DIE KIRCHLICHE TRAGÖDIE: VOM BÜNDNIS VON THRON UND ALTAR, DEM VERRAT AN DER EIGENEN BOTSCHAFT UND VOM WIDERSTAND GEGEN DIESEN VERRAT

Es ist eine sonderbare Geschichte. In den Schicksalsjahren zwischen 313 und 380 nach Christus wurde einerseits die Grundlage dafür gelegt, dass sich das Christentum in der Welt durchsetzen, Europa erfinden und sich bis heute erhalten konnte. Andererseits folgten diesen Jahren mehr als anderthalb Jahrtausende, in denen das Christentum Christus immer wieder verraten hat. Diese Ambivalenz kennzeichnet Europa und die westliche Welt bis in die Gegenwart.

Zwischen 313 und 380 bildete sich jenes Bündnis von Thron und Altar, das selbst heute noch nicht überall ganz zerbrochen ist. Meistens profitierte die geistliche Macht mehr von diesem Bündnis als die weltliche. Kaiser und Könige kamen und gingen, der Papst blieb. Kaiserreiche blühten auf und verschwanden, die Kirche blieb. Sie überstand Luther und die Reformation, die Französische Revolution, die Aufklärung, Napoleon und die Säkularisierung. Sie überlebte Hitler und Stalin, und sie wird wohl auch China, Russland und die USA überleben.

Man kann das damit erklären, dass Gott stets seine schützende Hand über die Kirche hält. Man kann es aber auch damit erklären, dass die Kirche schon früh ein sehr modernes Führungsprinzip etablierte.

Kaiser und Könige vererbten ihre Würde an ihre Nachkommen weiter, und man konnte gewiss sein, dass spätestens in der vierten Generation ein Idiot kommen und alles wieder kaputt machen würde, was seine Vorfahren aufgebaut hatten. Das kirchliche Führungspersonal dagegen kannte keine natürliche Erbfolge, keine adlige Inzucht und keine familiären Versorgungsansprüche, sondern musste sich immer von Neuem aus den jeweils Besten rekrutieren. Mit dem Verlust von König- und Kaiserreichen verschwand immer auch das vorhandene Herrschaftswissen. Die neuen Herrscher mussten es sich neu erwerben und an ihre Nachkommen weitergeben.

Das kirchliche Herrschaftswissen ging nie verloren, konnte, wie die kirchlichen Besitztümer, kontinuierlich erweitert und ungestört an die jeweils nachfolgende Kardinalsgeneration weitergereicht werden. Und dank der fast globalen Verbreitung der Kirche flossen in Rom die Informationsströme aus aller Welt zusammen. Das verschaffte den Herren in Rom einen Vorteil, den sie stets zu nutzen wussten und oft, in scheinbarer Demut, gnadenlos ausspielten gegen jene tumben Toren, die sich Kaiser, Fürst oder König nannten.

Von all dem wussten die Christen des vierten Jahrhunderts noch nichts. Als ihnen Roms Kaiser Konstantin im Jahr 313 die volle Gleichberechtigung im Staat gewährte, herrschten nichts als Jubel und Dankbarkeit. Ab sofort waren sie frei von allen Einschränkungen und Repressalien.

Der Gleichstellung folgte wenig später die Bevorzugung. Konstantin verbot seinen heidnischen Beamten, was früher den Christen verboten war: das öffentliche Bekenntnis ihres Glaubens durch Opfergaben. Außerdem besetzte er immer mehr Beamtenstellen mit Christen, denn sie erwiesen sich als gehorsam, dankbar, zuverlässig und tüchtig, und im Jahr 321 führte der Kaiser die Sonntagsfeier per Gesetz ein.

Die Christen fühlten sich nicht als Sieger, sondern als Untertanen Gottes, der ihre Bitten und Gebete um ein Ende der Verfolgung erhört hatte. Dass der mächtigste Mann der Welt nun mit ihnen paktierte, war für sie kein Anlass zu Misstrauen, sondern eine Fügung Gottes. Sie, die über keinerlei politische Erfahrung verfügten, waren noch viel zu naiv, um einen Gedanken an den Verdacht zu verschwenden, der Kaiser könnte sie möglicherweise für seine weltlichen Zwecke benutzen. Im Gegenteil: Der Kaiser war, als Frucht ihrer Gebete, von Gott geschickt. Was er tat, musste gottgewollt sein. Im Übrigen hatten schon Paulus und später Augustinus gelehrt, auch die weltliche Herrschaft unterliege Gottes Führung und habe darum, innerhalb ihrer Grenzen, Anspruch auf Gehorsam.

