EXODUS UND RADIKALE UMKEHR

Auf dem Menschen lastet ein Fluch. Aber das ist nicht das letzte Wort über ihn. Die durch seine Sündhaftigkeit ausgelöste Kette menschlicher Tragödien und Katastrophen kann gesprengt werden, und diese Sprengung beginnt mit einem Exodus.

Und der Herr sprach zu Abram: Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. (1 Mose 12, 1) Und Abraham geht.

Dem Exodus des Stammvaters folgt der Exodus seiner Nachkommen aus Ägypten. In der Wüste werden sie zum Volk, scharen sich um die Thora. Nach ihr soll das Volk Gottes leben, sich dadurch von der Sünde befreien und den anderen Völkern zeigen, wie man leben muss, damit das Leben gelingt. So zumindest war es gedacht.

Aber das Volk lebte meistens anders, in der Regel so, wie die übrigen Völker auch, sodass diese nichts lernen konnten. Offenbar wollte das Volk Gottes nicht nach Gottes Willen leben. Oder, noch schlimmer: Konnte es vielleicht gar nicht?

Das ist eine der Fragen, die Juden und Christen bis zum heutigen Tag beschäftigt, und nicht nur sie. Andere Völker versuchten andere Antworten und andere Lösungen. Die Griechen zum Beispiel probierten es mit Ethik und Moral und einer Lehre vom guten Leben. Der Mensch soll das Gute erkennen. Wer es erkennt, wird es tun, glaubten die Optimisten unter den griechischen Philosophen. Hat auch nicht funktioniert. Die meisten wollen gar nicht unbedingt erkennen. Die es wollen, verwechseln das Gute mit ihren Wünschen. Die es erkennen, tun es nicht. Die es tun, machen meistens etwas falsch.

Aber der Mensch ist doch vernunftbegabt, sagten die Aufklärer. Also müsste es doch endlich klappen, wenn man ihn dazu bringt, aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszutreten und in freier Entscheidung Verantwortung für sich und die Welt zu übernehmen. Jedes vernunftbegabte Wesen, so dachte etwa Immanuel Kant, müsse doch aus eigener Einsicht den kategorischen Imperativ befolgen: «Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.»

Das wäre in der Tat vernünftig, nur: Die Meinungen darüber, was als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte, gehen weiter auseinander, als sich das die Aufklärer in ihrem naiven Glauben an die Vernunft vorstellen konnten. Die Aufklärer waren noch nicht aufgeklärt genug.

Und: Der Mensch verfügt zusätzlich zur Vernunft auch noch über jene Leidenschaften, Begierden und Sehnsüchte nach Geltung, Besitz, Macht und Lust, denen er seine Existenz und Entwicklung zum vernunftbegabten Wesen verdankt. Auf diese archaischen Instinkte, die sich in Jahrmillionen als erfolgreich bewährt haben, verlässt sich der Homo sapiens lieber als auf seine soeben erst erworbene junge Vernunft, die er hauptsächlich dazu benutzt, auf raffinierte Weise zu begründen, dass seine egoistischen, leidenschaftlich verfolgten Vitalinteressen erstaunlicherweise mit den allgemeinen Prinzipien der Vernunft übereinstimmen. Und wenn dann zwei gegensätzliche Vitalinteressen aufeinanderprallen, kommt es eben zu jenen archaischen Kämpfen, die wir aus dem Tierreich kennen und aus der menschlichen Urhorde, die nun aber wegen der hochentwickelten Mittel, die den Kontrahenten heute zur Verfügung stehen, um ein Vielfaches blutiger, grausamer, widerlicher, opferreicher und kostenintensiver sind als in der Vorzeit.

Immer wieder in der Geschichte gab es Einzelne und Gruppen, die daran schier verzweifelten und sagten: Es muss doch eine Lösung geben! Und dann dachten sie sich eine Lösung aus, erprobten sie – und scheiterten.

