13
Willkommen zu Hause.
»Wie kann dieses Haus mir gehören?«, fragte Sahara flüsternd, die Hände immer noch auf der warmen Brust Kalebs. »Ich war sechzehn, als ich entführt wurde.« Sie atmete tief ein, um dem Verlangen nicht nachzugeben, das sie tief in sich spürte … brach den Kontakt aber nicht ab. Sie spreizte die Finger, legte den Kopf in den Nacken und sah in die tiefschwarzen Augen.
»Es war ein Geschenk zu deinem neunzehnten Geburtstag.« Eine offene, aber dennoch unbegreifliche Antwort.
Sahara musste nicht fragen, wer ihr ein so schönes Heim geschenkt hatte, in dem alles so aussah, als sei es ihren Wünschen entsprungen. Ihr Herz war schwer wie Blei, und unter ihren Füßen tat sich ein Abgrund auf, in dem Erkenntnisse schlummerten, die noch nicht in ihr Bewusstsein drangen. »Sag mir, dass du nicht böse bist.« Bitte, sag es.
Kalebs Daumen massierten ihre Schläfen. »Es tut mir leid.«
Sie schüttelte den Kopf, wollte einfach nicht akzeptieren, was er ihr zu sagen versuchte, und strich mit zitternden Fingern über seine Wange. »Was hast du getan?«
»Zu viel, um es je ungeschehen machen zu können.«
Nun weinte sie tatsächlich um einen Mann, von dem sie so wenig wusste, und der doch Zugang zu ihrem Herzen hatte. Sie schlang die Arme um seinen Hals und hielt ihn einfach nur fest, obwohl sie wusste, dass sie ihn wahrscheinlich schon verloren hatte.
Auch er umarmte sie fest, sie spürte seinen Atem am Ohr. »Es tut mir leid«, sagte er noch einmal mit einer Stimme wie Sandpapier und so steif, als sei jeder Muskel bis zum Äußersten gespannt.
»Schon gut«, schluchzte sie. »Ist schon gut.« Wieder und wieder sagte sie es leise, ohne zu wissen, was der Grund dafür war, aber dennoch war ihr bewusst, dass sie in diesem Augenblick die Stärkere von ihnen beiden war, obwohl er weit gefährlicher war als sie. »Es ist in Ordnung, Kaleb, denn ich bin ja hier.«
Und es ist nicht zu spät, dafür werde ich schon sorgen.
Der stille Schwur brannte wie Feuer in ihrem Herzen, als mit einem lauten Knacken das Fenster in der Frühstücksnische in der Mitte zersprang. Das Geräusch rief eine Erinnerung in ihr wach, und sie löste sich aus der Umarmung. »Ich tue dir weh.«
Zu spät war ihr eingefallen, dass Silentium auf einem Bestrafungssystem für falsches Verhalten beruhte. Ihre Konditionierung war nicht mehr vorhanden, aber Kaleb lebte in Silentium. Jede Berührung, jede Umarmung musste furchtbare Schmerzen in ihm auslösen. Sie sah, wie er Blut abwischte, das aus der Nase tropfte.
»Nein, es ist …« Kaleb kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, weil plötzlich etwas neben ihnen auftauchte.
Kaleb kannte den muskelbepackten Mann nicht, der teleportiert war.
Telekinetisch warf er den Eindringling gegen die Wand und hielt ihn dort mit festem Griff an der Kehle gepackt, während er gleichzeitig durch die geistigen Schilde drang, damit der Mann keine telepathischen Nachrichten senden konnte. Die meisten Telepathen konnten eine Kommunikation nicht unterbrechen, doch Kaleb hatte es von einer Bestie gelernt. »Wer bist du?«
Die schlammfarbenen Augen glitten zu Sahara, Blutblasen quollen aus dem Mund des Mannes, dem eine unsichtbare Hand die Luft nahm. Als Kaleb sich nun auch Sahara zuwandte, sah er, dass sie vor Angst einen Schritt zurückgetreten war und die Fäuste fest geballt hatte. »Hat er dir etwas getan?«
Sie schluckte, nickte zitternd, und ihre Hand fuhr unbewusst an ihren Oberarm. Der Kerl hatte ihr den Arm in der Gefangenschaft gebrochen. Kaleb knallte den Kopf des Eindringlings ein weiteres Mal telekinetisch an die Wand, fasste dann mit den Händen nach seiner Kehle und drückte zu. Ein panischer Blick bat ihn um Gnade, der Mann wusste wohl nicht, dass manche Dinge einfach unverzeihlich waren.