Der Bevorzugung der Christen folgte die Alleinherrschaft. Im Jahr 380 wurde von Theodosius dem Großen die Religionsfreiheit abgeschafft und das Christentum zur Staatsreligion erhoben. Kaiser und Kirche wurden Komplizen. Heidentum und Häresie galten nun als Staatsverbrechen, und noch vor dem Ende des vierten Jahrhunderts wurden schon die ersten Ketzer hingerichtet. Innerhalb kürzester Zeit war aus der verfolgten Kirche eine verfolgende Kirche geworden.

Sie ist da zu Beginn unschuldig hineingeschlittert. Aber irgendwann hätte sie erkennen müssen, dass ihr Tun immer weniger mit dem übereinstimmt, was Jesus gewollt hat – doch wann hätte die Kirche das erkennen müssen? Im fünften Jahrhundert? Im sechsten, siebten, achten? Das ist schwer zu sagen. Man darf nicht vergessen, dass gerade ein Weltreich unterging in jenen Jahrhunderten. Die Vandalen, Goten, Franken und all die anderen Germanenstämme marodierten durchs Römische Reich, mordeten, zerstörten, raubten, brandschatzten. Chaos und Anarchie machten sich breit, und Kaiser und Kirche brauchten einander, um eine neue Ordnung auf den Trümmern des untergehenden Reiches zu errichten.

Und: Die Christen meinten es gut mit den Menschen. Die Taufe, von Johannes einst praktiziert als äußeres Zeichen für die innere Umkehr, war zwischenzeitlich zu einem geheimnisvollen Vorgang mit magischer Wirkung uminterpretiert und von ihrem Ursprung entfremdet worden. Jetzt war die Taufe ein Mittel zur Rettung der Seelen. Ungetaufte drohten der ewigen Verdammnis anheimzufallen. War es da nicht eine segensreiche Gnadentat, die unwissenden, unmündigen Schäflein durch die Taufe in ihr Glück zu zwingen?

Es ist klar, dass der christliche Glaube in jenen Jahrhunderten der Zwangschristianisierung einem tiefgreifenden Wandel unterworfen wurde. Was einst die Kirche stark gemacht und zu ihrem großen Erfolg beigetragen hatte, der freiwillige Eintritt in die Christengemeinschaft, der damit verbundene Ernst, die tiefe Überzeugung ihrer Mitglieder, das besondere Leben in den Gemeinden, die Radikalität der christlichen Existenz, verschwand jetzt wieder, denn wie konnte man eine ernsthafte Überzeugung von Menschen verlangen, die zur Taufe gezwungen wurden oder sich aus purem Opportunismus taufen ließen?

Plötzlich bestand die Kirche in ihrer Mehrzahl aus Menschen, die innerlich noch gar nicht für das Christentum gewonnen waren. Dadurch wuchs sie zwar schnell zu einer mächtigen, über das ganze Römische Reich verbreiteten Organisation, aber von nun an gingen ihre innere Stärke und Überzeugungskraft genau in dem Maß verloren, in dem ihre äußere Machtentfaltung zunahm.

Von nun an verlor auch die bis dahin entwickelte Lehre vom Heiligen Geist ihre Grundlage. Diese Lehre besagte, dass sich die jeweils richtige Auslegung der Schrift in der Gemeindeversammlung durch die Anwesenheit des Heiligen Geistes vermitteln würde. Die Gemeindeversammlung war die Instanz, in der theologische Streitfragen geklärt, falsche Auslegungen verworfen, fremde Einflüsse ausgeschieden und Fehlentwicklungen korrigiert wurden. Die Christen glaubten, dass sich dort, wo sich die ganze Gemeinde versammelt, um brüderlich miteinander zu streiten, durch das Wirken des Heiligen Geistes die Wahrheit erweisen werde und dass sich auf diese Weise die Einmütigkeit im Glauben und die Einheit der Christen immer wieder von selbst herstellen werde.