Die Kommunisten glaubten, der weiteren Evolution des Menschengeschlechts hin zur Vernunft dadurch auf die Sprünge helfen zu können, dass man vernünftige Verhältnisse herstellt. Würde der Mensch erst einmal in guten und vernünftigen Verhältnissen leben, würde er auch vernünftig und gut werden, lautete die Idee. Jedoch: Für die Herstellung vernünftiger Verhältnisse hätte es guter, vernünftiger Menschen bedurft. Die waren naturgemäß nicht vorhanden. Daher musste man die vollkommene Gesellschaft notgedrungen mit unvollkommenen Menschen aufbauen, was zwangsläufig dazu führte, die Unvollkommenen zu beaufsichtigen, zu lenken, sie zu ihrem Glück zu zwingen. Aber die dummen Geschöpfe widersetzten sich dem Zwang, also wurde die Kontrolle verstärkt, das Treiben der Widerspenstigen schon im Vorfeld erkundet und im Keim erstickt. Jeder musste jeden beaufsichtigen und jede Unregelmäßigkeit nach oben melden, und auf einmal endete der Versuch, das Paradies auf Erden zu schaffen, in der Hölle des Gulag und in einem von der Stasi und dem KGB gelenkten Überwachungsstaat von Orwell’schem Ausmaß.

Den entgegengesetzten Weg empfahlen die Sozialdarwinisten. Lebt im Einklang mit der Natur, sagten sie. Gehorcht ihren Imperativen und ihrem Modell von Mutation und Selektion und dem Prinzip des «survival of the fittest». Wie sich in der Natur die verschiedenen Arten einen mörderischen Dauerkampf um Raum und Nahrung liefern, so müssen auch unter den Menschen die verschiedenen Rassen die Herausforderung annehmen und sich der Konkurrenz stellen. Daher kann sich keine Rasse leisten, die Schwachen mit durchzufüttern. Zuchtwahl, Auslese, Elitebildung ist angesagt. Nur die Starken sollen gefördert und belohnt werden, die Schwachen aber gehören nicht gehätschelt, sondern ausgesondert. Was fällt, soll man noch treten. Die Gesunden sollen sich der Kranken erwehren und diese sterben lassen oder töten. Alles Krankhafte, alles den Volkskörper Schädigende, alles die Reinheit der Rasse und Nation Gefährdende muss gnadenlos aufgedeckt und vernichtet werden. Nur so kann sich die Menschheit höherentwickeln.

Diese Geschichte endete in Euthanasie und Auschwitz, und damit sind wir wieder bei jener Erfahrung gelandet, an der schon die biblischen Autoren schier verzweifelten: Was immer der Mensch tut, endet meistens böse. Selbst das, was er in guter Absicht unternimmt, geht häufig schief. Ist er also prinzipiell unfähig zum Guten? Gibt es eine typisch menschliche Struktur, an der jede Ethik und jedes Gesetz zerschellt? Es scheint so.

Die Bestie Mensch kann offenbar nur durch Androhung staatlicher oder sonstiger Gewalt im Zaum gehalten werden. Der Mensch braucht Gesetze und Kontrollen und Instanzen, die ihm Grenzen setzen. Nur so kann menschliches Fehlverhalten einigermaßen ausgeschlossen und der Mensch vor dem Menschen geschützt werden.

Und wenn es nun einmal so ist, aber weiterhin der aufklärerische Grundsatz gelten soll, dass jeder Mensch frei, gleich und im Besitz einer unantastbaren Würde sei, dann kann man vernünftigerweise nur jenes System der gegenseitigen Gewaltenkontrolle etablieren, das wir Demokratie nennen und das nichts weiter ist als ein Verfahren, den Kampf aller gegen alle gewaltfrei und nach durchschaubaren Regeln zu organisieren. Daher ist der Rechtsstaat eine unaufgebbare zivilisatorische Errungenschaft.

Eines aber vermag der perfekteste Rechtsstaat nicht: Er kann nicht die innere Haltung der Menschen kontrollieren und lenken. Er kann nicht das menschliche Herz ändern. In seinem Innersten bleibt der Mensch offenbar jener alte Affe, der genau den archaischen Selbsterhaltungs-Instinkten gehorcht, denen er sein Überleben verdankt, und wenn dieser Affe Mittel und Wege findet, seine Interessen ungestraft am Rechtsstaat und an der Demokratie vorbei durchzusetzen, wird er das tun.

