24

Sahara wusste, dass der schwarz gekleidete Mann, der um vier Uhr morgens neben ihr stand, ein Pfeilgardist war. Ein Teleporter mit grauen Augen und einem computergesteuerten Handschuh am linken Unterarm. Der einzelne Stern auf der Uniform wies ihn als einen Alliierten Kalebs aus, dennoch vertraute Anthony ihm genug, um sie von ihm ins Revier der Leoparden bringen zu lassen.

»Ich habe das Bild für den Transport«, sagte der Mann und schaute von dem Bildschirm im Handschuh auf. »Sind Sie bereit?«

Bei Kaleb hatte sie nie gezögert, doch bei dem Gardisten mit den stahlgrauen Augen, dessen Blick so fern wie ein sturmumtoster Horizont war, musste sie erst tief durchatmen, bevor sie nickte. Kaleb war in schwarzes Eis eingeschlossen, aber der Mann neben ihr war durch und durch eisig, sein Silentium war metallisch perfekt.

Doch er war ebenso schnell wie Kaleb, und da er kein Kardinalmedialer war, musste er zu den wenigen echten Teleportern unter den TK-Medialen gehören. Die telekinetischen Fähigkeiten der Reisenden hingen von den Werten auf der Skala ab, doch sie kamen schon als Teleporter zur Welt, mussten diese Fähigkeit weder lernen noch üben.

Als kleines Mädchen hatte sie gehört, TK-R-Kinder würden als Neugeborene mit GPS-Sendern versehen. Sie war nicht sicher gewesen, ob das wirklich stimmte oder nur von einem anderen Kind erfunden worden war, da sie nie jemanden der fast mythischen Kategorie getroffen hatte, doch es war ihr sinnvoll erschienen. Alle TK-Medialen hatten für Orte ein visuelles Gedächtnis, das blitzschnell zuschnappte. Ein Baby oder Kleinkind der Reisenden-Kategorie hätte also an jeden Ort teleportieren können, den es zufällig einmal gesehen hatte, und wäre dann vermutlich so sehr in Panik geraten, dass es nicht nach Hause zurückgefunden hätte.

Der Teleporter, den sie sich nur schwer als Kind vorstellen konnte, sah sich auf der mit Kiefernnadeln bedeckten Lichtung um, an deren Rand zwei blaue Schals zur Orientierung hingen. Eine Frau mit scharlachrotem Haar eilte auf Sahara zu; der Reisende nickte und verschwand.

»Sahara. Du bist es wirklich.« Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie Saharas Gesicht mit beiden Händen umfing und sie anlächelte. »Ich habe schon nicht mehr damit gerechnet, dass ich dich jemals wiedersehen würde.«

»Faith«, flüsterte Sahara und schaute die ungeheuer lebendige Frau an, zu der ihre zurückhaltende Cousine geworden war. Sie sprühte geradezu vor Leben. »Du bist so wunderschön.«

Ein überraschtes Aufleuchten in kardinalen Augen, dann schrie Faith leise auf und ließ Sahara los. »Entschuldige, ich vergaß –«

»Ist schon in Ordnung.« Sahara griff nach Faiths Händen und legte sie wieder an ihre Wangen. »Mein Silentium ist mehr als gebrochen.«

Ihre Cousine umarmte sie fest. »Ich habe dich nie vergessen.« Ein Flüstern im leisen Rauschen der Zweige. »Mein Vater … er hat mir erst nach meiner Abkehr von deiner Entführung berichtet, und dass sie nie aufgehört haben, dich zu suchen.«

Saharas Augen brannten, als sie die Umarmung erwiderte. »Ich weiß, dass du auch versucht hast, mich in Visionen zu finden.« Das hatte ihr Vater ihr am ersten Abend erzählt.

Mit einem Seufzer zog sich Faith zurück. »Es tut mir leid wegen Leon, er war immer nett zu mir, wenn unsere Wege sich kreuzten.«

»Es wird schon wieder werden. Er ist stark.« Sahara weigerte sich, etwas anderes auch nur in Erwägung zu ziehen. »Er hat mich nicht aufgegeben, und ich werde ihn nicht aufgeben.« Eine Zukunft ohne ihren Vater war schlichtweg unvorstellbar.