Vielleicht war das ja tatsächlich so während der ersten drei bis vier Jahrhunderte. Dass die junge Kirche damals sehr weise gewesen sein muss, erschließt sich jedem, der beispielsweise die christliche Kanonbildung verfolgt. Schon die Entscheidung, die gesamte jüdische Bibel in den Schriftenkanon mit aufzunehmen, war angesichts der starken Kräfte, die damals den christlichen Glauben entjudaisieren wollten, eine reife Leistung. Und wer heute in den Schriften liest, die damals nicht aufgenommen wurden, und sie vergleicht mit denen, die es in den Kanon geschafft haben, kann sich nur wundern über die traumwandlerische Sicherheit, mit der die junge Kirche das Notwendige vom Entbehrlichen unterschieden hatte.

Doch vielleicht ist das Wunder so groß auch wieder nicht, wenn man bedenkt, dass in jener verschworenen Gemeinschaft, welche die Christen darstellten, ein Binnenklima herrschte, das es erleichterte, gemeinsam zu tragfähigen Lösungen zu gelangen. Wer ständig den staatlichen Druck von außen zu spüren bekommt, immer mit einem Bein im Gefängnis steht und seinen Glauben unter Todesgefahr praktiziert, entwickelt ganz von selbst die Fähigkeit, das Unwichtige vom Wichtigen und das Wahre vom Falschen scheiden zu können.

Mit der massenhaften Eingliederung der Zwangsgetauften, dem Wegfall der Gefahr und des äußeren Drucks musste dieses besondere Binnenklima, das als Wirken des Heiligen Geistes empfunden wurde, natürlich zwangsläufig verschwinden. So wurde der Heilige Geist von den nicht wirklich bekehrten Neuchristen aus den Gemeinden hinausgedrängt. Der Geist weht seitdem zwar, wo er will, aber was nützt das, wenn er dabei kaum noch auf Menschen trifft, die dafür empfänglich sind?

Dass sich die innere Kraft des Christentums durch die Zwangsbekehrten verflüchtigte, ist den Beteiligten lange nicht aufgefallen, denn sie hatten alle Hände voll zu tun, um mit den Folgen der germanischen Umtriebe fertig zu werden. Da konnte man nicht ständig mit der Bibel unterm Arm herumlaufen. Im Übrigen leistete man sich Theologen, die das kirchlich-staatliche Handeln schon zu legitimieren wussten.

Die Botschaft des Jesus wurde von den vielen, die dem Namen nach Christen waren, kaum begriffen, von den Mächtigen und Privilegierten oft bewusst falsch verstanden, eingespannt für die eigenen Zwecke und missbraucht für Ziele, die niemals die Ziele von Jesus oder Paulus gewesen waren. Das Bündnis von Thron und Altar war die kirchliche Ursünde, die nun weitere Sünden fort und fort zeugte, die Geschichte der Kirche zu einer Geschichte der Irrungen und Wirrungen machte und die frohe Botschaft von Jesus in ihr Gegenteil verkehrte.

Der Zwangsbekehrung der Heiden folgten Verteufelungen der Kritiker als Abweichler, Irrlehrer und Häretiker. Bald schon brannten die Scheiterhaufen, glühten die Folterinstrumente und versahen zahlreiche Henker und Scharfrichter ihr Handwerk im Auftrag der Kirche. In ihrem Eifer, alles Heidnische auszurotten, machte die Kirche auch nicht halt vor den großen kulturellen Leistungen der Griechen und Römer. Heidnische Tempel und Kultstätten wurden zerstört, und mit ihnen die darin enthaltenen Kunstwerke. Bücher mit heidnischer Philosophie, Dichtung, Literatur gingen in Flammen auf oder wurden weggesperrt.

Kritik, Humor, das Lachen, das Leichte, das Spielerische wurden denunziert, verbannt, bedroht. Heiliger Ernst legte sich über das Land, fanatischer Dogmatismus tyrannisierte Kaiser, Könige und das Volk. Bußpredigten, die Verheißung göttlicher Strafgerichte, das geradezu lustvolle Wühlen der Kleriker in den Sünden der Menschen und die ausführliche Schilderung der Höllenqualen für die Sünder schufen ein Klima der Angst, der Freudlosigkeit und der gnadenlosen Härte.

