WARTEN AUF DEN MESSIAS
Angehörige anderer Kulturen, die erstmals in ihrem Leben eine Kirche betreten, erfassen das Besondere und zugleich Anstößige der christlichen Botschaft wahrscheinlich besser als wir, weil die Fremden noch schockiert, woran wir, die Eingeweihten, uns längst gewöhnt haben: Im Zentrum jeder christlichen Kirche erwartet den Besucher das Bild einer am Kreuz hängenden Leiche. Im Zentrum des christlichen Glaubens steht die als Verbrecher hingerichtete Gottheit. Drum herum relativieren zwar eine Fülle von Bildern, Skulpturen und Symbolen das Grauen dieses Anblicks, indem sie erzählen, dass dieser Tod nicht das letzte Wort sei im christlichen Glauben, aber umso merkwürdiger ist es, dass nicht der auferstandene Gott das Zentrum beherrscht, sondern der tote.
Jeder Kaufmann, jeder Erfolgstrainer, jeder Verkaufspsychologe und jeder Unternehmensberater würde es genau umgekehrt machen, nein, nicht einmal umgekehrt: Den Gekreuzigten würden sie verstecken und nur den Auferstandenen als großen Triumphator in den Mittelpunkt rücken. Das Drumherum würden sie mit Varianten des Triumphs drapieren.
Die Kirche hat dieser Versuchung bis heute widerstanden. Im Zentrum steht der Gekreuzigte. Er hat dem christlichen Abendland seinen Namen gegeben. Aus diesem christlichen Abendland entwickelte sich, was heute westliche Wertegemeinschaft genannt wird. Innerhalb der Grenzen dieser Gemeinschaft stehen Kathedralen, hängen Kreuze, feiert man den Sonntag und christliche Feiertage und zählt die Jahre seit Christi Geburt. Der Westen lebt scheinbar auf vertrautem Fuß mit seinem Religionsstifter. Daher meinten die Christen zu allen Zeiten, diesen Jesus zu kennen, und auch wir Heutigen meinen das, obwohl die meisten Zeitgenossen, vor allem die jüngeren, kaum noch etwas von ihm wissen.
Das Schockerlebnis, das Kulturfremden angesichts des Gekreuzigten vermutlich in die Glieder fährt, bleibt bei uns aus, weil wir von klein auf daran gewöhnt wurden. Der Kreuzestod jenes Mannes, in dem Gott Mensch wurde, hat sich über zwei Jahrtausende so tief ins kulturelle Gedächtnis der christlichen Welt eingegraben, dass jedes neugeborene Kind in seinen Genen schon eine Art Vorwissen mitbringt, das wie eine Immunisierung gegen das Schockerlebnis wirkt.
Die gesamte westliche Kunst, die Literatur und die Geistesgeschichte haben in der Botschaft vom Kreuz ihre Wurzeln, wobei diese natürlich auch in griechischem und jüdischem Boden gründen. Wer in so eine Kultur hineingeboren wird, atmet deren Luft, saugt die Essenz dieser Kultur mit der Muttermilch ein, und selbst wenn er kognitiv von Jesus gar nichts weiß, weiß er auf geheimnisvoll unbewusste Art doch etwas von ihm und kommt daher nicht auf die Idee, Anstoß zu nehmen an einem Glauben, der doch seinem innersten Wesen nach ungeheuer anstößig ist. Daher besteht das westliche Gefühl, mit diesem Jesus – trotz weit verbreiteter fataler Unwissenheit – vertraut zu sein, auf eine seltsam vertrackte Weise zu Recht, und eben wegen dieser seltsamen Vertrautheit verfehlen wir immerzu, was Jesus und den mit ihm verbundenen Glauben eigentlich ausmacht.
Jedem natürlich empfindenden Menschen widerstrebt es zutiefst, eine Religion anzunehmen, deren Kult sich um die Ikone eines blutigen, am Kreuz hängenden Toten herum aufbaut. Jeder natürlich empfindende Mensch erwartet von einer Religion Leben, Schönheit, Kraft und Glück. Die christliche Religion wartet mit dem Gegenteil auf. Aber wir sind nicht schockiert. Wir halten das Christentum für eine Religion wie jede andere, obwohl der christliche Glaube doch eigentlich das Gegenteil einer Religion ist.
