JESUSGLAUBE ZWISCHEN MYTHOS UND KRITISCHER RATIONALITÄT
Gegenüber Abraham und Mose hat die Geschichte von Jesus den Vorzug, dass ihr Held tatsächlich gelebt hat. Die außerbiblischen Quellen, die Jesu Existenz belegen, sind zwar spärlich, aber die meisten Historiker zweifeln heute nicht mehr daran: Jesus gab es wirklich. Von Mose wissen wir das nicht so sicher, noch weniger von Abraham.
Dieser Vorzug trägt aber nicht weit, denn alles andere ist ungewiss. Jesus hat uns keinen einzigen von ihm geschriebenen Satz hinterlassen. Er war ein Mann des gesprochenen Wortes. Geschichten, Parabeln und Gleichnisse hat er erzählt und im alltäglichen Umgang mit seinen Jüngern und Zuhörern manch einprägsamen Satz formuliert. Die Leute hörten ihm zu und sagten das Gehörte weiter.
Soweit wir wissen, hat niemand mitgeschrieben. Nach seinem Tod erzählten seine Zeitgenossen aus dem Gedächtnis, was er sprach und tat, wie er lebte und litt. Irgendwann hat vermutlich jemand seine Kernsätze aufgezeichnet und diese in den christlichen Gemeinden verbreitet. Zwei Jahrzehnte später fing ein Großer an, über ihn zu schreiben, Paulus. Nach weiteren zwei Jahrzehnten entstand das Markus-Evangelium. Der unbekannte Verfasser schöpfte vermutlich aus den aufgeschriebenen Kernsätzen, einer Spruchquelle, und aus ihm zur Verfügung stehenden mündlichen Quellen.
Dann schrieben auch andere: Matthäus, Lukas, Johannes. Sie stützten sich auf Markus, eine Spruchquelle und hatten außerdem noch eigene Stoffe. Seitdem verfügen wir über Schriften in so hoher Zahl, wie bei kaum einer anderen antiken Persönlichkeit. Überdies sind die Dokumente in so geringem zeitlichem Abstand zu Jesu Tod entstanden, dass die Quellenlage eigentlich besser gar nicht sein könnte, und trotzdem ist historisch so gut wie alles umstritten, was diesen Jesus betrifft, denn die vielen Dokumente über ihn haben allesamt denselben Nachteil: Es handelt sich bei ihnen nicht um Geschichtsschreibung, sondern um Geschichtsdeutung, um eine vom Glauben bestimmte Weltsicht. Es handelt sich um das Neue Testament.
Die vier Evangelien, die Briefliteratur der Apostel, die Apostelgeschichte und die Johannes-Offenbarung, insgesamt 27 Schriften in griechischer Sprache, entstanden zwischen 50 und 130 nach Christus, sie wurden allesamt in einer einzigen Absicht geschrieben: Sie sollten Jesus als auferstandenen Christus und Herrn der Welt erweisen. Keiner der meist unbekannten Verfasser stammt aus dem Kreis der Jünger. Keiner hat Jesus persönlich gekannt. Die Autoren zeichnen auf, was sie gehört haben, was sie von anderen gelesen haben, was sie selber denken und glauben, und was sie in ihren Gemeinden erfahren. Es sind Glaubende, die schreiben, und als solche wollen sie ihren Glauben weitersagen, weitergeben und damit bei anderen Glauben erwecken. Und sie wollen der Welt, vor allem aber den Juden, darlegen, dass es sich bei Jesus um jenen Messias, Heilsbringer, Erlöser und Sohn Gottes handelt, dessen Kommen im Alten Testament prophezeit wird. Das ist für die Jesus-Anhänger der damaligen Zeit das größte neuere Ereignis der Weltgeschichte, nein, das größte Ereignis überhaupt, und davon sollen alle Menschen erfahren.