Es folgten Inquisition, Hexenverbrennungen, Kriege und Kreuzzüge im Namen Gottes, Ausbeutung der Schwachen, Unterdrückung und Manipulation von Wahrheit, Missionierung der Heiden durch Feuer und Schwert, Ausrottung der Indianer im Namen Christi, Imperialismus, Kolonialismus und Versklavung der Schwarzen unter kirchlicher Duldung, Segnung der Kanonen, kirchlich genährter Antisemitismus und das Versagen großer Teile der Amtskirche im Dritten Reich.

Die Geschichte des Christentums ist eine große Geschichte des Scheiterns, des Verrats und des Herumtrampelns auf der eigenen Botschaft. Es ist eine Geschichte der ewigen Vermischung menschlicher Interessen mit denen Gottes, und es ist eine Geschichte der Instrumentalisierung des Glaubens für Macht, Herrschaft und Besitz. Noch zu Beginn der Neuzeit wurde für die Kolonisierung der Welt durch europäische Mächte das heuchlerische Argument bemüht, die Heiden taufen zu wollen, wo es doch in Wahrheit nur um das Gold der Inka ging, um Land, Reichtum und Ausdehnung des Machtbereichs.

Aber zugleich ist die Geschichte des Christentums auch eine große Geschichte des Widerstands gegen diesen Verrat und eine Geschichte des Versuchs, sich in der Nachfolge Jesu mit den Armen, Schwachen und Verfolgten zu solidarisieren. Sie ist eine Geschichte der Kultivierung der Natur und des Menschen. Sie ist eine Geschichte des Fortschritts und der Freiheit, denn immer gab es parallel zur Verstrickung der Kirche in weltliche Händel und Machtgerangel Einzelne und kleine Gruppen, die den in den Schlamm getretenen Jesus aus dem Dreck bargen, ihn wuschen, seine Wunden verbanden und seiner Botschaft neues Gehör verschafften. Immer rief der kirchliche Verstoß gegen die ureigenste Aufgabe Gegenkräfte auf den Plan, die eine Korrektur des Ganzen bewirkten.

Schon im sechsten Jahrhundert gründet Benedikt von Nursia auf dem Monte Cassino ein Kloster und einen Orden, um der Kirche und der Welt zu zeigen, wie die christliche Botschaft eigentlich gedacht war. Von nun an folgen über viele Jahrhunderte hinweg immer weitere neue Ordens- und Klostergründungen, oft im Konflikt mit den Kirchenoberen und den weltlichen Mächten.

Orden und Klöster, einzelne Heilige, Kirchenlehrer und starke christliche Persönlichkeiten erinnern seitdem immer wieder an das, worum es eigentlich geht in der Nachfolge Jesu Christi. Der christliche Glaube, wie er von Mönchen, Nonnen und Heiligen praktiziert wurde, hat die barbarischen Germanen zivilisiert und die von Natur aus zur Despotie neigenden weltlichen Herrscher gebändigt. Das gelebte Christentum der Mönche und Nonnen disziplinierte die kirchlichen Hierarchien, beschämte manch verweltlichten Papst, steckte als Stachel im Fleisch der Bischöfe und Kardinäle.

Klöster strahlten heilsam in ihre Umgebung aus. Mönche und Nonnen lehrten das Volk durch ihr eigenes Beispiel beten und arbeiten. Sie kultivierten das Land, die Natur und die Menschen. Sie brachten den Menschen Fleiß, Disziplin, Sauberkeit und Ordnung bei, aber auch das Lesen und Schreiben und, in Maßen, das selbständige Denken. Körperliche Arbeit, bisher in der ganzen Welt verpönt als eine Sache der Knechte und Sklaven und darum von diesen als Fron empfunden, bekam jetzt eine Würde dadurch, dass auch die Mönche körperlich arbeiteten, und über die gewürdigte Arbeit bekamen die Arbeitenden ihre Würde und einen Anspruch auf Respekt und Achtung. Die heutige wirtschaftliche Prosperität des Westens hat hier eine ihrer Wurzeln.