Erst, wenn man verstanden hat, dass sich dieser Glaube allen Erwartungen, die man natürlicherweise an eine Religion heranträgt, schroff verweigert, und erst, wenn man versucht, das durch kulturelle Prägung ausgebliebene Schockerlebnis angesichts des Gekreuzigten nachzuholen, indem man sich bewusst macht, wie widernatürlich, ja geradezu «abartig» der Kern des christlichen Glaubens eigentlich ist, erst dann erhascht man einen Zipfel der abgründigen Lehre dieses Glaubens, und erst dann verschafft man sich die Möglichkeit der Ahnung: Es könnte die Wahrheit sein.
Aber welche Wahrheit? Worin eigentlich besteht sie, die spezifisch christliche Wahrheit?
Die Frage ist hier natürlich nicht erschöpfend und nicht auf einmal zu beantworten. Man kann sich ihr nur schrittweise nähern, und im Verlauf dieser Annäherung wird sich herausstellen, dass wahrscheinlich nicht einmal Jesus selbst die ganze Wahrheit bekannt war. Und weiter wird sich herausstellen: Die ganze Wahrheit bleibt uns verschlossen, denn erstens ist sie zu groß für uns, und zweitens ist sie nichts Statisches, sondern etwas dynamisch sich Entwickelndes. Sie ist noch immer unterwegs zu uns. Aber das, was sich da entwickelt, sich oft genug auch verirrt, verrennt, ins Gegenteil verkehrt, beruht auf ein paar wenigen Kerngedanken, die durch alle Zeiten ihre Gültigkeit behalten. Und nur diesen Essentials wollen wir uns in diesem Buch nähern.
Der Annäherungsversuch soll im Jahr 63 vor Christus beginnen. In jenem Jahr marschieren in Judäa die Römer ein und beenden eine wenige Jahrzehnte dauernde Episode, während der die Juden einmal nicht unter fremder Herrschaft lebten, sondern vom königlichen und hohepriesterlichen Geschlecht der Hasmonäer regiert wurden. Mit dem Jahr 63 kehrt wieder der sattsam bekannte Normalzustand ein in Judäa: Leben unter fremder Herrschaft, diesmal unter römischer.
Die Juden fragen jetzt allerdings nicht mehr: Wodurch haben wir das verursacht, wofür werden wir von Gott bestraft? Denn ihr Glaube, die Theologie und das Gottesbild haben sich weiterentwickelt. Die einfache Mechanik – wenn wir tun, was Gott gefällt, geht es uns gut, und wenn wir tun, was Gott missfällt, geht es uns schlecht – ist einem realistischeren Gottesbild gewichen, wie es bereits im Buch Hiob aus dem vierten Jahrhundert vor Christus vorgezeichnet war. Dort widerspricht Hiob der einfachen These, dass Gott gute Werke belohne und schlechte bestrafe, und argumentiert:
Warum leben denn die Gottlosen, werden alt, groß und stark? … Ihre Häuser sind in Frieden, ohne Furcht; die Rute Gottes schlägt sie nicht. … Sie verbringen in Wohlfahrt ihre Tage … und doch sprechen sie zu Gott: Hebe dich weg von uns; der Erkenntnis deiner Wege fragen wir nichts nach! Was sollten wir dem Allmächtigen dienen, und was nützt es uns, ihn anzurufen? Der eine stirbt im Vollbesitz seines Glücks, vollkommen ruhig und sorglos; seine Tröge fließen über von Milch, und das Mark seiner Gebeine wird getränkt. Der andere aber stirbt mit betrübter Seele und hat nie Gutes geschmeckt: Gemeinsam liegen sie im Staube, und Gewürm bedeckt sie beide. (Hiob 21, 7 – 23)
Gott, mit dem Israel auf so vertrautem Fuße lebte, ist dem Volk wieder ein bisschen fremder und rätselhafter geworden, die Wahrheit seines Gottesbildes aber hat sich vertieft. Israel weiß jetzt: Von Gott kommt nicht nur die Strafe für Schuld und Vergehen und der Lohn für Gehorsam gegen Gott, von ihm kommt auch das unverdiente Glück für die Gottlosen, das grundlose Unglück für die Gerechten, ja sogar das Böse kommt von Gott.