Dafür war es notwendig, möglichst anschaulich vom Leben, Lehren und Sterben Jesu zu berichten und zugleich jede Tat, jede Äußerung und jedes mit Jesus zusammenhängende Ereignis mit Lehren, Sätzen und Ereignissen des Alten Testaments in Beziehung zu bringen. Auf den Schriftbeweis, die Kontinuität zum Alten Testament, und auf theologische Stimmigkeit legten die Verfasser mehr Wert als auf historische Genauigkeit.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Jesus wurde wahrscheinlich in Nazareth geboren, aber für die Evangelisten musste er in Bethlehem auf die Welt kommen, denn nach einer Prophezeiung des Propheten Micha (5, 1) wird der Messias aus Davids Geschlecht aus Bethlehem stammen. Von einem Kindermord des Herodes im Zusammenhang mit Jesu Geburt ist den Historikern nichts bekannt, aber die Geschichte erinnert an den Kindermord des Pharao vor Israels Auszug aus Ägypten.
Das Neue Testament ist voll von solchen Anspielungen auf, Parallelen und Zusammenhängen mit dem Alten Testament. Sie waren den Evangelisten wichtiger als rein empirische Daten und Fakten. Es ging ihnen um ein Wissen, das schon gedeutet ist und tiefer blickt als bloß empirisches Wissen, das man sowieso nur vom Hörensagen kannte.
Wie schon die Schöpfer des Alten Testaments, so waren also auch die Schöpfer des Neuen Testaments weniger an einer faktengetreuen als vielmehr an einer theologischen Geschichtskonstruktion interessiert. Die Tatsachen hatten sich nach dem Glauben zu richten, und das war die damals übliche, allgemein akzeptierte Haltung unter den antiken Menschen. Niemand nahm daran Anstoß, niemand wäre auf die Idee gekommen, von Betrug oder Priesterschwindel zu reden.
Deshalb, und auch, weil es mehrere waren, die zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten für unterschiedliche Adressaten schrieben, stoßen wir im Neuen Testament auf so viele Unstimmigkeiten und Ungereimtheiten, dass unser Bild von Jesus und seinen Jüngern von Anfang an unscharf und mehrdeutig ist. Der heutige Pluralismus in der Theologie und in den Kirchen ist eine Folge dieser anfänglichen Unschärfe. Sie musste mit wachsendem zeitlichem Abstand zwangsläufig immer mehr zunehmen, und vielleicht bedurfte es dieser Unschärfe von Anfang an, damit sich das Christentum zur Weltreligion entwickeln konnte.
Auf welch sumpfigem Gelände sich die historische Forschung über Jesus bewegt, wird bereits klar, wenn man nach den simpelsten Eckdaten seines Lebens fragt: dem genauen Geburts- und Todesdatum. So fällt nach Matthäus (2, 1) Jesu Geburt in die Regierungszeit des Königs Herodes. Von dem wissen wir, dass er um 4 vor Christus starb. Nach Lukas jedoch ereignete sich die Geburt während der Volkszählung des Kaisers Augustus. Diese konnte frühestens um 6 nach Christus stattgefunden haben, denn der von Lukas genannte römische Präfekt Quirinius (manchmal auch Kyrenius geschrieben) soll die Aktion durchgeführt haben, und Quirinius hatte dieses Amt erst seit 6 nach Christus inne.
Doch damit nicht genug. Denn in der Folge widerspricht sich Lukas selbst. Er schreibt: Und Jesus war ungefähr dreißig Jahre alt, als er anfing zu lehren (3, 23). Zuvor aber wurde Jesus von Johannes getauft, und über Johannes heißt es bei Lukas (3, 1), er sei im fünfzehnten Regierungsjahr des Kaisers Tiberius von Gott als Prophet berufen worden und bald darauf Jesus am Jordan begegnet, wo sich Jesus von ihm taufen ließ. Tiberius regierte von 14 bis 37 nach Christus, also musste Johannes um das Jahr 28/29 nach Christus an den Jordan gegangen sein und um diese Zeit oder später Jesus getauft haben. Wenn Jesus damals ungefähr dreißig Jahre alt war, konnte er tatsächlich um das Jahr Null herum geboren worden sein. Allerdings könnte die Zahl dreißig auch symbolisch gemeint sein, weil bei den Juden mit dreißig Jahren das Mannesalter begann. Symbolische Zahlen waren allen antiken Menschen wichtiger als empirische. Es ist also unmöglich, aus den verfügbaren Quellen das tatsächliche Geburtsjahr Jesu abzuleiten.