Darüber hinaus wirkten die Klöster und Kirchen wie eine europaweit institutionalisierte Volkshochschule. Über die kultischen Handlungen der Priester in der Heiligen Messe kamen die einfachen Menschen mit Kunst in Berührung, mit Musik, Gesang, Sprache, und wenn diese auch lateinisch und für sie unverständlich war, so erzählten ihnen die kirchlichen Kunstwerke, die Bilder, Skulpturen und Symbole, was diese fremde, nach Zaubersprüchen klingende Sprache bedeutete. Jedes einigermaßen begabte Kind, das sich dafür empfänglich zeigte, strebte von sich aus danach, mehr darüber zu erfahren und bekam von den kirchlichen Institutionen auch oft genug die Chance dazu, selbst wenn es aus einfachen Verhältnissen stammte. Das ganze europäische Begabungsreservoir wurde auf diese Weise eine Zeit lang ziemlich effizient ausgeschöpft. Die Kirche war die erste in Europa wirkende Kraft der Elitebildung.

Mönche und Nonnen betrieben nicht nur theologische, sondern auch weltliche Studien, sie legten die Fundamente für eine europäische Bildung und Wissenschaft, und als die Kirche ihrer Macht sicher war, durfte auch heidnische Literatur gelesen und in den klösterlichen Schreibstuben kopiert werden. Das Erbe der antiken Kultur Griechenlands und Roms wurde in Klöstern und kirchlichen Bibliotheken gehütet, aufbewahrt und vervielfältigt.

Nicht zuletzt ermöglichten Nonnenklöster vielen Frauen ein von Männern unabhängiges Leben. Frauen bekamen in den Klöstern Zugang zur Bildung. Hinter schützenden Klostermauern konnten Frauen erstmals eine Alternative zum herkömmlichen Rollenmodell leben.

Hinter diesen Klostermauern existierte tatsächlich eine Gegenwelt, die erahnen ließ, was mit Reich Gottes eigentlich gemeint sein könnte. Das Mönchsgelübde – die Verpflichtung auf Armut, Gehorsam und Keuschheit – bedeutete die feierliche Lossagung von jenen drei die Menschen beherrschenden Dämonen, welche der ewigen Verkettung menschlicher Tragödien und Katastrophen von Anbeginn den Treibstoff liefern. Mit dem Gelübde der Armut befreiten sich Mönche und Nonnen von der Gier nach Besitz. Das Gehorsamsgelübde bedeutete die Lossagung vom Streben nach Macht, und mit dem Keuschheitsgelübde sollte die dritte der großen Katastrophenursachen bekämpft werden, die Sucht nach rücksichtsloser Triebbefriedigung. Das mönchische Leben war der Versuch, durch Askese die schlechte Natur des Menschen zu überwinden und damit dem Anspruch der Gottebenbildlichkeit gerecht zu werden oder zumindest näherzukommen. Die Gesellschaft der Mönche und Nonnen war eine wirkliche Kontrastgesellschaft, die sich nicht nur äußerlich und innerlich, sondern auch durch ihre sichtbar vorhandenen materiellen Strukturen unübersehbar von der normalen Gesellschaft unterschied.

Klöster, oft auf einen Berg gebaut und darum weithin sichtbar, symbolisierten eine Zeit lang tatsächlich jene vorweggenommene Utopie, wie sie die Offenbarung des Johannes in Anspielung auf eine entsprechende Stelle im Buch Jesaja als goldenes Jerusalem ausmalt: Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, aus dem Himmel herabsteigen von Gott, zubereitet wie eine für ihren Mann geschmückte Braut … (In dieser Stadt wird Gott selbst) unter den Menschen wohnen und abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz. (Offenbarung 21, 1 – 4)

Es blieb eine schöne Utopie, denn irgendwann verfiel auch die Kraft der Klöster, verluderten selbst dort die Sitten, verlotterte die Kirche als ganze. Schon das Wort «Fürstbischof» zeigt, wie weit sich die klerikale Herrenrasse von jenem Mann entfernt hat, der einmal von sich sagte: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel des Himmels haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlegen kann. (Matthäus 8, 20) Die mittelalterliche Kirche samt ihrer Mönche und Nonnen hatte sich zu einem machtgeilen, geldgierigen, räuberischen, erpresserischen, seine Untertanen bis aufs Blut aussaugenden Unterdrückungsapparat entwickelt, der überwiegend dem Zweck diente, den klerikalen Prunk und die Fress-, Sauf- und Sexorgien der dekadenten Bischöfe, Kardinäle und Päpste im Vatikan zu ermöglichen.