Gegen diese Tendenz versuchen rechtsstaatliche Regierungen durch eine permanente Verbesserung der Gesetzgebung anzukämpfen. Aber das Ergebnis ist nicht Gerechtigkeit, sondern Bürokratie. Eine in absurde Höhen geschraubte Gesetzesspirale verhilft schon längst nicht mehr dem Schwachen zu seinem Recht, sondern begünstigt denjenigen, der sich Heerscharen von Anwälten, Steuerberatern, Lobbyisten und einen eigenen Interessenverband leisten kann. Das Treiben dieser Gruppen produziert eine bürokratisch-technokratische Prozesshansel-Gesellschaft, in der jeder jeden blockiert.

An der Einsicht, dass die besten Gesetze und die besten Regierungen nichts taugen, wenn die Haltung der Regierenden und der Regierten nichts taugt, setzen Johannes der Täufer und Jesus den Hebel an. Ihre Lösung lautet: Raus aus diesem absurden System. Exodus. Johannes erinnert an den Exodus in seiner Bußpredigt und gibt ihm, wie später auch Jesus, eine neue Bedeutung. Exodus bedeutet jetzt Exodus aus dem real existierenden Israel in jenes Israel, wie es ursprünglich einmal gedacht war. Das Land, das ich dir zeigen will, heißt jetzt Reich Gottes. Die Einbürgerung erfolgt nicht mehr automatisch qua Geburt und der richtigen Volkszugehörigkeit, sondern erfordert die bewusste Entscheidung jedes Einzelnen. Und der Weg zur neuen Staatsbürgerschaft führt über Exodus, Umkehr und Buße.

Buße bedeutet etwas sehr Einfaches, was aber dennoch jedem Menschen schwerfällt. Buße verlangt vom Menschen, die hohe Meinung, die er irrigerweise von sich selbst hat, abzulegen. Das gelingt ihm ziemlich mühelos, wenn es um die Mitmenschen geht. Nur sich selbst so zu sehen, wie man wirklich ist, fällt unendlich schwer, weil jeder instinktiv fühlt: Man würde vor sich selbst erschrecken. Man müsste sich eingestehen: Die Welt ist, wie sie ist, weil ich so bin, wie ich bin.

Buße bedeutet die schockierende Einsicht, dass man es günstigen Einflüssen und Umständen, der bloßen Angst vor Strafe oder einem Mangel an Gelegenheit zu verdanken hat, wenn man nicht zum Lügner, Betrüger, Mörder oder Dieb geworden ist. Buße bedeutet einzusehen, dass man sich mehr seinen eigenen Zufällen – sozialer Herkunft, Geburtsort, Zeitpunkt der Geburt, Erziehung, einer robusten Konstitution und so weiter – verdankt als seiner eigenen Leistung. Buße bedeutet zu verstehen, dass man keinen Grund hat, auf den Zöllner, die Hure, den Opportunisten, die Heuschrecke, den korrupten Politiker, den Stasispitzel oder den bestechlichen Beamten verächtlich herabzublicken, denn möglicherweise wurde man nur durch ein günstiges Schicksal davor bewahrt, selbst Mitglied dieser verachteten Gruppen geworden zu sein. Erst dann, wenn man verzweifelt in seine eigenen Abgründe geblickt hat, ist man in der Lage, Mördern, Spitzeln oder gar KZ-Aufsehern zu vergeben. Und nur die Vergebung, nicht die Verachtung, kann den Mörder verwandeln. Den verwandelten, bereuenden Mörder aber können wir wieder annehmen, achten und vielleicht sogar lieben.

Buße verlangt nach Umkehr. Sie ist der Exodus aus der eigenen Natürlichkeit und den bisherigen Verhältnissen, sie ist der Bruch mit der eigenen Herkunft und Vergangenheit und jene innere Kehrtwende des ganzen Menschen, die nicht nur dessen Verhalten radikal ändert, sondern zuvörderst dessen Haltung.

