gab den Namen von Kalebs Mentor, Santano Enrique, ein. Sie hätte nicht erklären können, warum sie das tat – es war rein instinktiv, und ihr wurde fast übel, als sie die Buchstaben in die Tastatur tippte.
Die Ergebnisse tauchten auf. Sie klickte den obersten Treffer an und gelangte auf eine neue Seite. Ratsherr Enrique war tot. Die Details, die der Rat offiziell herausgegeben hatte, wirkten unverfänglich …
»Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«
Ihr wurde eiskalt.
Als der Mann neben ihr die Hand auf die Rückenlehne des Sessels legte und die andere auf den Schreibtisch, war sie hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis fortzulaufen … und dem Wunsch, den Kopf an seine Brust zu lehnen, die so männlich nach Schweiß roch. Offensichtlich saß der Wahnsinn in Bezug auf Kaleb tief und war bar jeder Vernunft.
»Ach«, sagte er und las den Bericht. »Dann hast du also von Santano gehört.«
In einer Wildshow hatte sie einmal gesehen, wie ein Löwe mit einer Gazelle gespielt hatte, immer wieder hatte er sie losgelassen, um beim nächsten Mal die Krallen noch tiefer in ihren Leib zu schlagen. Im Augenblick war sie die Gazelle, und es war sinnlos, ihre Furcht verbergen zu wollen – sie konnte sich nicht selbst belügen.
Doch sie würde auch nicht starr vor Schreck dasitzen und ihm gestatten, sie zu quälen; schließlich war sie im Labyrinth den anderen Wärtern entkommen. Sie würde ihren Geist nicht noch einmal begraben, aber sie würde schon einen Weg finden, Kaleb zu übertölpeln und zu überleben.
Ich komme, Sahara! Halte durch! Tu es für mich!
Das Echo dieses Versprechens war während ihrer Gefangenschaft in einer Wiederholungsschleife in ihrem Kopf gelaufen. Sie konnte sich weder daran erinnern, wann diese Worte gefallen waren, noch wusste sie, wer sie ausgesprochen hatte, doch eines wusste sie genau: Ihr Tod würde nicht nur ein Leben auslöschen.
Man hätte das für eine Illusion halten können, mittels der ihr Verstand dem Körper geholfen hatte, den Albtraum auszuhalten – und vielleicht war es das auch –, aber auf diese Weise hatte sie zumindest die schreckliche Einsamkeit der vergangenen Jahre ertragen können. Es würde ihr auch helfen, diesen Sturm zu überstehen.
»Was hast du jetzt mit mir vor?«, fragte sie und war stolz, dass ihre Stimme nicht zitterte.
Kardinalenaugen ohne einen einzigen Stern sahen sie an, ungewöhnlich war auch der Anblick eines Kaleb mit zerzaustem Haar. »Ich werde dir einen Organizer geben.« Ein schmales Gerät lag kurz darauf vor ihr auf dem Tisch. »In zwanzig Minuten brauche ich den Bildschirm für eine Videokonferenz.«
Dann gab Kaleb eine Adresse im Browserfenster ein, aus der sie nicht schlau wurde, da sie nur aus Ziffern bestand. »Dort findest du alles, was du über Santano wissen musst.« Er ging zur Tür. »Und vergiss nicht, in neunzehn Minuten brauche ich den Bildschirm.«
Sie starrte ihm ungläubig nach, bis sie seine Schritte nicht mehr hörte. Krampfhaft suchte sie nach einer vernünftigen Erklärung für sein Verhalten, fand aber nichts Befriedigendes. Wenn jemand wusste, dass Informationen Macht verschafften, dann war es sicher Kaleb, und dennoch gab er ihr den Schlüssel dazu.
Vergebens massierte sie mit den Fingerspitzen die Schläfen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, und sah sich dann die Seite eines selbst ernannten Verschwörungstheoretikers an. Der anonyme Betreiber war ein Medialer, der allerdings schlau genug gewesen war, seine Spuren vor den Schergen des Rats zu verwischen, denn die ausführlich behandelten Themen waren vollkommen tabu.
Sie überflog die letzten Einträge. Der Rat existiere nicht mehr, hieß es da, obwohl es bislang keine öffentliche Verlautbarung darüber gegeben habe. Als sie Enriques Namen eingab, landete sie auf einer Seite, die bis vor zwei Jahren kontinuierlich aktualisiert worden war. Der letzte Eintrag lautete:
Neues Ratsmitglied ist Kaleb Krychek. Ehemals Protegé Santano Enriques – keine Beweise für eine Beteiligung an den Folterungen und Morden, ebenso wenig für das Gegenteil.
Ein scharfer Schmerz in der Brust, sie erstickte mit der Hand einen Schrei. Scrollte zum Ende der Seite und begann beim ältesten Eintrag.
Dem Autor zufolge hatte Santano Enrique zu jenen seltenen Ankern gehört, die politische Aktivitäten der Isolation vorzogen, und war sogar in die gefährliche Welt des Rats aufgestiegen. Zudem hatte er eine ganze Reihe junger Gestaltwandlerfrauen gefoltert und ermordet. Enrique war nicht eines natürlichen Todes gestorben, wie in den Medien berichtet worden war, sondern grausam von DarkRiver-Leoparden und SnowDancer-Wölfen hingerichtet worden, die dem Rat auf der Zunge Santanos eine Nachricht hinterlassen hatten.