Plötzlich rührte Sahara sich. »Hör auf, Kaleb.«
Der Mann war schon bewusstlos, der Aufprall hatte ihm fast sämtliche Knochen zerschmettert, Blut lief ihm aus Nase, Mund und Ohren.
»Kaleb!«, schrie Sahara, als sie erneut hörte, wie die Knochen des Mannes brachen, der sie gefoltert hatte, bis sie sich tief in ihr Labyrinth zurückgezogen hatte, an einen Ort, wo es weder Schmerz noch Berührung gab, nur vollkommene Taubheit.
Das Blut gefror ihr in den Adern, als Kaleb sie anschaute. Kein Licht schimmerte mehr in der Finsternis, in der er sich befand. »Nein«, flüsterte sie, »oh nein.« Sein Zorn war gewaltig, doch der Preis, den er dafür zahlen musste, war so hoch, dass sie es dennoch wagte, die Hand auf seinen Unterarm zu legen.
»Geh«, sagte er. »Verlass diesen Raum.«
»Nur, wenn du mitkommst.« Sie würde ihn nicht allein lassen, würde sich nicht der Verantwortung entziehen.
Wie ein lebendiges Wesen sah sie das Dunkle durch Kalebs Augen an. »Deine Knochen sind so zart, und so leicht zu brechen.«
Das sollte ihr Angst einjagen. Sie bekam auch Angst, ziemlich große Angst sogar. »Sag mir, warum? Warum willst du den Mann töten? Was ist der Grund für eine solch grausame Tat?«, fragte sie flüsternd, als er den Eindringling wieder zu Bewusstsein kommen ließ und dann erneut seine Kehle zudrückte.
Kaleb hob die Hand, fast wäre sie zusammengezuckt, doch sie beherrschte sich. Aber er schlug sie nicht, sondern strich nur sanft über ihr Jochbein. »Das war auch einmal gebrochen.«
Eine schnelle Folge von Bildern aus den Jahren, die sie betäubt in wechselnden Räumen zugebracht hatte, in denen man ihren Geist hatte brechen wollen.
– alles absolut schwarz, ohne Licht und Luft
– falsche Fürsorglichkeit
– brechende Knochen und schreckliche Schmerzen, wenn sie es nicht schaffte, sich rechtzeitig ins Labyrinth zurückzuziehen
– noch grelleres Licht als in dem Raum, aus dem Kaleb sie geholt hatte
– fürchterliche Kälte auf der bloßen Haut
»Ich … ich erinnere mich.« Ganz egal, wie hässlich die Erinnerungen waren, sie konnte sich nicht abwenden, konnte den schmerzhaften Kontakt zu dem TK-Medialen mit den Obsidianaugen nicht abbrechen.
Erneut strich Kaleb über ihr Jochbein. »Er hat einen Schlagstock benutzt.« Unbändige Wut in leisen Worten. »Er hat dein Jochbein zertrümmert und dich dann liegen gelassen. Die Erinnerung lag ganz vorn in seinem Kopf, ich brauchte bloß durch den ersten Schild zu dringen. Zu schade, dass sein Hirn jetzt zerstört ist und nichts mehr hergibt.«
Ihr wurde übel bei seinen letzten Worten, die so völlig bar jeglicher Gefühle waren. »Nein«, sagte sie, die Vergangenheit lag unter einer Schicht von Betäubungsmitteln, die man ihr verabreicht hatte, doch die Gegenwart war schrecklich klar. »Er war nur ein Wärter, es gab –« Sie verstummte, um nicht einen furchtbaren Fehler zu begehen.
Der Kardinalmediale, der einen Mann an der Gurgel gepackt hatte, fuhr immer noch mit dem Finger über ihr Jochbein. »Es gab noch andere. Sie werden alle sterben.« Dann sah er den Mann an der Wand an und brach ihm das Genick.
Der Tote fiel zu Boden wie ein Sack Müll.
Sahara hätte sich beinahe übergeben, wich aber nicht von der Stelle. »Warum?«, fragte sie noch einmal. »Warum nimmst du Rache für mich?«
Er nahm die Hand von ihrer Wange, in seinen Augen stand immer noch die schreckliche Finsternis, in der sich Wahnsinn und Tod verbargen. »Er wollte dich mir wegnehmen.« Und du gehörst mir.