»Wann immer ich in Leons Zukunft sehe, ist er in der Klinik, redet mit Patienten oder erledigt etwas im Büro. Ich fühle keine Trauer oder habe das Empfinden von Verlust, falls dir das hilft.«

Sahara drückte die Hand ihrer Cousine. »Danke.« Es bedeutete ihr viel, dies von der mächtigsten V-Medialen der Welt zu hören. An diesen Hoffnungsschimmer konnte sie sich klammern. »Mir tut es um Marine leid.« Faiths jüngere Schwester war eine kardinale Telepathin gewesen. Ihr Unterricht hatte sich nur selten mit dem von Sahara überschnitten, aber sie waren immerhin auch Cousinen.

Mit traurigen Augen strich Faith über Saharas Wange. »Marines Leben war außergewöhnlich. Manches habe ich erst herausgefunden, nachdem ich das Medialnet verlassen hatte. Sie hat ein Zeichen gesetzt.« Offener Stolz unter Tränen. »Ich stelle mir oft vor, dass sie jubelt und mir gratuliert, weil ihre so ordentliche Schwester endlich rebelliert hat.«

Saharas Lächeln war ebenso zittrig. »Ich bin froh, dass du rausgekommen bist und ein so glückliches Leben führst. Danke für die Einladung, daran teilzuhaben.«

»Was mich angeht, kannst du für immer bleiben.« Zärtlichkeit und Wärme in jedem Wort. »Endlich können wir Freundinnen werden, wie wir es immer schon sein wollten.«

Nur zu gerne hätte Sahara das Angebot einer Zuflucht angenommen, doch sie wollte sich keinesfalls unter falschen Voraussetzungen hineinstehlen. »Ich könnte dem Rudel gefährlich werden. Kaleb Krychek kann mich jederzeit finden.«

Die Freude schwand nicht aus Faiths Gesicht. »Daran haben wir auch schon gedacht. Denn Vater hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass Kaleb sowohl zu Personen als auch zu Orten teleportieren kann und damit jeden von uns finden könnte.« Sie strich Saharas Haar glatt. »Allerdings hat er bislang keine Aggressionen gegenüber dem Rudel gezeigt, und du gehörst zur Familie. Falls er gefährlich wird, können wir damit umgehen.«

Sahara wurde ganz warm bei Faiths Worten, doch gleichzeitig flüsterte eine Stimme in ihr, dass Kaleb keine Familie hatte, niemanden, dem er angehörte, und niemanden, der ihn so herzlich willkommen hieß wie Faith sie. »Aber ihr werdet mich von den verletzlichen Rudelgefährten fernhalten?«, fragte sie aus der verzweifelten Wut Eltern gegenüber heraus, die einen hilflosen Jungen einer Bestie ausgeliefert hatten. Kaleb würde ihr nie etwas tun, aber sie konnte nicht versprechen, dass seine Zurückhaltung auch für andere galt.

»Ja.« Faiths Blick war voller Zärtlichkeit. »Keine Angst, Sahara. Wir sind schon geraume Zeit im Spiel.« Die Sicherheit einer großen Schwester. »Dein Baumhaus ist nahe unserer Hütte, aber weit genug entfernt, dass du deine Ruhe hast.«

»Ich bekomme ein eigenes Baumhaus?« Das verletzte Mädchen in ihr schnappte erstaunt nach Luft bei der Vorstellung, auf einem Baum zu wohnen.

»Ja, aber nur, wenn es dir auch gefällt.«

»Ich glaube schon. Es ist schön, ein eigenes Heim zu haben.« Sie kam sich ein bisschen illoyal vor, weil sie so etwas sagte, da Kaleb ihr doch ein lichtdurchflutetes Haus gebaut hatte, in dem ihr Herz aufging – doch im Augenblick brauchte sie etwas anderes, musste ihre lange unbenutzten Schwingen ausbreiten.

Kaleb war zu überbehütend … machte zu süchtig.

Als ihr einfiel, wie er sie berührt hatte, spannten ihre Brüste schmerzhaft. In seinen Augen hatte ein Obsidiansturm getobt. Selbst so fern von ihm erinnerte sie der leichte Kiefernduft bei jedem Atemzug an ihn. »Ist dein Gefährte bei dir?«, fragte sie Faith und wandte ihre Aufmerksamkeit bewusst von dem Kardinalmedialen ab, der sie bei Mondschein auf dem Land der Wölfe geküsst hatte.