Jesus wusste nichts von der Evolution, aber er spricht die ganze Zeit so, als ob er etwas davon wüsste, denn sinngemäß predigt er den Menschen: Ihr, die ihr euch nach einem Jahrmillionen währenden Kampf ums Dasein eine Kampfausstattung zugelegt habt, die euch zu den größten, stärksten und raffiniertesten Siegern gemacht hat, sollt eure Rüstung ablegen, denn ihr braucht sie nicht mehr. Längst habt ihr in eurer evolutionären Entwicklung einen Punkt erreicht, an dem eine weitere Steigerung eurer Kampfkraft keine weitere Steigerung eures Überlebensvorteils mehr darstellt, sondern in ihr Gegenteil umschlägt. Darum müsst ihr raus aus dieser Rüstungsspirale der Evolution. Abrüsten ist angesagt. Und was ihr jetzt braucht, ist etwas ganz anderes: Liebe. Sehende Liebe. Erkennende Liebe. Eine Verwandlung des Menschen bis ins Unbewusste hinein.

Das ist gemeint, wenn Jesus in der Bergpredigt sagt: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der wird dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, wird dem Gericht verfallen sein. (Matthäus 5, 21 – 22)

Oder: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. (Matthäus 5, 27)

Und schließlich: Liebet eure Feinde; tut denen wohl, die euch hassen; segnet die, so euch verfluchen und bittet für die, so euch beleidigen. Und wer dich schlägt auf einen Backen, dem biete den anderen auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem wehre nicht auch den Rock. Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das deine nimmt, da fordere es nicht wieder. Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, also tut ihnen gleich auch ihr. (Lukas 6, 27 – 31)

Nichts davon steht im Widerspruch zum Alten Testament. Jesus sagt lediglich, dass man in Israel den Sinn der Thora gewollt oder ungewollt nicht verstanden und darum nicht wirklich ernst genommen hat. In all seinen Predigten, in allem, was er sagt und tut, schwingt stets die Botschaft mit: Dass ihr euch an die Gesetze haltet, ist ja in Ordnung. Aber wenn ihr glaubt, das genüge, irrt ihr euch. Ich will mehr von euch, ich will etwas ganz anderes, ich will, dass ihr kein Gesetz mehr braucht. Ihr sollt aus freien Stücken so leben, dass Gesetze, Polizei, Richter, Staaten und Regierungen überflüssig werden. Das will ich, weil Gott es immer schon von euch gewollt hat.

Wenn Gott der Meinung gewesen wäre, dass es genüge, nicht zu stehlen, nicht zu lügen, nicht zu betrügen, nicht die Ehe zu brechen und nicht zu morden, hätte er aufs erste Gebot verzichten können. Hat er aber nicht. Und ihr alle wisst es, aber ihr habt euch diesem Wissen entzogen. Vielleicht war das Gebot der Gottesliebe zu abstrakt für euch. Darum sage ich euch jetzt, was es konkret bedeutet: Gott zu lieben heißt, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Schärfer noch: Auch eure Feinde sollt ihr lieben.

Jesus konfrontiert also die Menschen mit einer radikalen, unzumutbaren, unerfüllbaren Überforderung. Aber er bringt damit für alle verständlich auf den Punkt, worin eigentlich der Sinn jenes Gesetzes besteht, das sich unter der jahrhundertelangen Fleißarbeit der Schriftgelehrten zu solch einem komplizierten Gebilde entwickelt hat, dass nicht einmal mehr sie selbst sich darin zurechtfinden. Statt den ursprünglichen Sinn des Gesetzes zu lehren, benutzen es die Schriftgelehrten, um sich in endlose Streitigkeiten über die richtige Auslegung zu verzetteln, sich mit immer neuen Spitzfindigkeiten gegenseitig zu übertrumpfen und damit ihre beruflichen Karrieren zu befördern.

Dieses Spiel spielt Jesus nicht mit. Stattdessen holt er den ursprünglichen Ernst des Gesetzes zurück ins Leben und reduziert es auf eine verständliche Botschaft, die jedermann mit dem ungeheuerlichen Anspruch Gottes an die Menschen konfrontiert. Und Gottes Anspruch an die Menschen, in heutigen Worten, lautet: Riskiere den Exodus aus deiner Natur. Befreie dich aus der Sklaverei deiner Gene. Streife die Fesseln deiner Herkunft aus der Urhorde von dir ab. Höre auf, für deine Vitalinteressen zu kämpfen und beginne, für die Vitalinteressen deines Nächsten zu kämpfen. Zerstöre das Produkt der Evolution in dir. Lösche jene genetische Information in dir, die dazu geführt hat, dass sich die Kette deiner Ahnen durchsetzen und zuletzt dich hervorbringen konnte. Vernichte das Programm, dem du deine Existenz verdankst. Töte den alten Menschen in dir.

