AM LAGERFEUER: EINE EGALITÄRE GEMEINSCHAFT ENTSTEHT

Irgendwann vor langer Zeit, wahrscheinlich so um das Jahr 1200 vor Christus, hat es also unter den vielen Menschen, die in den ägyptischen Steinbrüchen, Ziegelbrennereien und beim Pyramidenbau Fronarbeit leisten mussten, eine Gruppe von Menschen gegeben, die eine gemeinsame Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung entwickelten, von einem besseren Leben in einem eigenen, fruchtbaren Land träumten, in dem die Menschen nach einer anderen Ordnung leben als in Ägypten. Sie hatten es satt, sich als Zugvieh des Pharao für dessen Totenkult verschleißen zu lassen.

Eines Tages haben sie ihren Traum wahr gemacht. Sie sind einfach abgehauen. Ihre Flucht wurde entdeckt, ägyptische Grenzposten jagten ihnen die pharaonischen Truppen hinterher, aber die Flüchtlinge entkamen. Sie irrten durch die Wüste, erreichten irgendwann fruchtbares Land, ließen sich dort nieder und führten tatsächlich ein Leben als freie Ackerbauern und Viehzüchter.

Für sie war diese gelungene Flucht das bedeutendste Ereignis ihres Lebens, ein Wunder. Für Ägypten war es eine Lappalie, zwar ärgerlich, aber ohne Bedeutung, nicht der Rede wert. In den Annalen ist nichts davon erwähnt.

Niemand, weder die Flüchtlinge noch die Ägypter, hätte sich damals träumen lassen, dass diese Lappalie die Welt verändern würde. Weder die Flüchtlinge noch die Ägypter konnten ahnen, dass die gelungene Flucht einer kleinen Sklaventruppe noch 3200 Jahre später auf der ganzen Welt gefeiert werden würde und Millionen Juden und Milliarden Christen von Sabbat zu Sabbat und Sonntag zu Sonntag sich das Ereignis immer wieder neu vergegenwärtigen. Wer erklären will, wie so ein kleiner Anlass so eine gewaltige Wirkung entfalten kann und dabei den Ehrgeiz hat, ohne die Hypothese Gott auszukommen, wird sich schwertun.

Dass sich Einzelne oder Gruppen in Gefahr begeben, um die eigene Lage zu verbessern, und das unter Mühen und wie durch ein Wunder gelingt, während andere in der Gefahr umkommen, ist ja nichts Besonderes. Das hat es zu allen Zeiten immer und überall gegeben. Es wäre nun zu erwarten gewesen, dass die Flüchtlinge im Lauf ihres Lebens zwar immer wieder darauf zu sprechen kommen, aber sich Kinder wie Enkel zunehmend genervt von den ewiggleichen Geschichten abwenden, die Erinnerung daran schon ab der Urenkel-Generation verblasst und danach ganz vergessen wird. Warum ist es im Fall der ägyptischen Flüchtlinge anders gekommen?

Für die Gläubigen ist die Antwort einfach. Da war halt Gott im Spiel. Wenn man es sich aber etwas schwerer macht und versucht, Gott erst einmal eine Zeit lang aus dem Spiel herauszuhalten, wird man fragen müssen, wie es eigentlich wirklich zugegangen ist, damals bei der Flucht, dem Zug durch die Wüste und der Ankunft in fruchtbarem Land.

Die schlechte Nachricht ist: Wir wissen es nicht. Wir haben zwar die fünf Bücher Mose, in denen alles drinsteht, aber für die gilt: Nur wer gar keine Phantasie hat, erzählt eine Geschichte so, wie sie wirklich war. Und an den fünf Büchern Mose hat ein ganzes Volk mitgeschrieben, noch dazu ein phantasiebegabtes. Die gute Nachricht lautet: Wir wissen mehr als nichts. Es ist sogar sehr viel, was die theologische Forschung und die Archäologie mittlerweile zusammengetragen haben. Nur lässt sich aus den vielen zutage geförderten, verstreut herumliegenden Wissensbruchstücken noch kein stimmiges Mosaik zusammensetzen. Was aber geht, ist eine erste, grob strukturierte, mit etlichen schwarzen Flecken versehene Skizze des Mosaiks.