»Noch fünf Minuten.«
Ihr Kopf fuhr hoch. Kaleb stand im Türrahmen, das feuchte Haar ordentlich gekämmt und geschäftsmäßig gekleidet, in einem dunkelblauen Hemd, anthrazitfarbener Hose und schwarzen Schuhen. In der Hand hielt er einen Energiedrink.
Was immer sein Mentor ihm beigebracht hatte, es war sicher nichts Gutes gewesen. Und doch spürte sie das Verlangen, zu ihm zu gehen, weshalb sie ihrem Urteilsvermögen immer weniger traute – obwohl sie genau wusste, dass sie gegen jede Art von Gedankenkontrolle immun war. Man konnte weder ihren Geist beeinflussen noch sie beherrschen, ohne dass sie es merken würde.
Doch ihr Magen zog sich zusammen, ihre Fingernägel gruben sich tief in die Handfläche.
»Wie kann jemand außerhalb des Rats über solches Detailwissen verfügen?«, fragte sie und war selbst überrascht, wie ruhig und vernünftig sie klang, obwohl Körper und Geist einen Kampf austrugen, den sie sich nicht erklären konnte. »Entweder hat er Wahnideen oder verfügt über eine Quelle.«
Kaleb trank einen Schluck, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Was meinst du?«
»Seine Anklagen sind so weit hergeholt, dass sie wahr sein könnten. Ich tippe auf eine Quelle.«
»Sieht so aus.« Er trank aus und teleportierte das Glas. »Es stimmt Wort für Wort.«
Mit zitternden Fingern nahm sie den Organizer, der noch schmaler und leichter war als die Geräte vor sieben Jahren. »War Santano Enrique verrückt?« Noch während sie die Frage stellte, fiel ihr ein, dass sie gerade erst gelesen hatte, Kaleb sei mit fünf in die Obhut Santanos gekommen. Es wäre ein grober Fehler anzunehmen, dieser Umstand hätte seine Entwicklung nicht geprägt und ihn nicht zum Spiegel des Mannes gemacht, der eine Vaterfigur für ihn gewesen sein musste.
Kaleb schob die Hände in die Hosentaschen, nichts erinnerte an einen Jungen, der an der Seite einer Bestie aufgewachsen war. »Das ist Ansichtssache«, sagte er. »Man könnte ihn auch für das perfekte Geschöpf in Silentium halten. Vollkommen ohne Empathie, ohne jegliches Gefühl. Die Morde waren für ihn nur ein interessantes Experiment.«
Kaleb sah die Furcht in Saharas Augen, als sie sich erhob. Die im Nacken zusammengebundenen Haare gaben ein Gesicht frei, das sich nicht verstellte. Ob sie überhaupt zu einem falschen Spiel fähig war? Wie die Spiele, die sein tägliches Brot waren, in denen er zwischen Wahrheit und Lüge wechselte, wann immer es zu seinem Vorteil war?
Obwohl sie den Blick nicht abgewandt hatte, bis sie aus dem Zimmer gegangen war, wusste er, dass noch nicht alle Erinnerungen zurückgekehrt waren – sonst hätte sie wesentlich mehr Angst gehabt, und die Angst hätte ihm gegolten.
Er ließ sie gehen, ohne sie darauf hinzuweisen, dass sie ihn nicht hätte aufhalten können, wenn er darauf aus gewesen wäre, sie zu verletzen. Ihre Knochen würden wie Streichhölzer brechen, wenn er seine telekinetischen Kräfte auch nur ein wenig einsetzte, und dunkelrotes Blut würde in Strömen fließen. So wie damals, als es in die Laken des billigen Hotels gesickert war. Alles war verbrannt, doch der Polizei war es dank der Spielchen Santanos dennoch nicht entgangen.
Kaleb wartete eine Weile, damit ihre Wachsamkeit sich legen konnte, und trat dann an die offenen Türen. Sahara saß im Schneidersitz auf der Sonnenliege. Der Sonnenschirm war noch nicht geöffnet, und die rotgoldenen Strähnen im schwarzen Haar leuchteten im Morgenlicht. Ungewöhnliche Strähnen, aber bei ihren Anlagen nicht ganz unerwartet. Ihre Mutter hatte schwarzes Haar gehabt, ihr Vater einen Schopf in der Farbe feuchten Tons, und in der Familie Kyriakus war das Gen für rotes Haar besonders stark ausgeprägt. Vollkommen unerwartet dagegen war das Profil ihrer Psyche und ebenso selten wie ein doppelter Kardinalmedialer.
Ihm war kein anderes Individuum im Medialnet bekannt, das diese Gabe hatte – sie war so begehrt, dass ihre Wärter sie trotz des Labyrinths nicht umgebracht hatten.
In Sahara Kyriakus schlummerte eine Macht, die einem Mann ein Imperium verschaffen konnte.