Kapitel 9

 

Die grüne Sonne, Meristem, lag weit hinter ihnen im All. Karols Verbrennungen waren verheilt, und lediglich einige schwachrote Flecke, die nur Bart sichtbar waren, erinnerten an die sechs Stiche, mit denen Ringgs häßliche Kopfwunde genäht worden war. Er hatte die Mentorianerin seitdem weder allein gesehen noch gesprochen. Nach einigen Tagen höllischer Schmerzen beim Beugen oder beim Aufheben schwerer Gegenstände war auch sein Handgelenk wieder geheilt. Über zwei Delta-Phasen und zwei Zwischenlandungen auf Lhari-Raumhäfen waren sie weit hinausgelangt, beinahe bis an den Rand der erforschten Galaxis, und nun brannte das herrliche Feuer des Antares wie ein riesiges rotes Auge in den Sichtluken, während ihr Schiff bereits den äußeren Bereich des gewaltigen Sternensystems durchdrang.

Zum Antares gehörten zwölf Planeten, dessen äußerster – weit, weiter weg im Moment, am entferntesten Punkt seiner Umlaufbahn – von der Swiftwing zur Zeit ihres Eintritts in das Sonnensystem betrachtet – eine kleine, eingefangene Sonne darstellte. Kaum größer als die Erde, machte dieser ›Planet‹ den Antares faktisch zu einem Doppelstern, wobei er seinen gigantischen Hauptplaneten alle neunzig Jahre einmal umrundete. Obwohl er nur klein war, brannte er doch in brillantem blauweißem Feuer. Er besaß auch einen winzigen eigenen Begleiter, und Bart wußte, daß sie nach ihrer Landung auf dem Innenplaneten Antares 7 mit seinem Raumhafen und seinem Handelszentrum die immense Sonne in einer sorgfältig berechneten Umlaufbahn umfliegen und auf diesem Planetenwinzling Station machen würden, bevor sie das System in Richtung auf ihr unbekanntes Ziel auf den Lhari-Welten verließen.

Während Bart den Antares im Sichtfenster wachsen sah, überkamen ihn die unterschiedlichsten Gefühle. Einesteils war er froh, daß dieses Versteckspiel bald ein Ende haben würde. Hier sollte er die Leute treffen, mit denen sich sein Vater verabredet hatte, als er noch lebte. Und danach? Ob sie ihm seine menschliche Gestalt wiedergeben und ihn zur Wega zurückschicken würden? Oder, was unvorstellbar wäre, würden sie darauf bestehen, daß er seine Reise in die Galaxis der Lhari hinaus fortsetzte? Wie sollte er sich dann verhalten? Er wußte es nicht. In gewissen Momenten sehnte er sich nach der Gesellschaft seiner eigenen Rasse; doch dann wieder, wenn er in die lodernde Flamme des Antares blickte, die die weniger hellen Sterne verlöschen ließ, konnte er den Gedanken nicht ertragen, daß sein Flug von Gestirn zu Gestirn so bald vorüber sein sollte. Dabei hatte er eigentlich nichts herausgefunden, außer, daß der Mensch die Delta-Antriebsphase tatsächlich ohne Kaltschlaf und ohne Betäubungsmittel überstehen konnte.

Sie landeten auf dem gigantischsten Lhari-Raumhafen, den er bisher gesehen hatte und der beinahe das Ausmaß einer Erdenstadt erreichte. Wie gewöhnlich, begab sich der Zweite Offizier sogleich zur Poststelle, um eventuell dort lagernde Briefe abzuholen. Als er mit dem für die Swiftwing bestimmten Packen zurückkehrte, schien er überrascht und amüsiert.

»Du bist also gar nicht der Waisenknabe, für den wir dich gehalten haben, Bartol! Hier ist endlich mal ein Brief für dich!«

Bart nahm ihn in Empfang, mit plötzlichem Herzklopfen, und ging davon durch die Gruppen von Offizieren und Mannschaftsangehörigen, die eifrig Pläne für ihren Landurlaub schmiedeten. Er schloß sich in seiner Kabine ein, um den Brief zu lesen. Ringg hatte glücklicherweise Dienst. Schon jetzt wußte er, worum es ging.

Er trug Lhari-Schriftzeichen und war einfach adressiert an Bartol, Swiftwing, war aber mit dem Briefkopf der Acht-Farben-Gesellschaft versehen. Der Inhalt beschränkte sich auf eine Adresse und eine Zeitangabe… und der angegebene Zeitpunkt fiel in seine Dienststunden an Bord!