Das Sterben des alten, sündigen Menschen, versinnbildlicht durch die Taufe beim Untertauchen ins Wasser, ist also nicht nur symbolisch gemeint, sondern ganz real. Und das Wort für dieses Sterben lautet: Umkehr.

In dem Anspruch steckt auch ein Zuspruch: Du bist zwar ein Naturwesen, aber das musst du nicht bleiben. Du kannst, wenn du nur willst, gottebenbildlich werden. Du kannst umkehren und ein neuer, wiedergeborener Mensch werden.

Dort, wo die Menschen diese totale Kehrtwendung vollziehen und miteinander leben, entsteht das Reich Gottes, ein Reich mitten in der Welt, aber nicht von dieser Welt, kein nationalstaatliches Gebilde, sondern eine Exklave, in der andere Gesetze gelten als in der Welt. Und nur in dieser Exklave ist es möglich, nach den Regeln der Bergpredigt zu leben. In der normalen Welt wäre das völliger Unsinn. Wer dort nach der Bergpredigt zu leben versuchte, würde nur ausgenutzt, bis aufs Hemd ausgezogen, obendrein noch lächerlich gemacht und heimlich oder offen verspottet.

Die Bergpredigt ist auch nicht auf die Politik und den Staat übertragbar, denn der Staat kann ja nur drei Dinge: Geld verteilen, Gesetze machen und deren Einhaltung durchsetzen. Die Bergpredigt aber taugt nicht als Anleitung für einen christlichen Etat, und in Gesetze gießen lässt sie sich schon deshalb nicht, weil sie doch die Überwindung aller Gesetze bedeutet, auch die Überwindung des Staates.

Das Liebesgebot mitten in der Welt erfüllen zu wollen, wäre ebenfalls Unsinn. Das kann niemand aus eigener Kraft, und wer es dennoch versucht, weil er den Ehrgeiz hat, ein Heiliger werden zu wollen, wird meist nur ein unangenehmer, überheblicher, herrschsüchtiger Zeitgenosse, der seine Umgebung durch Sanftheit, Aufopferung und Altruismus terrorisiert.

Die Kraft zur Liebe muss man sich schenken lassen. Sie wächst einem zu durch den Glauben, aber nicht zu Hause im stillen Kämmerlein, nicht im Büro und nicht draußen in der normalen Welt, sondern nur in jener Exklave namens Reich Gottes, das sich nach dem Willen Jesu in der Gemeinde manifestieren soll. Klappen kann das aber nur, wenn es dort tatsächlich liebende Menschen gibt. Liebe, die Realisierbarkeit der Bergpredigt, hängt an der Existenz neutestamentlich verfasster Gemeinden. Die Liebe und die Gemeinde sind zwei Seiten derselben Medaille, die eine bedingt die andere, aber nur dort, wo die Gemeinde wahrhaftig ist. Gemeinden, in denen lediglich Vereinsmeierei betrieben wird, sind nicht Teil dieser Exklave, sondern ein religiös getünchter Teil der normalen Welt.

Das bedeutet nicht, dass Kirchen und Gemeinden als Christenvereine überflüssig sind. Es kann dort viel Gutes geschehen. Funktionierende Kirchengemeinden sind in einer orientierungslosen, zerfallenden Gesellschaft nötiger denn je. Sie können zahlreiche Nöte lindern, gesellschaftliche Schäden reparieren, politisch darauf Einfluss nehmen, dass die Ärmsten der Armen nicht ganz dem Vergessen anheimfallen.