Faiths Gesicht leuchtete auf. »Vaughn.«

Aus den Schatten der Bäume trat ein großer Mann mit beinahe goldenen Augen und bernsteinfarbenem Haar, das im Nacken zusammengebunden war. »Schön, Sie endlich kennenzulernen.« Die tiefe, sanfte Stimme war wie Balsam für ihre Sinne.

»Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen«, sagte sie und folgte fasziniert den Bewegungen, mit denen er die Markierungsschals von den Ästen holte. Nie hätte sie ihn für einen Menschen oder einen Medialen gehalten.

»Er ist wunderbar, nicht wahr?«, flüsterte Faith an ihrem Ohr.

»Ja.« Doch seine goldene Schönheit brachte ihre Haut nicht zum Brennen oder ihr Herz aus dem Rhythmus, schmerzte nicht in der Seele.

»Lasst uns nach Hause gehen«, sagte der Gefährte ihrer Cousine und warf den beiden Frauen je einen Schal um den Hals.

Weich umhüllte Sahara das gestrickte Gewebe, tief sank sie in den dicken Teppich aus Kiefernnadeln ein. Mit neugierigen Blicken versuchte sie, alles auf einmal zu erfassen, bis Vaughn sie damit neckte, ihr würde noch der Kopf vom Hals fallen, wenn sie ihn weiter so viel drehte. Sahara mochte den Jaguar, der ihrer Cousine gehörte, und schnitt eine Fratze, was ein katzenhaftes Lächeln zur Folge hatte. Dann labte sie ihre Sinne weiter an der Weite der Natur.

Über ihnen war ein unendlicher Himmel, an dem noch immer unzählige Sterne standen … doch ihre Augen wurden von einem einsamen Stern angezogen, der hell und unbeweglich abseits der anderen leuchtete.

Kurz darauf schloss sich das Blätterdach über ihnen und verbarg den Stern. Schon standen sie vor einem so hohen Baum, dass Sahara die Spitze nicht mehr sehen konnte. »Oh.« Ein hübsches, kleines Haus zeigte sich zwischen den Ästen des Mammutbaums. Über eine Hängebrücke war es mit einem zweiten Haus verbunden.

Helles warmes Licht strahlte aus den Fenstern.

»Wer wohnt dort?«, fragte sie und zeigte auf das zweite Baumhaus.

»Niemand«, sagte Faith, die Vaughns Hand hielt. »Da schlafen wir, wenn du möchtest, dass wir über Nacht bleiben.«

»Ein Gästehaus.« Begeistert schickte sie telepathisch ein Bild zu dem Mann, der ein einsamer Stern war – so eiskalt und so hart. Der Impuls kam von dem Teil in ihr, der sich auch an ihn gewandt hatte, als die Welt weggeglitten war, bei dessen Berührung sie Lust und in dessen Armen sie unvergleichliche Sicherheit empfunden hatte. Nun wusste sie, dass er ihr viel zu viel bedeutete, um ihn auf Abstand halten zu können, dass jeder Versuch dazu zum Scheitern verurteilt war. Schau!

Kurzes Zögern, bevor die dunkle Stimme in ihrem Kopf war, sich um ihre Sinne schlang und ihr die Zehen kribbeln ließ. Gefällt es dir?

Ja. Obwohl sie wusste, dass es bei einem so mächtigen Mann wie Kaleb ein dummer Gedanke war, hatte sie doch das Gefühl, sie hätte ihn verletzt. Das Haus, das du für mich gebaut hast, spricht mich in einer Weise an, die ich selbst nicht begreife, doch ich bin noch nicht bereit dafür, bin noch nicht heil genug, fügte sie leise hinzu.

Vaughn kletterte derweil mit katzenhafter Eleganz und ausgefahrenen Krallen den Stamm hinauf. Mit großen Augen beobachtete Sahara, wie er auf dem Weg zu einer Strickleiter nur oberflächliche Schrammen hinterließ.

»Das kann ich aber nicht«, sagte sie, als er trotz des muskulösen Körpers leise auf dem Waldboden sprang, nachdem er die Leiter losgemacht hatte.

