DAS OSTER- UND PFINGSTGESCHEHEN: DIE GEBURT EINER NEUEN RELIGION AUS DEM UNTERGANG

Auch wenn man das Neue Testament gründlich entrümpelt und mit aufgeklärt-kritischem Blick liest, bleiben erstaunliche Tatsachen übrig, die einen geradezu wundersam anmuten. Zum Beispiel die Tatsache des Osterglaubens. Denn eigentlich musste Jesus, als er tot am Kreuz hing, als Gescheiterter betrachtet werden.

Sollte bis dato noch irgendjemand Messiashoffnungen an ihn geknüpft haben, so hätten diese Hoffnungen spätestens nach seinem Tod erlöschen müssen. So schändlich kann man nicht sterben, wenn man der Erlöser ist. Wenn Jesus der vom Alten Testament prophezeite Messias gewesen wäre, dann hätte er im letzten Moment vor seinem Tod vom Kreuz herabsteigen, himmlische Heerscharen zu sich rufen und mit diesen die Römer aus dem Land jagen müssen. Hat er nicht getan. Starb einen jämmerlichen Kreuzestod. Wurde hingerichtet wie ein ganz gewöhnlicher Verbrecher.

Die Jünger ahnten es. Schon bei seiner Gefangennahme verzogen sie sich. Nur einer schlich heimlich hinter dem Soldatentrupp her, der Jesus abführte und vor den Hohen Rat brachte: Petrus. Er folgte ihm bis in den Vorhof des Gebäudes, in dem Jesus vernommen und verurteilt wurde. Warum ging Petrus nicht hinein, um als Zeuge für Jesus auszusagen?

Weil er Angst hatte. In jenem Vorhof wird er von einer Magd erkannt als einer, der zu diesem Jesus gehört, gegen den gerade Anklage erhoben wird. Petrus aber streitet es ab. Die Magd beharrt darauf, ihn zu erkennen, macht die Umstehenden auf ihn aufmerksam, und auch sie sagen: Ja, den kennen wir, der gehört zu dieser Jesustruppe. Dreimal streitet Petrus ab, etwas mit dem Angeklagten zu tun zu haben. Und es krähte der Hahn. Von jetzt an war Jesus allein.

War er auch allein, als er am Kreuz starb? Die Evangelien machen darüber sehr unterschiedliche Angaben, die in einem bemerkenswerten Detail auffällig übereinstimmen: Die Jünger sind weg. Nur die Frauen sehen – bei den meisten Evangelisten aus der Ferne – wie Jesus stirbt.

Laut Markus sahen Frauen von ferne zu, unter ihnen auch Maria Magdalena und Maria, des jüngern Jakobus und Joses Mutter, und Salome, die ihm, als er in Galiläa war, nachgefolgt waren und ihm gedient hatten, auch viele andere, die mit ihm nach Jerusalem hinaufgezogen waren (Markus 15, 40).

Nach Matthäus waren aber daselbst viele Frauen, die von ferne zusahen, welche Jesus von Galiläa her gefolgt waren und ihm gedient hatten, unter ihnen waren Maria Magdalena, und Maria, die Mutter des Jakobus und Joses, und die Mutter der Söhne des Zebedäus (Matthäus 27, 55 – 56).

Lukas zählt auf: alle seine Bekannten von ferne und die Frauen, die ihm von Galiläa her nachgefolgt waren (Lukas 23, 49).

Nur bei Johannes stehen vier Menschen so nah am Kreuz, dass Jesus mit ihnen sprechen kann, und zwar drei Frauen, die kurioserweise alle Maria heißen: die Mutter Maria, Maria Magdalena und eine weitere Maria, die als Schwester der Gottesmutter vorgestellt wird. Mit dabei: ein Mann ohne Namen, von dem es heißt, der Jünger, den Jesus lieb hatte (Johannes 19, 25 – 26).

Frauen sind die Letzten, die Jesus sehen. Frauen balsamieren seinen Leichnam. Frauen sind die Ersten, die den Auferstandenen erblicken.

Was immer diese Übereinstimmungen und Unterschiede in den Aufzählungen und die Hervorhebung der Frauen zu bedeuten haben, in dem einen Punkt, in dem die Texte schweigen, tun sie es so laut, dass einem die Ohren klingen. Das Schweigen sagt: Von den Männern, die in besseren Zeiten engstens mit Jesus zusammengearbeitet und sich wichtig gemacht haben, fehlt in der Stunde seines Todes jede Spur. Jesus stirbt, und seine Jünger sind weg.

Wahrscheinlich hatten die Jünger in typisch männlicher Manier immer gedacht: Wenn Jesus der Messias ist und sich demnächst in seiner ganzen Macht und Herrlichkeit allen offenbart, dann wird er der Dirigent sein, und wir, seine engsten Mitarbeiter, werden die erste Geige spielen. Dass sie so berechnend waren, beweisen die vielfältig bezeugten Rangstreitigkeiten, die es unter den Jüngern gegeben hat 20, und ihre sie brennend interessierende Frage, wann es denn nun anfinge mit der Gottesherrschaft, wie es dabei zugehe und welche Rolle sie dabei spielen würden.