Ein kleiner Mönch aus Wittenberg, der Doktor Martin Luther, fasste 1517 den jämmerlichen Zustand der Kirche in Worte und brachte das morsche Gebäude damit zum Einsturz. Er spaltete die Kirche, aber die Spaltung erwies sich als heilsam. Plötzlich hatte die allein seligmachende Kirche Konkurrenz bekommen. Um dagegen zu bestehen, musste auch sie sich reinigen und reformieren. Geteilt konnten beide Konfessionen bis heute überleben. Ohne Reformation wäre die verrottete Institution an sich selbst zugrunde gegangen.

Das Bündnis von Thron und Altar aber hat auch Luther nicht außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil. Seine evangelische Kirche konnte sich überhaupt nur halten, weil sie von zahlreichen Fürsten und Königen unterstützt wurde, und diese Unterstützung erhielt sie nicht in jedem Fall aus Liebe zum christlichen Glauben oder aus Einsicht in die Gedanken der Reformation, sondern aus Hass auf die Römische Kirche, von deren übermächtigem Einfluss sich die Fürsten durch Luthers Reformation befreien konnten – wieder ein Geburtsfehler, der dazu führte, dass das Verhältnis zwischen Kirche und Staat auf evangelischer Seite noch inniger wurde als auf katholischer. Wieder eine verhängnisvolle Mischung von Glaube und Nutzen.

Das immerwährende Bündnis von Thron und Altar verlieh der Kirche Macht, Durchsetzungskraft, dauerhaften Bestand und Gestaltungskraft. Das Bündnis wurde zur Ordnungsmacht im untergehenden Römischen Reich, zur Gründungsinstitution Europas und zugleich zu dessen ordnender und gestaltender Kraft. Ohne diesen Zusammenschluss würde das heutige Europa nicht existieren.

Ob es besser gewesen wäre, wenn es dieses Bündnis nie gegeben hätte, wissen wir nicht. Niemand vermag zu sagen, wie die Geschichte ohne es verlaufen wäre. Vielleicht wäre ganz Europa mittlerweile islamisch. Und vielleicht hätte sich der Islam ganz anders entwickelt und wäre vom heutigen völlig verschieden, aber das alles ist bloße Spekulation. Nur eines lässt sich sagen: Europa ist janusköpfig, und diese Janusköpfigkeit ist eine Folge seiner ambivalenten Geschichte. Fluch und Segen des Bündnisses von Thron und Altar haben sich gleichermaßen ausgewirkt.

Europa hat vermutlich mehr Unglück als Glück über die anderen Völker gebracht. Es war gewalttätig, ausbeuterisch, unterdrückerisch, ruhelos und herrisch. Aber trotz permanenten Verrats hat es die christliche Botschaft durch die Jahrtausende getragen. Die christliche Botschaft ist eine Botschaft der Liebe, des Friedens, der Freiheit, der Gleichheit, der Gerechtigkeit und der Wahrheit. Immer wieder haben sich Opponenten im Namen dieser Botschaft gegen das Bündnis von Thron und Altar gewandt, haben sich verfolgen, foltern, einsperren und verbrennen lassen, um den Worten Jesu gegen Kaiser und Kirche Geltung zu verschaffen, und ihre Opfer waren nicht umsonst. Die Aufklärung ging aus dieser Botschaft hervor, die Befreiung des menschlichen Geistes, der die Befreiung des ganzen Menschen folgte. Die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind nun in der Welt und nicht mehr auszurotten; sogar die Diktatoren müssen sich auf sie berufen, um ihrem verbrecherischen Tun den Anschein der Legitimität zu geben.

So bleibt als paradoxes Ergebnis festzuhalten, dass die Kirche in der Geschichte immer wieder ihre eigene Botschaft verriet, aber dass wir dank der Kirche überhaupt Kenntnis haben von dieser Botschaft. So konnte sie ihre heilsamen Wirkungen entfalten, wenn auch oft gegen kirchlichen Widerstand. Vielleicht kommt ja irgendwann der Tag, an dem die ganze Christenheit Ernst macht mit Jesu Vermächtnis. Oder er kommt nicht, die Kirchen verfallen, das Christentum stirbt aus, aber Jesu Botschaft bleibt, und ganz andere machen Ernst mit ihr.