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Fassungslos laufe ich die Rue Courbet hinauf, bis ich endlich am Studio ankomme. Die Mitarbeiter haben bereits Feierabend gemacht, ich kann nur hoffen, dass Amelie noch da ist. Ich renne den Flur entlang in das Zuschneidezimmer und sehe sie dort sitzen.

»O mein Gott, du bist noch da! Amelie, verdammt, er hat mich geküsst!«, platze ich sofort heraus und lasse mich auf meinen Bürostuhl sinken.

»Wer? Mathis?«, fragt Amelie verblüfft, mit einer Stecknadel zwischen den Lippen. Sie lässt die Schere sinken, sie ist gerade dabei, einen Stoff zuzuschneiden. Sie nimmt die Stecknadel aus dem Mund und steckt sie in der Stoffbahn fest. Was mich beruhigt, jetzt kann sie diese wenigstens nicht verschlucken.

»Nein«, ich wedele mir mit der Hand Luft zu. »Noé hat mich geküsst.«

Jetzt habe ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Noé? Du sprichst jetzt nicht von Noé Cassel?!«

»Doch«, nicke ich. »Cassel hat sich herausgenommen, mich zu beleidigen und danach zu küssen.«

Amelie lässt sich auf einen Stuhl nieder. »Ich fasse es nicht. Warum hat er das getan? Hast du ihn dermaßen mit Fragen gelöchert, dass er dich nicht anders stoppen konnte, oder was ist genau passiert?«

Tief hole ich Luft und erkläre in knappen Worten, wie die Verkostung abgelaufen ist.

»Wow! Ich mag diesen Cassel jetzt schon. Er hat ebenso wie ich erkannt, dass Mathis wirklich nicht der Richtige für dich ist.«

Wütend springe ich auf, mein Stuhl kippt dabei fast um. »Was habt ihr nur alle gegen Mathis? Ich verstehe es nicht!«, rufe ich laut.

»Weil er ein falsches Spiel mit dir spielt, Lily! Ich wollte es dir nicht sagen, aber wenn Mathis sich so aufführt, kann es doch nur einen Grund haben.«

»Welchen denn?«, frage ich völlig ahnungslos.

»Ach, Lily. Ist dir eigentlich noch nie in den Sinn gekommen, dass seine ganzen Überstunden einen anderen Grund als seine Arbeit haben?« Amelies Stimme ist ernst und das sonst so übliche Funkeln in ihren braunen Augen bleibt aus.

»Du meinst, er hat eine andere?«, frage ich und weiß im selben Moment, wie absurd meine Frage klingt. Warum sollte er mich heiraten wollen, wenn er eine andere liebt?

»Ja«, nickt Amelie und kann mich dabei nicht einmal ansehen.

Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. »Du weißt etwas, Amelie. Lüg mich nicht an. Sag mir die Wahrheit.«

Amelie kommt zu meinem Tisch und nimmt darauf Platz. »Ich habe ihn gesehen. Mathis. Mit einer blonden Frau. Arm in Arm, unten am Hafen. Es war schon spät. Vor drei Tagen. Eine große Frau mit hellblondem langen Haar.«

»Aber vielleicht war es nur eine Kollegin«, versuche ich, die Situation zu erklären.

»Er hat sie geküsst. Nicht auf die Wange, sondern er hat ihr richtig die Zunge in den Hals gesteckt. Es tut mir leid, dass du es von mir erfährst. Aber ich kann nicht anders. Ich kann dich nicht in dein Unglück rennen lassen, Lily.«

Vollkommen verwirrt starre ich sie an. Ich kann noch gar nicht realisieren, was sie mir hier erzählt. Vor drei Tagen? Das war der Freitagabend, an dem wir eigentlich ins Kino wollten, doch er rief mich an und sagte unseren Termin ab, weil er länger arbeiten musste. Schöne Arbeit!

»Aber warum macht er das mit mir?«, frage ich verzweifelt.