Und: Glaube rechnet sich nicht. Zu glauben, man könne den göttlichen Willen beeinflussen durch Opfergaben, Wallfahrten, Prozessionen, Gebete, Beachtung aller religiösen Vorschriften oder durch gute Werke und ein Gott wohlgefälliges Leben, ist Aberglaube, Götzendienst. Was wahrer und reifer Glaube ist, wird uns in Hiob vorgeführt: Ihm zerbrechen alle Glaubensgewissheiten, er verliert seine liebsten Menschen, seine materielle Lebensgrundlage wird ihm entzogen, und im größten Leid hält er dennoch grundlos an diesem Gott fest und vertraut darauf, dass alles, was geschieht, letztlich im Einklang mit Gottes Willen geschieht und das scheinbar Sinnlose einen für den Menschen verborgenen Sinn hat.
Wahrer Glaube versucht nicht, Gott für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, sondern sich von Gott für dessen Zwecke instrumentalisieren zu lassen. Der wahrhaft Gläubige versucht nicht, Gott zu dienen, um damit seinem persönlichen Glück auf die Sprünge zu helfen oder seine Familie zu beschützen, und auch nicht, um sich eine Planstelle im Himmel zu sichern; der wahrhaft Gläubige glaubt allein, weil er eine Wahrheit erkannt hat, die persönlichkeitsverwandelnde Wahrheit Gottes. Alles andere folgt wie von selbst aus dieser Verwandlung.
Aber nur wenigen ist solch ein Glaube möglich. Zu tief steckt jedem Menschen noch die natürliche Religion in den Knochen, die Religion als Mittel der Kontingenzbewältigung und Schicksalsbeherrschung. Auch bei den Juden des letzten vorchristlichen Jahrhunderts vermischt sich die natürliche Religion mit der Aufklärung über den wahren Gott. Dieser wahre Gott ist ein Gott der Freiheit, das haben die Juden richtig erkannt. Aber warum befreit dieser Gott dann nicht endlich sein Volk von den ewig wechselnden Tyrannen fremder Völker?
Das ist die große Frage, an der sich die Juden umso leidenschaftlicher abarbeiten, je länger die Fremdherrschaft dauert und je häufiger die Tyrannen wechseln. Unter den Römern steuert diese Auseinandersetzung auf einen Siedepunkt zu. Für viele Juden bedeuten die Römer so etwas wie jenen Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen bringt. Unter den Ägyptern gelitten, von den Assyrern erobert und verschleppt, von den Babyloniern überfallen und verschleppt, unter persische Herrschaft geraten, unter griechische und jetzt unter römische – hört dieses Kujoniertwerden von fremden Mächten denn niemals auf?
Wenn wir nicht selbst etwas dagegen unternehmen, wird es nicht aufhören, sagen Teile der jüdischen Bevölkerung. Sie sind rebellisch geworden. Sie wehren sich, gehen in den Untergrund, machen den Besatzern das Leben schwer. Aus ihnen gehen später die Zeloten hervor, die immer wieder Aufstände gegen die Römer anzetteln, welche immer wieder blutig niedergeschlagen werden. Womit die römische Weltmacht den Juden demonstriert: Ihr habt keine Chance gegen uns, also fügt euch. Und die Juden fragen sich: Soll das denn unser Schicksal für alle Zeiten sein?
