Makellose Mediale

Mediale verbrannten ihre Toten. Das war die wirkungsvollste Möglichkeit, Leichen zu entsorgen, und Vasquez’ Gattung brauchte keine Gräber, an denen sie trauern konnte. Dennoch hatte Vasquez den zerstörten Leichnam des ehemaligen Ratsherrn Henry Scott nicht verbrannt, sondern an einer einsamen Stelle tief in der Hohen Tatra begraben.

Nicht aus sentimentalen Gründen oder um sich Absolution zu erhoffen. Vasquez’ Silentium war makellos. Er hatte Henry begraben, um ihm Bericht zu erstatten. Natürlich war ihm bewusst, dass viele das für ein irrationales Motiv halten könnten, doch seit Henrys Ableben hatte Vasquez niemanden mehr, dem er vollkommen anvertrauen konnte, was er plante. Er fühlte sich … sicherer, wenn er an der letzten Ruhestätte seines Anführers darüber sprechen konnte, anstatt alles nur im eigenen Kopf hin und her zu wälzen.

Er stand vor dem Grab, auf dem frisches Gras spross. Vielleicht hatten Menschen und Gestaltwandler in dieser Hinsicht doch nicht so unrecht. Vasquez negierte keinesfalls die Stärken und Qualitäten der anderen Gattungen, wenn sie ihm nutzten – doch sie standen nicht auf einer Stufe mit den Medialen und würden auch nie gleichwertig sein.

Seine Gattung konnte in den Geist der anderen Gattungen eindringen, konnte sie versklaven, die Autonomie von Menschenfamilien und Gestaltwandlerrudeln untergraben und ihre Gesellschaft quasi auslöschen. Deshalb durfte man den gefühlsbetonten Gattungen keinesfalls gestatten, sich zu Herrschern der Welt aufzuschwingen.

Allerdings waren sie auch nicht für den unangebrachten Dünkel verantwortlich, der sie seit Neustem befallen hatte. Die Verantwortung dafür lag bei den Schwachen im Medialnet, die den niederen Gattungen gestattet hatten, zu einer Macht aufzusteigen, die sie gar nicht begreifen konnten. Deshalb war Henrys Entscheidung falsch gewesen, die Rudel der Leoparden und Wölfe direkt anzugreifen.

»Sie sind Tiere«, sagte Vasquez leise, der seinen Anführer immer noch respektierte, obwohl er in diesem Punkt anderer Meinung war. »Sie wissen gar nicht, in welch tiefe Gewässer sie sich begeben haben.« Und die Menschen? Schwach und schutzlos wie Neugeborene waren sie. »Wir können jederzeit in ihre Köpfe, können ihre ganze Existenz verändern.«

Silentium war die einzige Antwort, die er kannte, und er spürte den tiefen Frieden, den ihm die Einsicht verschaffte, auf dem richtigen Weg zu sein. »Wir sollten die niederen Gattungen nicht angreifen, sondern sie behüten. Disziplinlosigkeit muss natürlich bestraft werden, aber nur, um ihnen schlechte Gewohnheiten auszutreiben.« Man musste kein Blut vergießen, wenn man das Bewusstsein Furcht vor Schmerzen lehren konnte. »Mit der Zeit werden sie das werden, was sie immer hatten sein sollen: unsere gehorsamen Diener, die wissen, dass wir nur ihr Bestes wollen.«

Doch bevor dieser Gnadenzustand eintreten konnte, musste Vasquez zunächst das momentane Ungleichgewicht der Welt geraderücken. Er musste die defekte und degenerierte Führung zerstören und seiner Gattung die Möglichkeit zu einem Neubeginn verschaffen.

Im Kreuzfeuer miteinander würden Menschen und Gestaltwandler straucheln, weil die Besten von ihnen um die Macht kämpften, doch das ließ sich nicht verhindern. Schließlich ging es um das Überleben der Gattung der Medialen. »Kollateralschäden sind unvermeidlich«, sagte er, als er an sein Vorhaben dachte, nach dessen Durchführung die Makellosen Medialen und die Notwendigkeit von Silentium in aller Munde sein würden.