Dasselbe gilt für das Todesdatum. Gekreuzigt wurde Jesus unter Pontius Pilatus, der zwischen 26 und 36 römischer Statthalter in Judäa war. Aber an welchem Tag in welchem Jahr? Auch hier widersprechen die Evangelien einander oder sind ungenau, und die Daten müssen auf komplizierte Weise von Astronomen kalendarisch aus den Angaben Rüsttag (Vorabend des Sabbat), Sabbat und Pessach nach dem Sederabend berechnet werden, und daraus ergibt sich, dass die Hinrichtung im April der Jahre 30, 31, 33 oder 34 stattgefunden haben muss. Jesus wird also wohl mindestens dreißig und höchstens vierzig Jahre alt gewesen sein, als er am Kreuz starb. Genaueres lässt sich nicht sagen.
Der Versuch, eine Biographie Jesu zu schreiben, scheitert also bereits an Datierungsfragen. Die Probleme, mit denen man bei der Bestimmung von Geburts- und Todesjahr konfrontiert ist, stellen sich bei so gut wie jedem berichteten Detail aus dem Leben Jesu, auch bei den wichtigeren. Trotzdem ist immer wieder probiert worden, aus allen verfügbaren Daten so etwas wie eine Biographie herauszukristallisieren. Aber all diese Versuche liefen auf die Erkenntnis hinaus, dass es nicht geht.
Schon vor rund hundert Jahren war der berühmte Arzt und Theologe Albert Schweitzer in seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung zu dem ernüchternden Ergebnis gekommen: Was immer die Autoren in der Vergangenheit über Jesus geschrieben haben, es hatte wenig mit dem wirklichen Jesus und viel mit den Autoren zu tun. Sie haben ihr jeweiliges Idealbild in Jesus hineinprojiziert. Aufklärer sahen in Jesus einen Aufklärer, Tierfreunde einen Tierfreund, Kinderfreunde einen Kinderfreund, Patrioten einen Patrioten.
Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Man muss nur einmal die Kirchentage der letzten dreißig Jahre Revue passieren lassen. Immer trug der auf diesen Kirchentagen verkündete Jesus die Gewänder des jeweils regierenden Zeitgeistes, während der wilden 68er Jahre etwa die Baskenmütze Che Guevaras oder den Palästinenserfeudel Arafats, später das T-Shirt der Friedensbewegung mit der Aufschrift «Make Love Not War», danach die lila Latzhose der Feministinnen, den Anti-AKW-Aufkleber der Umweltschützer, den Norweger-Pullover der Ökofreaks, den Umhang eines indischen Meditations-Gurus, die Locken eines Rastafari. Seit die Individualisierung unter den Jugendlichen explosionsartig zunimmt, spaltet sich Jesus in einen Love-Parade-DJ, einen spirituellen Guru, einen coolen Manager, einen Hip-Hopper, einen Rapper und noch vieles mehr, während es den Latzhosen- und Norweger-Pullover-Jesus und all die anderen Jesusse auch weiterhin gibt.
Und diese Kirchentags-Jesusse sind ja nur ein kleiner Ausschnitt aus einer schier unübersehbaren Vielzahl von Jesusbildern. War Jesus nicht ein Weiser, ein Charismatiker, ein Mystiker? War er nicht auch Wunderheiler, Psychotherapeut, Narr, Rebell, Lehrer, Geschichtenerzähler, ein Mensch für andere oder schlicht der neue Mann?