In jenen Jahrzehnten wird in Judäa eine neue, relativ junge, aus dem Jahr 150 vor Christus stammende Schrift sehr aufmerksam gelesen: das Buch Daniel. Diese Schrift nimmt die in den Büchern Jeremia, Jesaja und Hesekiel enthaltenen Messias- und Endzeitprophezeiungen auf, steigert sie und gibt ihnen eine apokalyptische Wende. Die Juden rechnen seitdem zunehmend – und viele geradezu ungeduldig – damit, dass ein Weltenrichter vom Himmel steigt, dem Treiben der Völker ein Ende macht, die Gewaltgeschichte der Welt stoppt und den ganzen Kosmos verwandelt.
Die Beschreibungen, wann das sein und wie es dabei im Einzelnen zugehen wird, sind vage und widersprüchlich. Daher entwickeln sich unter den Juden nun sehr verschiedene Endzeit-, Weltgerichts- und Messiaserwartungen. Aber je länger die Römer herrschen, desto mehr verdichtet sich die Spekulation: Sie, die Römer, werden es sein, die der Weltenrichter oder der Messias aus dem Land jagen wird. Und darauf, so sagen viele, gelte es sich vorzubereiten, ja man könne sogar durch eigenes Tun dazu beitragen, diesen Zeitpunkt immer näher an die Gegenwart zu rücken, dem erlösenden Eingreifen Gottes nachhelfen.
Aber wie? Die einen versuchen es durch verschärftes Einhalten der Gesetze und göttlichen Gebote. Die anderen sondern sich ab vom normalen Volk, führen ein klösterlich-asketisches Leben und hoffen, die Endzeit durch Gebet herbeizuführen. Wieder anderen geht alles viel zu langsam, weshalb sie das Reich Gottes durch Gewalt gegen die Römer herbeizwingen möchten. Und natürlich treten allerlei selbsternannte Propheten und Messiasse auf und machen das Volk verrückt.
In diese aufgeheizte Endzeitstimmung wird Jesus hineingeboren. Er wird kaum mehr als dreißig Jahre leben, höchstens drei Jahre Zeit haben, um öffentlich zu verkünden: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe. (Markus 1, 15) Die große Mehrheit seines Volkes glaubt ihm das so wenig, wie es den anderen Messiassen glaubt. Aber nach seinem Tod glauben ihm die, an die er nie gedacht hat: die Heiden. Durch deren Glauben kommt zwar nicht das Reich Gottes, sondern nur die Kirche. Allerdings: Rom geht tatsächlich unter. Die Herrscher, unter denen die Juden so gelitten hatten, verabschieden sich aus der Weltgeschichte. Aber kein Gott war vom Himmel gestiegen. Der Weltuntergang fiel aus. Stattdessen wächst aus dem Schoß des Judentums eine neue Religion, diese übernimmt das Erbe Roms und treibt die Geschichte weiter. Es ist eine seltsame Geschichte.
Sie beginnt mit einem seltsamen Menschen namens Johannes. Er hatte ein Kleid von Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Lenden; und seine Speise waren Heuschrecken und wilder Honig (Matthäus 3, 4). An ihn erging das Wort Gottes (Lukas 3, 2). Er war also ein von Gott berufener Prophet. Womit er beauftragt wurde, was der Zweck seiner Berufung war, wird nicht explizit erzählt, aber implizit erfahren wir es aus dem Tun des Johannes, und außerdem ist der Auftrag der Propheten sowieso immer derselbe: Sie sollen das Volk der Juden daran erinnern, wozu es auf der Welt ist und was das für das Leben eines jeden bedeutet.
Johannes ruft diese Erinnerung im kollektiven Gedächtnis seines Volkes wach, indem er sich an den Jordan begibt, an die Grenze zwischen der Wüste und dem fruchtbaren Land, an jene Stelle, an der das Volk Israel 1200 Jahre zuvor aus der Wüste kommend den Jordan durchquerte, um ins verheißene Land einzuziehen. Dieses in der fernen Vergangenheit liegende Ereignis will Johannes für sein Volk zurückholen in die Gegenwart. An die damals entstandene Tradition will er neu anknüpfen. Darum predigt er an dieser heiligen Stelle des Jordan.