Als sie dann hörten, Jesus werde gekreuzigt, wird jeder für sich gedacht haben: Vergiss es. Vorbei. War alles nur ein Irrtum. Hirngespinste. Und daher geht es jetzt nur noch um eines: die eigene Haut retten. Die größtmögliche Distanz wahren zu Jesus, diesem Verlierer. Rückzug aus der Öffentlichkeit. Schwamm drüber. Über die Sache muss Gras wachsen. Und dann kann man irgendwann einmal wieder nach einem neuen, erfolgversprechenderen Messias Ausschau halten. Oder es auch bleiben lassen.

Normalerweise hätte die Sache Jesu damit erledigt sein müssen. Normalerweise hätte dieser Jesus jetzt, wie all die anderen im Lauf der Jahrzehnte von den Römern gekreuzigten Unruhestifter, dem Vergessen anheimfallen müssen.

Ähnlich stand es ein halbes Jahrtausend zuvor, als das Restkönigreich Juda unterging. Auch damals war alles vorbei. Auch damals waren die Nachkommen der ägyptischen Flüchtlinge eigentlich zum Aussterben verurteilt, zum Verschwinden aus der Geschichte. Stattdessen ging es danach erst richtig los. Die Geschichte mit Gott wurde einfach ohne König, ohne Land und ohne Tempel weitergeschrieben, und sogar besser als mit König, Land und Tempel.

Nun wieder dasselbe. Die Römer denken: Kreuzigen wir ihn, dann haben wir einen Unruhestifter weniger. Damit aber fängt die Unruhe erst an. Plötzlich heißt es: Jesus ist auferstanden. Er lebt. Wir haben ihn gesehen. Und dann sehen ihn alle, sprechen mit ihm, nach vierzig Tagen ist Himmelfahrt, nach fünfzig Tagen Pfingsten. Und nach dreihundert Jahren kracht das Römische Reich zusammen und wird von den Christen übernommen.

Was immer damals passiert ist nach der Kreuzigung, eines kann nicht geleugnet werden: Die Jünger, die sich in ihre Löcher verkrochen hatten, die etwas ferner stehenden Anhänger, die davon ausgingen, die Sache sei erledigt, und alle, die einmal an dieser Angelegenheit interessiert gewesen waren und sie nach dem Kreuzestod ad acta gelegt hatten, sind plötzlich wieder da, haben den Mut, sich öffentlich zu diesem Jesus zu bekennen. Sensationeller noch: Sie setzen sein Geschäft fort, verkünden allen seine Botschaft, fürchten weder die Römer noch den Hohen Rat, und von jetzt an nicht einmal mehr den Tod.

Das mit den fünfzig Tagen ist vermutlich sogar eine realistische Angabe. So lange muss es gedauert haben, bis Jesu Anhänger die Kraft gefunden hatten, sich an die Öffentlichkeit zu wagen und Jesus als den lebendigen Sohn Gottes zu verkünden. Ein ungeheurer Sinneswandel musste sie erfasst haben. Ihr Glaube an Jesu Wahrhaftigkeit hatte ihre Zweifel über seinen schändlichen Tod besiegt, und nun tritt das Pfingstwunder ein: sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen (Apostelgeschichte 2, 4).

Ihr Gottesbild hatte sich grundlegend geändert in jenen sieben Wochen. Wieder einmal sind große Abstriche daran gemacht worden, große Teile auch ganz weggebrochen, aber was davon übrig blieb, war revolutionär neu und seltsam fremd: ein Verlierer als Sieger. Ein Hingerichteter als Herr über die Welt, geboren als Kind einfacher Leute in einem Kaff am Rande des Römischen Reiches. Ein Gott, der sich menschlichen Wunschvorstellungen verweigert und darum gerade nicht in Begleitung himmlischer Heerscharen vom Himmel herabsteigt, um ein gewaltiges Spektakel zu inszenieren, sondern sich stattdessen zu einem sterblichen Menschen entäußert. Ein Mensch, der liebt, leidet, sich nicht wehrt, gott- und menschenverlassen stirbt und auf das Unzuverlässigste überhaupt baut: das menschliche Herz, die menschliche Bußfertigkeit, die menschliche Umkehrbereitschaft, die menschliche Schwäche.

Die Juden wollten das nicht glauben. Und eigentlich kann man es ihnen nicht verdenken. Ist es nicht eine Zumutung, an einen solchen Gott glauben zu sollen? Gerade in dieser Zumutung liegt aber das stärkste Argument gegen die religionskritische Unterstellung, unsere Gottesbilder seien nur menschliche Projektionen. Das mag für die heidnischen und die überwundenen jüdisch-christlichen Gottesbilder zutreffen. Auf das Bild von der hingerichteten Gottheit trifft es nicht mehr zu. Auf so ein Bild kommt der Mensch von Natur aus nicht.

Die eigentliche Gestalt, die aus all den mythologischen Bildern des Alten und Neuen Testaments hervortritt, ist deshalb die sensationelle Gestalt Jesu als eines Verlierers, der ein Sieger ist. Ein Hingerichteter als Herr über die Welt, ein Gott, der sich zu einem sterblichen Menschen entäußert. Keine andere Religion hat ein so tiefgründiges, befreiendes, erlösendes und letztlich zuversichtliches Gottesbild in die Welt gebracht wie die christliche. Und der, der die ganze Größe dieses Gedankens als Erster erkannt hat, wahrscheinlich besser erkannt hat als die zwölf Jünger, war Paulus, und darum war er letztlich auch der Wirkmächtigere in der Geschichte des Christentums.