Danach ergibt sich in etwa folgendes Bild: Die Genealogie von Abraham über Isaak zu Jakob und dessen zwölf Söhnen ist eine theologische Geschichtskonstruktion späterer Generationen von Priestern und Schriftgelehrten. Ursprünglich handelte es sich um drei getrennte, voneinander unabhängige Erzählstränge, von denen die Isaak-Geschichten wahrscheinlich die ältesten sind.

Im israelischen Bergland, auf den Hügel Kanaans, lebten um 1200 vor Christus kleine Gruppen von Ackerbauern, Viehzüchtern, Nomaden und Halbnomaden. Jede von ihnen trug ihren eigenen Geschichtenvorrat mit sich herum. Die einen wussten etwas von einem Abraham, die anderen hatten ihre Isaakgeschichten, die dritten behaupteten, von einem Urahn namens Jakob oder dessen zwölf Söhnen abzustammen.

Dann stieß zu diesem Volk eine vierte Gruppe, die Flüchtlinge aus Ägypten, Abkömmlinge von Josef. Sie hatten am meisten erlebt und am meisten zu erzählen und brachten einen reichen Schatz an Mose- und Aaron-Geschichten mit, dazu Wüsten-, Sinai- und Horeb-Geschichten. Vielleicht konnten sie auch besonders gut erzählen, denn ihre Geschichten entfalten im Lauf der Zeit die größte Wucht.

Weil es sich bei diesem Völkchen auf den kanaanäischen Hügeln um kleine, in einem überschaubaren Gebiet lebende Gruppen handelte, die in regem Handels- und Gedankenaustausch miteinander standen, und weil ihre Schicksale und Erfahrungen einander irgendwie ähnelten, machte sich im Lauf der Zeit jede Gruppe die Geschichten der anderen zu eigen. So werden sich also die Hirten und Bauern nachts am Lagerfeuer versammelt haben, und einer hat erzählt:

Mein Vater war ein heimatloser Aramäer, dem Umkommen nahe. Er zog hinab nach Ägypten, war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde ein großes, starkes und zahlreiches Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu Jahwe, dem Gott unserer Väter. Und Jahwe sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder. Er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fließen. (5 Mose 26, 5 – 9)

Abraham, die Isaak-Gruppe, die Jakob-Leute, sie wären heute anatolische Bauern in Berlin-Kreuzberg, Armutsflüchtlinge aus Afrika, die als Boatpeople übers Meer nach Europa zu kommen versuchen, oder Latinos, die über die mexikanische Grenze illegal in die USA einwandern, jedenfalls Außenseiter, Wanderer zwischen den Kulturen, heimatlose Fremdlinge, die nirgends richtig dazugehören, aber angesichts dessen, was sie sehen, auch gar nicht richtig dazugehören wollen. Sie tragen einen Traum mit sich herum, einen Traum von einer eigenen Heimat, die aber anders und besser ist als alles, was sie bisher auf der Welt als Heimat der anderen kennengelernt haben. Aus diesen Träumen wird vermutlich nie etwas werden, weil die Träumer zerstreut sind.

Die Träumer von damals jedoch, die Träumer in den israelischen Bergen, hockten ums Lagerfeuer herum und malten sich das Land aus, in dem Milch und Honig fließen sollen. Sie berieten sich, wie man das Land fruchtbar macht, kultiviert, erweitert und wie seine Bewohner darin leben und arbeiten sollen. Einer wird dann eine Geschichte über Abraham und dessen Traum beigesteuert haben, ein zweiter über Isaak, ein dritter von Jakob erzählt haben. Dann ging man wieder auseinander, und in der nächsten Nacht saßen einige von ihnen an ganz anderen Lagerfeuern, hörten dort wieder andere Geschichten und gaben ihre eigenen zum Besten.

Die Leute auf den Hügeln hatten einander also viel zu erzählen, und dass diese Geschichten den Kindern und Enkeln nicht auf die Nerven gegangen sind, liegt an einem wesentlichen Unterschied zu den üblichen Großväter- und Veteranenanekdoten. In diesen stellt sich der Erzähler in den Mittelpunkt, prahlt mit seinen vergangenen Taten, und das ist auf Dauer doch ein wenig ermüdend und hat mit dem Leben der Zuhörer wenig bis nichts zu tun.