Johannes’ Rede und seine Erscheinung müssen eindrucksvoll gewesen sein, und das muss sich herumgesprochen haben im Volk, denn es machen sich tatsächlich viele Menschen auf den Weg zu ihm an den Jordan, um ihm zuzuhören. Das Thema seiner Predigt ist das Thema der damaligen Zeit, die Endzeit, der Gerichtstag Gottes. Doch seine Botschaft dazu ist neu, weicht ab von der bisherigen Lehre.
Die alte Lehre lautete, grob vereinfacht: Jude sein und die religiösen Vorschriften befolgen genügt, um das ewige Heil zu erlangen. Man wird Mitglied des Volkes Gottes durch Geburt.
Die neue Lehre des Johannes lautet: Es genügt nicht. Gott wird bald kommen, alle werden es noch erleben und dann überrascht sein, dass Gott nicht nur über die anderen Völker zu Gericht sitzt, sondern auch über sein eigenes Volk. Dieses hat nicht mehr den einst verheißenen exklusiven Anspruch auf das Reich Gottes, dieser Anspruch ist in den zurückliegenden 1200 Jahren verspielt worden: Ihr Otterngezücht! Wer hat euch gelehrt, dass ihr dem kommenden Zorngericht entrinnen sollt? (Matthäus 3, 7)
Der Opferkult im Tempel, die genaue Befolgung der vorgeschriebenen Rituale und Zeremonien, die gewissenhafte Einhaltung von Reinheits- und Speisevorschriften, der rein formale Gehorsam gegen Gott, dieser ganze Glaube nach Vorschrift – das alles ist nur noch hohle Form, inhaltsleere Praxis, zur Sinnlosigkeit erstarrte Religion, denn sie hat keine Frucht hervorgebracht. Die Menschen in Israel betrügen einander, beuten sich gegenseitig aus, teilen nicht, belügen sich und andere. Der eitle Streit der Schriftgelehrten um die Buchstaben der Schrift, die Haarspaltereien der Hohepriester, die Selbstgerechtigkeit der Pharisäer, der Opportunismus der Sadduzäer und überhaupt alles, was dieses Volk im Alltag tut, steht in keiner Beziehung mehr zu seinem ursprünglichen Zweck. Die Riten, der Kult, die Opfer, die Vorschriften, das alles ist nur noch religiöser Zinnober, dem keine Realität mehr entspricht. Die Realität, wie sie nach Gottes Willen eigentlich sichtbar und erfahrbar gelebt werden sollte, ist in der jüdischen Religionspraxis nur noch symbolisch als Erinnerung vorhanden. Da war doch mal was … Außerhalb des Tempels, in der wirklichen Welt, geschieht das Gegenteil dessen, was in seinem Inneren beschworen wird.
Von der alten Utopie – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Wohlstand für alle, es darf keinen Armen geben, keine Herrschaft über Menschen, keine Ausbeutung, keine Unterdrückung – war das Volk so weit entfernt wie eh und je. Es gab wenige Reiche und viele Arme. Zu den Reichen gehörten das herodianische Königshaus, die wohlhabenden Priesterfamilien in Jerusalem und wenige Großgrundbesitzer, die ihr Land an arme Kleinbauern verpachteten und diesen einen hohen Anteil am Ertrag abpressten. Zu den vielen Armen gehörten neben den abhängigen Pächtern und Kleinbauern die Winzer, Fischer, Schaf- und Ziegenhirten, kleine Handwerker, schließlich Tagelöhner und Bettler. Besonders verachtet von ihren jüdischen Landsleuten waren die Zöllner, weil sie im Dienst der verhassten römischen Besatzungsmacht standen, für diese Steuern, Abgaben, Zölle eintrieben und einen Teil für sich selbst abzweigten.