Amelie greift nach meiner Hand und hebt die Schultern. »Ich weiß es nicht, Liebes. Aber da du nun weißt, was du weißt, dürfte dir Mathis’ Verhalten nicht mehr so merkwürdig vorkommen. Vermutlich ist er nicht in der Lage, dir die Wahrheit zu sagen, weil er ein Feigling ist. Und wenn du in Ruhe darüber nachdenkst, hast du ihn auch nie wirklich heiraten wollen. Du hast dich noch nicht mal richtig um ein Hochzeitskleid gekümmert.«

Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Diese ganze Situation überfordert mich.

»Aber jetzt habe ich diese verfluchte Torte schon bestellt.«

»Die Torte?«

»Ja, Schoko-Chili mit Champagner-Trüffel«, schluchze ich.

Sie reicht mir ein Taschentuch. »Hört sich auf jeden Fall nach einer Überdosis Zucker an.«

»Vielleicht kann ich ja die Chilis dafür verantwortlich machen, dass ich Cassel geküsst habe.«

»Du sagtest, er hätte dich geküsst.«

»Ja, hat er ja auch, und dann habe ich mitgemacht und ihn wiedergeküsst.«

»Und dann?«

»Dann habe ich gesagt, er soll die Torte bis Freitag fertig haben.«

»Siehst du, wieder ein Beweis dafür, dass du es nicht ernst mit dieser Hochzeit meinst, denn du brauchst die Torte erst am Samstag.«

*

Wie ein Tier im Käfig bin ich vor Mathis’ Büro in der Rue Felix Martin hin und her getigert. Mathis direkt auf seine Untreue anzusprechen hat keinen Sinn. Er hat mich bisher angelogen, warum sollte er plötzlich damit aufhören? Doch ich brauche Gewissheit. Will es mit eigenen Augen sehen – wenn es etwas zu sehen gibt.

Ich stehe nun versteckt in dem gegenüberliegenden Hauseingang und komme mir vor wie Dr. Watson ohne Sherlock Holmes. Verflucht, warum habe ich Amelie nicht mitgenommen? Vermutlich, um zu vermeiden, dass sie ihn auf offener Straße erschießt, sollte er mit einer Frau im Arm aus dem Büro kommen.

Es ist bereits nach neunzehn Uhr und Mathis scheint immer noch zu arbeiten. Zumindest hat er mir eine SMS geschickt, dass er heute länger bleiben muss, mal wieder.

Kaum checke ich mein Handy, öffnet sich die Haustür und Mathis kommt heraus. Allein. Ich atme erleichtert aus. Kurz entschlossen entscheide ich, meinen Beobachtungsposten aufzugeben, als sich die Tür hinter Mathis erneut öffnet und er sich lächelnd umdreht. Eine hochgewachsene blonde Schönheit wirft sich in seine Arme und küsst ihn überschwänglich. Er drückt sie an sich und seine rechte Hand landet auf ihrem Po. Dann laufen sie Arm in Arm geradewegs auf mich zu.

Ich kann nicht anders. Es bedarf nur eines Schrittes und ich trete aus dem dunklen Hauseingang ins Licht. Als Mathis mich erkennt, bleibt er abrupt stehen und sieht mich erschrocken an.

»Ähm … hallo Lily … darf ich dir …?«

»Nein, darfst du nicht«, unterbreche ich ihn unwirsch.

Das dümmliche Grinsen der Blondine bringt meine Wut erst richtig zum Kochen. »Wann wolltest du es mir sagen? Wolltest du es mir überhaupt jemals sagen?«, rufe ich aufgebracht.

Allerdings bin ich an der Antwort gar nicht interessiert. Ich ziehe den Ring von meiner linken Hand und werfe ihn Mathis vor die Füße. »Hier hast du deinen Ring zurück. Tausch ihn um und hol dir das Geld zurück!«

Ich drehe mich auf dem Absatz um und gehe langsam davon. Nur nicht rennen, predige ich mir immer wieder vor. Ich renne schließlich nicht weg, ich nehme nur Anlauf für ein neues Leben.