Vor allem aber sind Kirchen und Gemeinden als Institutionen und Körperschaften des öffentlichen Rechts nötig, um die alten Texte der Bibel durch die Zeiten zu tragen. Solange sie gelesen werden, so lange erhält sich die Sehnsucht nach dem wirklichen Reich Gottes, in dem Nöte nicht gelindert, sondern für alle Zeiten beseitigt werden. Solange es die christliche Vereinsmeierei gibt, so lange besteht die Chance, dass immer wieder Menschen nachwachsen, die den Exodus riskieren und sich mit ihrer ganzen Existenz auf jenes Wagnis einlassen, das Jesus als Reich Gottes bezeichnete.

In jenem Reich konnten die Jünger Jesu einander lieben, weil sie zuerst von Jesus geliebt wurden. Nach seinem Tod konnten sie die Liebe weitergeben an andere, und dabei machten alle miteinander die beglückende Erfahrung, wie revolutionär schön das Leben ist, wenn jeder seine Rüstung fallen lässt. Dann muss plötzlich keiner mehr fürchten, übervorteilt zu werden. Man muss nicht mehr um seine Stellung kämpfen, nicht mehr permanent darauf achten, dass einem jemand die Butter vom Brot nimmt, und nicht mehr an seinen eigenen Vorteil denken, weil die anderen daran denken. Die ganze Kraft, die man draußen in der Welt braucht, um sich gegen die anderen zu behaupten, die ganze Energie, die wir für den permanenten Konkurrenzkampf verheizen, steht jetzt zur Verfügung für den Aufbau einer anderen Welt. Dort werden dann tatsächlich Kranke gesund und Gesunde erst gar nicht krank, die Blinden erlangen ihr Augenlicht zurück, die Verstummten ihre Sprache, und die Traurigen werden wieder froh.

Diese Erfahrung verwandelt den Menschen von Grund auf, bis ins Unbewusste hinein, ermöglicht jene sehende, erkennende Liebe, die nichts mit Eros, Sex, Ehe oder Elternliebe zu tun hat. Es ist Nächstenliebe, Agape, die höchstentwickelte Form der Liebe, von der Paulus sagt: Sie ist langmütig und gütig, beneidet nicht, prahlt nicht, bläht sich nicht auf, sucht nicht das Ihre, lässt sich nicht erbittern, rechnet das Böse nicht zu, freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, freut sich aber der Wahrheit, erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, duldet alles, und hört nimmer auf (1 Korinther 13, 4 – 8). Es ist jene Liebe, die den Menschen sieht, wie er wirklich ist, ihn trotzdem annimmt und ihn dadurch so von Grund auf verwandelt, dass er plötzlich annehmbar, ja liebenswert ist.

So eine Verwandlung des Menschen geschieht nicht über Nacht. Die vielen Glieder, die ihr Leben miteinander teilen und einen Leib Christi bilden, müssen wirklich vorhanden und in der Lage sein, den neuen Staatsbürger in das Leben im Reich Gottes einzuführen, denn das muss erst erlernt werden, meist unter Mühen. Man muss bereit sein, sich von den anderen korrigieren zu lassen. Das fällt den Menschen unendlich schwer. Daran sind schon viele Aufbrüche gescheitert.

Die Umkehr, die dabei verlangt wird, hat nichts mit moralischem Gutsein zu tun. Moralische Hochleister behindern den Betrieb im Reich Gottes eher, als dass sie ihn befördern. Daher tut sich Jesus mit Zöllnern, Ehebrechern und kleinen Ganoven stets leichter als mit jenen hochanständigen Pharisäern, deren über jeden Zweifel erhabene moralische Qualität Respekt abnötigt, aber eben darum meistens auch mit hochmütigem Tugendstolz gravitätisch einherschreitet. Umkehr ist etwas viel Radikaleres als moralische Selbstvervollkommnung. Umkehr ist die radikale Entwertung all dessen, was einem im Leben als wertvoll erschien. Das alles muss drangegeben werden für das einzig Wertvolle.

Danach, wenn alles für die kostbare Perle oder den Schatz im Acker geopfert wurde (Matthäus 13, 44 – 46), kann man auch wieder die zuvor verworfenen Werte – die Liebe zur Musik, zur Kunst, zur Literatur, zu seinen Eltern, seinen Kindern, seiner Konfession, seiner politischen Überzeugung – in sein Leben zurückholen, aber die Priorität der Werte wird jetzt eine andere sein, und auch die Beziehung dazu wird sich verwandelt haben.