Nicht von ungefähr hat Gott ein Bilderverbot erlassen. Als Mose Gott bat, lass mich deine Herrlichkeit sehen, antwortete dieser, mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Aber auf einen Kompromiss ließ sich Gott ein. Er schickte Mose in eine Felsenhöhle, um daran vorbeizugehen. Während er das tat, bedeckte er mit seiner Hand Moses Gesicht, und wenn ich dann meine Hand zurückziehe, so magst du mir hinten nachsehen; aber mein Angesicht soll man nicht sehen. (2 Mose 33, 18 – 23)
Den Rücken des verschwindenden Gottes durfte Mose sehen, mehr war selbst für ihn nicht drin. Nicht einmal Mose durfte sich ein Bild von Gott machen. Darum muss jedes Bild, das sich Menschen von Gott machen, notwendigerweise falsch sein. Gott sprengt das menschliche Vorstellungsvermögen. Deshalb, und weil immer die Gefahr besteht, dass aus Bildern Götzen werden, sollen wir ja auch das Bildermachen bleiben lassen. Nicht wir sollen uns ein Bild von Gott machen, sondern er hat sich längst eins von uns gemacht – nach seinem Bilde hat er uns geschaffen.
Doch wer von Gott redet, macht sich zumindest sprachlich Bilder von Gott. Es geht gar nicht anders. Ging nie. Die Bibel ist voll von sprachlichen Gottesbildern. So gut wie jede Geschichte zeichnet ein Bild von Gott. Die Bilder verändern sich im Lauf der Zeit, entwickeln sich, widersprechen einander, müssen daher miteinander verglichen, geprüft, restauriert und neu entworfen werden. Es ist ein fortwährender, dynamischer Prozess, man darf nie vor einem einzigen Bild verharren, muss von Bild zu Bild springen wie im Treibeis von Eisscholle zu Eisscholle, nur so kommt man voran, wenn auch selten oder nie ans Ziel, und niemals zu einem endgültigen, für alle verbindlichen Gottesbild. Immer muss man sich bewusst sein: Jedes Bild ist falsch.
Diese Einsicht öffnet natürlich einem relativistischen Standpunkt Tür und Tor. Wenn es so gut wie gar nichts gibt, was historisch gesichert ist, außer dem dünnen Faktum, dass Jesus wirklich gelebt hat, dann fehlen dem christlichen Glauben wichtige Anhaltspunkte in der Realität, und dann hat im Prinzip jedes Jesus- und Gottesbild seine Berechtigung. Damit wird aber der Glaube zu einer Sache der subjektiven Beliebigkeit. Und damit wird es sinnlos, überhaupt noch irgendwelche Aussagen über Jesus und Gott zu machen.
Oder gibt es einen Ausweg? Gibt es über alle Widersprüche hinweg etwas Gemeinsames, Unbestreitbares, woran wir uns halten können?
Christen glauben laut eigenem Bekenntnis an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.
In der katholischen Kirche und in den wichtigsten Varianten der evangelischen Kirchen wird dieses apostolische Glaubensbekenntnis an jedem Sonntag von allen Gottesdienstbesuchern gesprochen. Orthodoxe sprechen einen anderen, älteren Text – das nicäische Glaubensbekenntnis –, der jedoch mit keinem Wort im Widerspruch zu diesem Bekenntnis steht.
Der Text ist klar. Aber ist er auch wahr? Und: Bedeutet er, was er sagt? Mehr als anderthalb Jahrtausende lang war die Antwort auf diese Frage eindeutig: Jawohl, er ist wahr, und zwar genau in dem Sinn, wie es seine Worte aussagen. Der Text kann buchstäblich so genommen werden, wie er dasteht.
Mehr als anderthalb Jahrtausende lang haben die Christen tatsächlich wortwörtlich geglaubt, dass Maria trotz Empfängnis und Geburt Jungfrau geblieben ist. Sie bezweifelten nicht, dass Jesus auf dem Wasser laufen konnte, Wasser in Wein verwandelt, Kranke geheilt, Dämonen ausgetrieben und Tote auferweckt hat. Sie waren davon überzeugt, dass Jesus drei Tage nach seinem Tod als wiederbelebter Leichnam zu seinen Jüngern zurückgekehrt ist, dem ungläubigen Thomas sogar erlaubt hat, seine Wunden zu berühren, mit den Jüngern gegessen und getrunken hat und nach vierzig Tagen auf einer Wolke in den Himmel getragen wurde. Und weitere zehn Tage später vermeinten seine Anhänger während einer Versammlung, die Anwesenheit und das Wirken des Heiligen Geistes physisch zu verspüren. Seitdem glaubten die Christen an die Dreieinigkeit aus Vater, Sohn und Heiligem Geist.