Die telepathische Feststellung traf sie wie ein Stich ins Herz, ihr wurde noch kälter … denn selbst jetzt, da sie die Augen nicht mehr vor der blutigen Wahrheit verschließen konnte, da sie wusste, was und wer er war, wollte sie nichts weiter, als den Kopf an seine Brust legen und alles um sich herum vergessen. Nie hatte sie sich sicherer und mehr in der Welt verankert gefühlt als in seinen Armen, sie empfand einen Frieden, der in völligem Widerspruch zu ihren verwirrenden Gefühlen stand. Als wäre er der Wahnsinn, der sie ergriffen hatte.
Sie musste schlucken, weil ihre Kehle schon wieder wie ausgetrocknet war, und versuchte sich auf praktische Fragen zu konzentrieren, die ihre geistige Gesundheit nicht gefährdeten. »Wie hat er mich gefunden?«
»Er verfügte über ähnliche telekinetische Qualitäten wie ich und konnte sowohl an Orte als auch zu Personen teleportieren.« Diese Information hatte er dem Verstand des Wärters entrissen, bevor er durch das brutale Eindringen zerbrochen war. »Doch er hatte schwächere Skalenwerte, und seine Reichweite war begrenzt. Ohne Hilfsmittel wäre er nie in deine Nähe gelangt.«
Erst als Kaleb einen Scanner holte und sie damit zu untersuchen begann, begriff sie, was er gemeint hatte. Das schwarze Gerät piepte, als er ihr damit über den unteren Rücken fuhr. »Ich muss das Hemd hochheben.«
Sie nickte und wartete mit klammen Händen, ihr Puls schlug nur noch ganz schwach, als säße sie hinter einer Wasserwand und nähme die Welt nur noch am Rande wahr.
»Unter der Haut ist ein Sender.« Eine leichte Berührung rechts von der Wirbelsäule, kurz über dem Hosenbund. »Etwa so groß wie ein Reiskorn.«
»Sie haben mir einen Peilsender eingepflanzt wie einem Tier.« Kaum hörbar, die Taubheit, die sie vor der grausamen Wirklichkeit schützte, hing nur noch an einem dünnen Faden. »Als wäre ich ihr Eigentum.«
»Warte.« Kaleb ließ den Hemdsaum los und scannte sie weiter.
Er fand fünf Sender. Fünf.
»Sind nicht schwer zu entfernen.« Schwarzes Eis lag über dem Zorn. »Ich hätte gleich am ersten Tag nach Sendern suchen sollen. Wir hätten sie unschädlich machen können, bevor der erste nahe genug heran war, um zu dir zu teleportieren.«
»Tu es jetzt«, sagte sie, und mit lautem Getöse zersprengten Wut und Angst die Wasserwand. »Sie sollen raus!« Ihre Stimme brach. »Mach sie raus! Sofort …«
Kaleb legte ihr die Hand auf den Nacken. »Dauert nur fünf Minuten.«
Das genügte ihr, um nicht wahnsinnig zu werden … denn Kaleb hielt immer, was er versprach.
Ich komme, Sahara! Halte durch! Tu es für mich!
Natürlich waren das Kalebs Worte gewesen, er hatte es geschworen. Niemand anderem war sie so wichtig. Warum das so war, und wann er es gesagt hatte, konnte sie nicht beantworten, aber im Augenblick spielte das keine Rolle. Denn jetzt waren sie in seinem Schlafzimmer, lag sie auf seinem Bett und spürte seine Hand in ihrem Haar. »Leg dich auf den Bauch und betäube die Schmerzrezeptoren, während ich die Instrumente hole.«
Sie drehte sich um.
»Ich nehme ein Laserskalpell«, sagte er, schob das Hemd wieder hoch und schnitt in ihre Haut. Sie spürte die Wärme der Hand. »Es könnte sein, dass du die Pinzette merkst.«
Ein kurzes kaltes Brennen, mehr nicht.
»Ist es draußen?«, fragte sie, ihre Haut kribbelte immer noch unangenehm bei der Vorstellung, was sie die ganze Zeit in ihrem Leib getragen hatte.