Deshalb predigt Johannes am Jordan: Israel hat 1200 Jahre Zeit gehabt, aber diese Zeit nicht genutzt. Darum steht ihm nun Gottes Strafgericht bevor. Die ererbte Zugehörigkeit zum Gottesvolk zählt nicht mehr. Sie muss neu erworben werden. Durch Umkehr und Buße. So in etwa lautet der Inhalt der Bußpredigt Johannes des Täufers. «Täufer» wird er genannt, weil er die Bußwilligen mit dem Kopf ins Wasser des Jordan taucht, um ihre Umkehr durch ein äußeres Zeichen zu besiegeln. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Variante der damals üblichen rituellen Waschungen, sondern um etwas Neues in Israel. Die Taufe hat es vor Johannes nicht gegeben.
Bevor Johannes die Leute tauft, fordert er sie auf, ihre Sünden zu bekennen, zu beichten. Auch das ist neu. Traditionell gab es bis dahin nur allgemein-formelhafte Bekenntnisse. Nun soll jeder Einzelne seine durch Geburt erworbene Zugehörigkeit zum Volk Gottes durch eine eigene Entscheidung erst wirklich herbeiführen und endgültig besiegeln. Damit aber, mit dieser wohlüberlegten Entscheidung, muss auch die Abkehr von seiner bisherigen sündigen Existenz einhergehen und ein bewusster Aufbruch zu einem neuen, von Grund auf veränderten Leben erfolgen.
Das Eintauchen des Kopfes in das Wasser des Jordan versinnbildlicht diesen Vorgang. Johannes benutzt die doppelte Symbolik des Wassers: In der todbringenden Flut soll der alte sündige Mensch sterben. Zugleich aber soll der vom Schmutz der Vergangenheit rein gewaschene Mensch nach dem Auftauchen als wiedergeborener neuer Mensch dem lebenspendenden Wasser entsteigen und unbelastet und frei noch einmal von vorn beginnen können. Luther wird viele Jahrhunderte später sagen: Wir müssen täglich aufs Neue den alten Adam in uns ersäufen.
Irgendwann muss auch Jesus von Johannes gehört und sich zu ihm begeben haben. Auch er lässt sich taufen, und dieser Akt gilt vielen Theologen als historisch besonders gut gesichert, denn für die Evangelisten der späteren Zeit stellte diese Taufe einen heiklen Punkt dar, den sie lieber elegant umschifft, also verschwiegen hätten. Da es aber offenbar fest verbürgt war, dass Jesus sich taufen ließ, konnte man das Faktum nicht unterschlagen.
Zwei Probleme hat diese Tatsache den Evangelisten aufgebürdet. Erstens war Jesus für sie der Größere und Johannes der Kleinere. Wie kann der Rangniedrigere den Ranghöheren taufen? Hätte es nicht umgekehrt sein müssen? Und zweitens war doch der von einer Jungfrau geborene Sohn Gottes ein Mensch ohne Sünde. Was sollte er beichten? Wieso ließ er sich überhaupt taufen? Er hatte eine Umkehr doch gar nicht nötig. Die Evangelisten mussten einen hohen theologischen Aufwand betreiben, um die beiden Probleme zu lösen.