Ein Grinsen, bei dem man den Jaguar deutlich in den Augen sah. »Muss auch nicht sein.« Nachdem Vaughn die Krallen wieder eingezogen hatte, holte er ein kleines Gerät aus der Hosentasche. »Das ist eine Fernbedienung, um die Leiter aus- und wieder aufzurollen.«

Faith gab ihrem Gefährten einen Klaps auf die Schulter. »Und warum hast du die Fernbedienung nicht gleich benutzt?«

Der Gestaltwandler sah seine Gefährtin lange an, seine Augen funkelten golden. »Rotschopf, wenn du ernsthaft glaubst, dass ich eine Fernbedienung benutze, um auf einen Baum zu kommen, sollten wir uns wirklich einmal ernsthaft unterhalten.«

Sahara biss sich auf die Lippen, um bei dem empörten Gesichtsausdruck nicht zu lachen. »Danke für die Fernbedienung. Ich bin auch überhaupt nicht beleidigt.«

»Sie können sich bei Dorian bedanken – der gehört auch zu den Wächtern«, sagte Vaughn und zog eine lächelnde Faith an sich. »Hat das Gerät schon vor einer ganzen Weile entwickelt, bloß wollte es niemand haben. Ein paar Gefährten haben sogar gedroht, ihn rauszuwerfen.«

»Raubtierstolz ist eine empfindliche Pflanze«, sagte Faith im Bühnenflüsterton.

Worauf Vaughn eine Hand in ihr Haar schob, mit der anderen ihr Kinn fasste und sie sinnlich spielerisch küsste. Der Anblick weckte Saharas Verlangen nach einem Mann, der so dunkel war wie Vaughn golden, so beherrscht und zurückgenommen wie der Gefährte ihrer Cousine wild und leidenschaftlich.

Sie fasste nach der Strickleiter und rief telepathisch nach Kaleb, der in ihr tiefer verankert war als jede Erinnerung. Ich steige jetzt ins Baumhaus. Es dauerte ein paar Stufen, ehe sie sich an das Schwanken der Leiter gewöhnt hatte, doch bald fand sie den richtigen Rhythmus und zog sich auf die Plattform hoch.

Das Baumhaus war ein einziger großer Raum. Rechts befand sich eine Küchenzeile, Dusche und Toilette waren in einer Ecke hinter Schiebetüren aus schimmerndem Holz installiert. Auf dem Bett lag eine schöne Decke, dunkelrosa und weiß gemustert, und auf dem Fensterbrett stand ein Körbchen mit Schokolade. Jeder Gegenstand war nach ökologischen Gesichtspunkten ausgesucht, das Baumhaus war ein Teil des Waldes.

»Wie habt ihr das so schnell hergerichtet?«, fragte Sahara ihre Cousine. »In den Schränken gibt es Nahrungsvorräte, im Bad Toilettenartikel und frische Handtücher.« Alles sah sehr einladend aus.

»Die Baumhäuser sind neu, sie wurden für die jüngeren Gefährten gebaut, die im nächsten Jahr ein eigenes Heim brauchen«, sagte ihre Cousine. »Bis dahin halten wir sie bereit für Gäste. Vaughn und ich mussten nur die Vorräte auffüllen, was nicht weiter schwer war, da wir aufgrund der unruhigen Zeiten sowieso alle gut ausgestattet sind.«

Die Turbulenzen der Welt brachten Saharas Gedanken sofort zu Kaleb zurück, der Machtspiele mit leichter Hand dirigierte, auf seine Weise ebenso ein Raubtier war wie der Jaguar, der lässig im Türrahmen lehnte.

»Eine große Familie Wildkatzen streift in der Gegend umher. Luchse ebenfalls. Die könnten kommen und hier herumschleichen.«

»Das hoffe ich doch.« Sie spürte freudige Erregung. »Ich kann es kaum erwarten, sie aus der Nähe zu betrachten.«

»Das könnten die berühmten letzten Worte sein. Katzen sind wahnsinnig neugierig – bald werden Sie gar nicht mehr wissen, wie Sie sich vor all den wilden Besuchern retten können.« Vaughn zögerte und fügte dann hinzu: »Es wird aber keiner aggressiv werden bei dem Geruch, der an Ihnen haftet, vermutlich stammt er von Krychek.«

Sahara schnappte nach Luft und fing Vaughns forschenden Blick auf. Ihr wurde plötzlich klar, dass er intuitiv erfasst hatte, wie eng ihre Beziehung zu Kaleb war. »Ist etwas Schlimmes an dem Geruch?«, fragte sie und spürte, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog.