»Ja.« Er drückte ein hauchdünnes Pflaster auf die Wunde und bat sie, sich wieder umzudrehen. Der nächste Sender befand sich unterhalb der rechten Hüfte, es tat ordentlich weh, als er mit der Pinzette nach ihm griff. Sie stöhnte auf. Eigenartig. Trotz all der Schmerzen, die sie während ihrer Gefangenschaft erlitten hatte, hatte sie nie geweint, doch nun zitterte ihre Unterlippe, und die Augen brannten. Als wären sämtliche Schutzmechanismen weggefallen.
Kaleb hob den Kopf. »Warum hast du die Schmerzrezeptoren nicht betäubt?« Eine Stimme wie ein Peitschenschlag.
»Ich weiß nicht mehr, wie das geht«, gestand sie und krallte die Finger in das Laken. »Ich bin vor den Schmerzen immer ins Labyrinth geflohen. Zieh es raus, Kaleb. Bitte.«
»Geschafft.« Sie schluchzte erstickt, und er übermittelte ihr telepathisch Schritt für Schritt die Anweisungen für eine zeitweise Betäubung der Rezeptoren. »Versuch es – Schmerzmittel würden sich zu stark auf deine Psyche auswirken.«
Sie konnte sich nur schwer konzentrieren, schaffte es aber, den Schmerz ein wenig zu betäuben.
»Ich werde die Geräte nicht zerstören«, sagte Kaleb, als er sich über sie beugte, um den Sender in der Achsel genau zu lokalisieren – dort hätte sie nie im Leben nachgesehen.
»Warum nicht?« Der Gedanke, sie könnten im Haus bleiben, war zu schrecklich.
»Ich werde sie an ganz verschiedene, schwer erreichbare Orte teleportieren.«
Seine kühle Besonnenheit vertrieb den Schrecken. »Sehr schlau«, sagte sie, als er den nächsten kleinen Sender herauszog. »Das wird sie verwirren.« Sie hielt den Blick fest auf seine Brust gerichtet, um nicht sehen zu müssen, was er da in der Hand hielt, und versuchte angestrengt, ruhig zu atmen.
Der vierte Sender befand sich zwischen ihren Zehen. Doch der fünfte … »Ich mach das«, sagte sie, bittere Galle stieg in ihr hoch. Dass man ihr das angetan hatte – und es wurde nicht weniger schlimm dadurch, dass Ärzte daran beteiligt gewesen sein mussten.
»Das kannst du nicht. Es sitzt zu tief.« Kaleb legte die Instrumente beiseite und nahm wieder den Scanner in die Hand. »Wenn ich den Sender genau sehen kann, kann ich ihn rausholen.«
Sahara biss sich auf die Lippen, als er den Scanner auf ihren Nabel richtete … und langsam tiefer ging. Das alles war so hässlich, dass sie am liebsten nicht weiter darüber nachdenken wollte. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den rätselhaften, gefährlichen Mann, der sie gefangen hielt, und dem gerade eine schwarze Strähne in die Stirn fiel. »Halt den Scanner über der Stelle fest.«
Sie sah nicht nach unten, als sie die Hand ausstreckte.
»Ich hab ihn.« Kaleb suchte ihren Blick, so nah und so schmerzhaft war der Kontakt. »Ich muss durch Muskeln und Haut, das wird aber keinen großen Schaden anrichten, da der Sender doch nicht ganz so tief sitzt, wie ich gedacht hatte. Es wird aber wehtun.«
»Schon gut«, sagte sie und hielt den Scanner fester. »Ich bin bereit.«
Kaleb biss die Zähne zusammen, als sie nach Luft schnappte. »Es ist draußen und jetzt schon tief im Gestein auf dem Gebiet der SnowDancer-Wölfe vergraben, wo nur jemand sehr Dummes sich hinwagen würde.«
Wieder hatte sie ein klammes Gefühl. »Vielen Dank.«
»Die Wunde wird in zwei Tagen verheilt sein«, sagte er, nahm ihr den Scanner ab und legte ihn auf den Nachttisch. »Aber falls dir irgendetwas sonderbar vorkommt, stelle ich dich sofort einem M-Medialen vor.«
»Es tut schon gar nicht mehr weh.« Schauer liefen über ihren Körper, sie rollte sich auf dem Bett zusammen. »Bald werden andere kommen«, sagte sie, und ihre Zähne klapperten laut. »Wenn sie die Aufzeichnungen mit den Berichten des TK-Medialen vergleichen, werden sie feststellen, dass die Sender zuerst alle an einem Ort waren, nämlich hier.«