Viele einfache Menschen glauben das heute immer noch. Für sie ist Gott allmächtig, also ist ihm nichts unmöglich. Gott habe die Naturgesetze gemacht, also könne er sie auch brechen, überwinden, an ihnen vorbei handeln.
Für kompliziertere, gebildete Menschen hingegen, die sich bemühten, mit der Entwicklung der Natur- und Geisteswissenschaften Schritt zu halten, wurden die Glaubenssätze der alten Kirche ab der Aufklärung immer fragwürdiger. Die Kirche hat lange dagegengehalten, die Aufklärung bekämpft, das Wörtlichnehmen der Glaubenssätze verteidigt. Vergeblich. Heute findet man kaum noch einen wissenschaftlichen Theologen, der klipp und klar sagt: Jesus hat damals bei der Hochzeit in Kana wirklich Wasser in Wein verwandelt, auf dem See Genezareth durch sein bloßes Wort den Sturm gestillt, Tote wieder zum Leben erweckt, und selbstverständlich ist Jesus von den Toten auferstanden, und damit basta.
Wissenschaftlich gebildete Theologen wissen viel zu viel, als dass sie es sich erlauben könnten, eine solch einfache Und-damit-basta-Theologie zu vertreten. Was sie zu bieten haben, befindet sich auf dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis, führt aber eben deshalb zu einem schier endlosen Ja-aber-Schwanz, der in den meisten Fällen in das unausgesprochene Eingeständnis mündet: Wir wissen es auch nicht.
Ihrem «Ja, aber …» folgen sehr viele, sehr schwer verständliche Sätze. Sie handeln von Bildern und Symbolen, von Glaubenssprachen und Mysterien, von Legenden und nachösterlichen Gemeindebildungen, von Vergleichen mit anderen antiken Wundertätern, Gottessöhnen und Jungfrauengeburten, und sie münden in Exkurse über das mythische Weltbild des antiken Menschen, in abstrakte Erörterungen des Unterschieds zwischen dem Glauben an die Auferstehung des Fleisches und dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele.
Gerne fließen auch komplizierte Erkenntnisse aus der schwer zu verstehenden Quantentheorie mit ein, oft verbunden mit der anschaulichen Erzählung vom Arbeitstier der Chaostheorie, dem Schmetterling, dessen Flügelschlag in der Südsee einen Orkan in der Nordsee auslösen kann. Da wird dann die Heisenberg’sche Unschärferelation mit dem deterministischen Chaos zusammengeschirrt, und es fallen Wörter wie Singularität, Diskontinuität, Phasensprung oder dissipative Struktur.
Und dieser ganze ungeheure Aufwand wird betrieben, um den langen Ja-aber-Schwanz mit dem Argument abzuschließen, so hermetisch verschlossen, wie die klassische Physik dachte, ist unsere Welt gar nicht. Dass diese doch irgendwo an einer unbekannten Stelle über ein metaphysisches Hintertürchen verfügt, wird uns durch die moderne, quantenphysikalisch und chaostheoretisch verstandene Naturwissenschaft nahegelegt, zumindest lässt die heutige Wissenschaft die religiöse Frage offen. Daher dürfe unser beschränktes, zeitbedingtes naturwissenschaftliches Weltbild nicht verabsolutiert und könne unmöglich zur Richtschnur über die Wahrheit des christlichen Glaubens erhoben werden. Die ganze Wirklichkeit sei stets größer als jener Teilbereich, der wissenschaftlichen Methoden zugänglich ist. Damit haben die Theologen recht, und deshalb ist der lange Ja-aber-Schwanz leider nötig.
Darüber darf man aber nicht vergessen, was ganz offensichtlich der Fall ist: Auch die meisten Theologen – und viele Bischöfe und Pfarrer in der westlichen Welt – glauben mittlerweile nicht mehr, dass Jesus gezaubert hat. Sie hegen also große Zweifel an der biblischen Darstellung der Geschehnisse nach dem Tod Jesu. Daher verstehen sie den Text des christlichen Glaubensbekenntnisses heute ganz anders, als er jahrhundertelang in der Kirche verstanden wurde. Die Wörter dieses Textes haben ihre frühere Eindeutigkeit verloren, werden inzwischen in einem übertragenen Sinn ausgelegt, schillern nur noch symbolisch, und bei jedem Theologen in anderen Farben. Bei manchem kann sich die Bedeutung der Wörter so weit verflüchtigen, dass er sich, wie Gerd Lüdemann 19, ehrlicherweise gezwungen fühlt zu sagen, Jesus sei in seinem Grab verwest wie jeder andere Tote.