»Nein. Nur etwas sehr Gefährliches.«

Eine Stunde später brach die Morgendämmerung herein, und Sahara verabschiedete Faith und Vaughn. »Ich komme gut allein klar, ganz sicher«, erklärte sie ihrer Cousine, als diese auf der Plattform stehen blieb. »Falls irgendetwas nicht stimmt, habe ich ja eure Nummern.«

Faith lächelte reumütig. »Tut mir leid, ich bin überbehütend. Ab jetzt werde ich dich in Ruhe lassen.«

»Ruhen Sie sich nur aus und werden Sie ganz gesund«, sagte Vaughn und strich unerwartet zärtlich über Saharas Wange. »Hier sind Sie sicher.«

Sahara sah ihnen nach. Mit ihrer Familie hatte sie wirklich Glück. Sie hatte mit einer ganzen Reihe von Fragen über Kaleb gerechnet, doch Faith hatte nur wissen wollen, ob Kaleb sie irgendwie unter Druck setzte. Nachdem Sahara das verneint hatte, hatte ihre Cousine versprochen, Anthony nichts über ihre Beziehung zu Kaleb zu erzählen. Das Alphatier der Leoparden mussten sie aber einweihen.

»Wissen Sie, was wir mit Santano Enrique gemacht haben?«, hatte Vaughn grimmig gefragt.

Sahara hatte genickt, und Vaughn hatte fortgefahren: »Nach der Hinrichtung des kranken Mistkerls ist Kalebs Name aufgetaucht – wir sind nur nicht hinter ihm her, weil es keine Anzeichen dafür gab, dass er in der Nähe der Opfer gewesen ist, von denen wir wussten, aber das heißt noch lange nicht, dass er unschuldig ist. Seien Sie vorsichtig. Und falls er Ihnen je etwas zuleide tut, kommen Sie zu mir.«

Ich war dabei, bei jeder Folter, jedem Mord.

Kalebs gruseliges Geständnis ging ihr nicht aus dem Kopf. Eine gesunde Reaktion wäre gewesen, sich damit Faith und Vaughn anzuvertrauen, doch sie hatte es nicht getan. Denn tief in ihrem Herzen glaubte sie nicht, dass er zu so etwas Schrecklichem fähig war. Das Mädchen in ihr rebellierte gegen diese Vorstellung. Vielleicht zeigte das aber nur, wie besessen sie schon war. Dennoch mochte sie ihn nicht aufgeben, bevor sie nicht die ganze hässliche Wahrheit kannte, die sich hinter diesen Worten verbarg.

Deshalb hatte sie geschwiegen, und deshalb telepathierte sie eine halbe Stunde, nachdem Faith und Vaughn sie verlassen hatten. Möchtest du mein Baumhaus sehen?

Ist das eine Einladung?

Ja.

Als er in schwarzer Hose und dunkelgrauem Hemd vor ihr auftauchte, hatte sie das Gefühl, als hätte sie ein verlorenes Stück von sich wiedergefunden. »Es ist fast Frühstückszeit. Isst du mit mir?« Der Drang, für ihn zu sorgen, wurde immer stärker.

Niemand anders hatte es je getan oder würde es je tun.

»Ich habe schon gegessen«, sagte er, wehrte ihre Hand aber nicht ab, als die Finger sanft über seinen Nacken strichen. »Doch du solltest etwas zu dir nehmen.«

Vielleicht weil sie in einem Baumhaus stand, fern von allem, was sie kannte, und trotz des kurzen Zusammenbruchs vor Anthony stark genug dafür war. Vielleicht, weil sie die Angst bekämpfen musste, ihren Vater zu verlieren, und Zeit kostbarer als Diamanten war. Vielleicht, weil Kaleb ihre Berührung nicht abgewehrt hatte, obwohl er wusste, was es ihn kosten würde.

Oder … vielleicht, weil ihr das Herz so schwer wurde bei einem Umstand, den alle außer ihr vergessen hatten: Der tödlich gefährliche Mann vor ihr war ein schutzloses Kind gewesen, als Santano Enrique ihn zu sich geholt hatte. Was auch immer der Grund war, ihr war mit einem Mal völlig klar, dass die Zeit des Schweigens vorbei war. Wenn sie jemals mehr als das zarte Band zwischen ihnen knüpfen wollte, musste sie die Frage stellen, vor der sie sich so lange gedrückt hatte. »War es dein freier Wille, Santano Enrique beim Morden zuzusehen oder sogar zu helfen?«