Dagegen berichten die Erzähler der Abraham- und Mose-Geschichten von ihrer Unterdrückung, ihrem Versagen, ihrer Angst, ihren Zweifeln, ihren existenziellen Nöten, und sie erzählen es so, dass sich die Zuhörer darin wiedererkennen, obwohl sie nicht in Ägypten waren. Und außerdem lassen die Geschichten einen anderen Helden glänzen, einen, der alle angeht: Gott.

Dieser Held, der die Mose-Leute aus größter Gefahr gerettet hat und dadurch für deren Leben entscheidend wichtig geworden ist – ist er wirklich auch unser Gott? werden sich die Abraham-, Isaak- und Jakob-Leute gefragt haben. Meint es dieser noch unbekannte, geheimnisvolle Gott der Väter wirklich gut mit uns?

Die Mose-Leute erzählen so begeistert von ihm, dass sich die Zuhörer davon anstecken lassen. Sie hören, wie Mose auf dem Berg Horeb einen Dornbusch sieht, der brennt, aber sich nicht verzehrt. Aus diesem brennenden Busch gibt sich Gott als der Gott Abrahams zu erkennen und erteilt Mose den Auftrag, sein Volk aus der Sklaverei zu führen in das Land, das Abraham verheißen wurde.

Und während die Hörer der Geschichte lauschen und ins Lagerfeuer blicken, erleben sie, wie der Erzähler brennt, der Funke von ihm auf sie überspringt und sie selbst entzündet, und plötzlich brennen sie alle und gehen in der Überzeugung nach Hause, dass dieser Gott im brennenden Dornbusch auch für ihr Leben entscheidend wichtig sei. Sie sind von den Geschichten infiziert worden, haben sich mit ihnen identifiziert und sind überzeugt: Es ist derselbe Gott, von dem die Abraham-, Isaak-, Jakob- und Mose-Leute sprechen, unserer. Dieser Gott brannte sich ihnen ein und versah sie alle mit demselben Brandmal.

Oder sie gehen noch nicht nach Hause, weil sie mehr hören wollen, und der Erzähler, jetzt in einer gewissen Verlegenheit, ergänzt seine Geschichte mit Details, die er ein Jahr zuvor noch nicht erwähnte. Oder er erzählt eine völlig neue Geschichte, die er kürzlich irgendwo anders aufgeschnappt und beinahe schon wieder vergessen hat und die er jetzt mit eigenen passenden Vorstellungen und Deutungen anreichert.

Wahrscheinlich hatte der liebe Gott bei der Wahl seines Volkes das Glück, sich ein Volk besonders begabter Erzähler ausgesucht zu haben, vielleicht war es sogar das Kriterium, wonach er ausgewählt hatte – an der Gründung Hollywoods waren zahlreiche Juden beteiligt –, jedenfalls steht die Erzählkunst hoch im Kurs bei den Juden. Das jüdische Volk ist ein geschichtensüchtiges, geschichtsbewusstes und darum geschichtsträchtiges und geschichtsmächtiges Volk.

Ein wichtiger Punkt fehlt aber noch, um zu verstehen, wie es möglich war, dass eine unbedeutende Flüchtlingstruppe mit ihrer kleinen Geschichte große Geschichte machte. Es ist der entscheidende, und er handelt von der sich herausbildenden Gemeinsamkeit am Lagerfeuer.

So verschieden die Menschen auch waren, die da einander ihre Geschichten erzählten, so unterschiedlich ihre Herkunft, ihr Alter, ihre Berufe, ihre Erlebnisse, in einer Erfahrung trafen sich alle, erkannten sich alle wieder: in der Erfahrung, unterdrückt, versklavt gewesen zu sein. Auch diejenigen, die nicht aus Ägypten gekommen waren, wussten, wovon die Mose-Leute sprachen, denn die Abraham-, Isaak- und Jakob-Leute auf den Hügeln hatten zuvor im Tal gelebt, wo sie als Bauern unter der Fuchtel kanaanäischer Stadtkönige standen und von diesen ausgebeutet wurden. Darum sind auch sie abgehauen und in die Berge geflohen, um dort als freie Menschen ihr Glück zu versuchen.

Und so, im Bewusstsein der gemeinsamen Ablehnung eines Lebens in Sklaverei, für das der Name Ägypten stand, erhob sich allmählich eine egalitäre «Tradition des Lagerfeuers» gegen die zentralistische «Tradition der Pyramide» (Martin Buber). So entstand Israel.