Vor dieser letzten Konsequenz schrecken die meisten Theologen zurück, denn erstens handelt man sich damit nur Ärger mit seiner Kirche und den anderen Kollegen ein, zweitens verstört man die einfachen Gläubigen, drittens befindet man sich nahe bei jenen Religionskritikern, die schon immer behauptet haben, das Ganze sei nichts weiter als ein Priesterschwindel, und viertens hat man als Theologe tatsächlich ein Problem, die Sache so platt auf den Punkt zu bringen wie der Kollege Lüdemann. Also macht man sich so lange so komplizierte Gedanken, bis man sie am Ende möglicherweise selbst nicht mehr versteht, aber sich eben deshalb beruhigt zurücklehnen und sagen kann: Es ist halt ein Mysterium. Geheimnis des Glaubens. Wir werden es nie zu fassen bekommen.
Das ist wenig, gemessen an den vielen intellektuellen Zumutungen, die das Glaubensbekenntnis für uns moderne Menschen bereithält. Aber es ist viel, gemessen an den harten Attacken, die seit der Aufklärung gegen den Glauben geführt werden mit dem Ziel, ihn ein für alle Mal zu erledigen.
Jahrhundertelang haben die scharfsinnigsten Denker unter den Theologen und Philosophen versucht, die Existenz Gottes zu beweisen. Es ist nicht gelungen. Kant hat sogar die Unmöglichkeit von Gottesbeweisen bewiesen. Danach haben sich die scharfsinnigsten Denker unter den Aufklärern und Philosophen bemüht, die Nicht-Existenz Gottes zu beweisen. Auch das misslang. Heute steht es unentschieden. Nun gilt: Die Vernunft kann Gott weder beweisen noch widerlegen. Glaube und Vernunft müssen einander nicht ausschließen, können einander sogar ergänzen.
Sie haben es ja bereits in der Vergangenheit getan. Denn hat nicht das Judentum das kritisch-unterscheidende Denken überhaupt erst eingeführt und in seinen besten Phasen immer auch auf sich selbst angewandt? Die ganze Glaubensgeschichte von Abraham bis heute kann man als einen Jahrtausende währenden Läuterungsprozess des jüdisch-christlichen Glaubens verstehen. Immer wieder mussten bestimmte Gottesbilder aufgrund bestimmter Ereignisse und der Reflexion über diese Ereignisse – oft genug waren es Katastrophen – verworfen und auf ein höheres und meist auch abstrakteres Niveau gehievt werden. Es ist daher nicht nur legitim, sondern nach christlichem Verständnis geradezu gottgewollt, den Glauben an ihn kritisch zu prüfen, ihn von Zeit zu Zeit in Frage zu stellen, zu korrigieren und zu läutern.
Kein Wunder also, dass seit der Aufklärung so wenig übrig geblieben ist vom christlichen Glauben. Aber es wäre ein Irrtum anzunehmen, dieses Wenige sei ein Weniger, ein Fast-Nichts. Im Gegenteil. Das Wenige kann mehr sein, denn je mehr unhaltbares Zeug aus dem Findling namens Glauben weggehauen wird, desto deutlicher tritt seine eigentliche Gestalt hervor, weil die alten Texte eben nicht nur aus unhaltbaren Tatsachen und Widersprüchen bestehen, sondern auch aus Bildern, Botschaften, Thesen und Sachverhalten, die sich entwickeln, entfalten, dadurch Bestand haben und Identitäten herausbilden. Zu ihnen stoßen wir vor, wenn wir die biblischen Texte vom Schutt der Zeit reinigen, von mythologischem Ballast befreien und aus allen zeitbedingten Vorstellungen herauslösen.