Als Erstes lassen sie sehr geschickt Johannes selbst die Sache thematisieren. Noch bevor Jesus überhaupt bei ihm erscheint, kündigt er dessen Kommen bereits an, auch auf seine Messiaswürde spielt er an, und damit ist es Johannes selbst, der die christliche Hierarchie bestätigt: Ich taufe euch mit Wasser zur Buße; der aber nach mir kommt, ist stärker als ich, sodass ich nicht gut genug bin, ihm die Schuhe zu tragen; der wird euch im heiligen Geist und mit Feuer taufen. (Matthäus 3, 11)
Dann tritt das Vorhergesagte ein. Jesus ist da, will sich taufen lassen, und Johannes stellt klar, wie die Rangordnung ist: Ich habe nötig, von dir getauft zu werden, und du kommst zu mir? Jesus aber antwortete und sprach zu ihm: Lass es jetzt zu; denn also gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen! Da ließ er es ihm zu. (Matthäus 3, 14 – 15)
Von einem Sündenbekenntnis ist nicht die Rede. Stattdessen bricht der Himmel auf, als Jesus aus dem Wasser steigt, und von dort kommt der Geist Gottes herab wie eine Taube, und eine Stimme spricht: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe! (Matthäus 3, 17)
Damit spielen die Evangelisten auf jene Stelle bei Jesaja an, die das Erscheinen des Messias prophezeit: Siehe, das ist mein Knecht, auf den ich mich verlassen kann, mein Auserwählter, an welchem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt; er wird das Recht zu den Völkern hinaustragen. (Jesaja 42, 1)
Damit könnten die Evangelisten es eigentlich bewenden lassen, denn auf diese Weise haben sie die zwei Probleme im Prinzip gelöst. Aber Matthäus und Lukas genügt das noch nicht. Ihnen ist sehr daran gelegen, Jesu Verwurzelung im Judentum und dessen Gottessohnschaft zu beweisen und damit das Alte Testament fortzuschreiben. Darum beginnt Matthäus sein Evangelium mit einem Stammbaum Jesu, der ihn als Nachkomme von Abraham und David ausweist. Dem folgt, in aller Kürze, die Geburtsgeschichte, und dann kommt schon, im dritten Kapitel, die Episode mit Johannes dem Täufer. Lukas erzählt die Geburtsgeschichte ausführlicher, aber auch er kommt im dritten Kapitel zur Sache, und das heißt zu Johannes und zur Taufe. Und gleich anschließend folgt bei ihm ein Stammbaum Jesu. Diesmal geht er sogar bis auf Adam zurück.
Danach berichten die Evangelisten, dass Jesus für vierzig Tage in die Wüste geht, um zu fasten. Dort begegnet er seinem Versucher, der ihm einen faustischen Pakt vorschlägt und ihm Macht, Besitz, Reichtum und Wohlstand verspricht. Aber Jesus schlägt den Pakt aus, weil er den Preis erkennt, den der Versucher wohlweislich verschweigt. Dieser Preis wäre Jesus selbst gewesen. Seine Seele, seine Persönlichkeit hätte er an den Teufel verkaufen müssen. Doch Jesus hat sich bei seiner Taufe schon einem anderen ausgeliefert, und diese Taufe wirkt wie eine Schutzimpfung. Sie hat ihn immunisiert gegen die Einflüsterungen des Versuchers, darum kann er jetzt mit großer Souveränität sagen: Weiche von mir, Satan. Denn es steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen! (Matthäus 4, 10)
Mit seiner Aktion am Jordan, der Grenze zur Wüste, hatte Johannes die Wüstensituation der aus Ägypten geflohenen Israeliten symbolisch in die Gegenwart zurückgeholt, um an den Gründungsmythos zu erinnern. Jesus wiederholt das nun mit seinem Gang in die Wüste. Die vierzig Tage Wüstenaufenthalt erinnern an die vierzig Gründerjahre in der Wüste. Wie damals das Volk Israel sich von allen falschen Göttern lossagte und allen weltlichen Mächten den Gehorsam aufkündigte, um sich an den einzig wahren und wirklichen Gott zu binden, so tut es jetzt auch Jesus in der Wüste. «Back to the roots» lautet die Botschaft von Jesus wie Johannes. Zurück zu den Wurzeln, um noch einmal von vorn zu beginnen, diesmal aber richtig. Und diesmal unter Führung eines Mannes, welcher der Sohn Gottes ist und von diesem selbst zu den Menschen geschickt wurde.
Die Evangelisten sagen damit: Leute, alle mal herhören. Die Bedeutung dieses Jesus kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Seine Geburt, seine Taufe, sein Leben und Sterben sind ein weltgeschichtliches Ereignis, ja genau genommen sind sie das größte geschichtliche Ereignis überhaupt.
Wenn man bedenkt, dass dies im ersten Jahrhundert nach Christus geschrieben wurde und dass dieser Christus nur wenige Jahrzehnte zuvor einen schändlichen Tod als hingerichteter Verbrecher erlitten hatte, war das eine sehr kühne These. Aber zwei Jahrtausende später können wir nicht umhin, den Evangelisten zuzugestehen: Sie lagen nicht ganz falsch damit.