Einen Augenblick fühlte er sich völlig frustriert, gleichzeitig aber auch erleichtert. Es war nicht seine Schuld, wenn er die Verabredung nicht einhalten konnte. Doch bald kam ihm sein gesunder Menschenverstand zur Hilfe. Er mußte einfach pünktlich an der angegebenen Adresse erscheinen; falls er nicht dienstfrei bekam, müßte er eben trotzdem gehen. Andererseits war er noch nicht gewillt, bereits jetzt soviel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Er hatte Ringg noch niemals um einen Gefallen gebeten. Nun kämmte er den Dienstplan durch und fand heraus, daß Ringg während seiner Dienstzeit für Landurlaub eingeteilt war; und er bat den jungen Lhari, mit ihm zu tauschen. Nachdem in den Raumhäfen nur Wachdienst geleistet und die Ladearbeiten beaufsichtigt werden mußten, war Ringg sofort und mit Vergnügen einverstanden. »Ist doch selbstverständlich. Freut mich, wenn ich dir helfen kann. Hast wohl ein Mädchen hier, was?«

Bart gelang ein dämliches Grinsen, obwohl allein der Gedanke ihn bereits zu hysterischem Gelächter reizte. Er konnte nicht mal ein Lhari-Mädchen von einem Jungen unterscheiden, genausowenig, wie Ringg erkannt hatte, daß Meta ein Mensch weiblichen Geschlechts war! »Nein, nur ein – ein alter Freund meines Vaters.«

»Na, egal. Geh du nur. Ich kläre das schon mit Rugel. Mach dir darüber keine Gedanken«, beruhigte ihn Ringg.

Barts nächster Schritt führte ihn heimlich zu den Unterkünften der Mentorianer, wo er sich von Meta ein Cape borgte. Sie fragte ihn nicht, wozu er es benötigte, sondern sah ihn nur ziemlich hilflos an, als er es ihr erklären wollte.

»Erzählen Sie mir nichts«, sagte sie flüsternd, »ich habe Angst, zuviel zu erfahren.« Ihre Augen sahen groß und angstvoll aus, und Bart verspürte den Wunsch, sie zu trösten, wußte aber, daß sie vor seiner Berührung zurückschrecken würde, weil sie seine Lhari-Haut, sein Haar und seine Klauen abstießen und mit Grauen erfüllten. Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und versuchte, mit seiner Einsamkeit fertig zu werden. Er sagte nichts weiter als »Vielen Dank, Meta. Ich sorge schon dafür, daß Sie keine Schwierigkeiten bekommen, was auch geschehen sollte.«

»Das ist nicht so wichtig«, sagte sie plötzlich zu seinem Erstaunen. Sie faßte nach seiner Hand, die sie fest mit ihren zarten Fingern umschloß. »Bartol – passen Sie gut auf sich auf«, wisperte sie, und unterbrach sich dann: »Bartol – das ist ein Lhari-Name. Wie heißen Sie wirklich?«

»Bart. Bart Steele.«

»Viel Glück – Bart«, flüsterte sie, mit Tränen in den Augen. »Passen Sie auf sich auf!«

Als das blaue Cape sein Gesicht umrahmte und seine Lhari-Züge halbwegs verbarg und seine Hände in den Seitenschlitzen verschwunden waren, fühlte sich Bart zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder wohl in seiner Haut. Im eigentümlichen roten Dämmerlicht, das sich über die Straßen ergoß, die erfüllt waren von seltsam würzigen Gerüchen und einer angenehm leichten Brise, bereitete ihm sein Verschwörerdasein, sein Hasardspiel im Intrigennetz zwischen den Sternen, beinahe Vergnügen. Er ließ sich auf ein Abenteuer ein, das neu und ungewöhnlich war, und er hatte die feste Absicht, es voll zu genießen.

In seiner Phantasie malte er sich bereits die bewundernden Bemerkungen der unbekannten Verschwörer aus, wenn sie erfuhren, daß er, als junger Bursche, etwas getan hatte, was bisher noch keinem Menschen gelungen war: er hatte die Delta-Antriebsphase auf einem Lhari-Raumschiff bei vollem Bewußtsein miterlebt. Allein diese Information, so sagte er sich, war schon viel wert. Doch bei nüchterner Überlegung kam er um die Tatsache nicht herum, daß ja sein Vater bei diesem Unternehmen umgekommen war – und daß er die Nachricht von seinem Tod zu überbringen hatte.

Der angegebene Treffpunkt lag nicht weit vom Raumhafen entfernt. Es handelte sich um einen großzügigen Besitz am Rande eines Sees, den der Sonnenuntergang in leuchtenden Farben erglänzen ließ – rot, indigo, violett – und der von einer niedrigen, purpurroten, gläsern schimmernden Mauer umgeben war. An einer Art Schilderhäuschen wurde er von einem verhutzelten kleinen Mann angehalten, der ihn argwöhnisch betrachtete. Bart wagte nicht, in seiner eigenen Sprache zu sprechen. In der Raumsprache stellte er sich vor: »Mein Name ist Bartol. Ich glaube, ich werde erwartet.«

Der Mann betrachtete ihn mit düsterem, skeptischem Blick und drückte auf die Knöpfe einer Gegensprechanlage. Bart konnte nicht verstehen, was er sagte, doch als er aufsah, hatte er einen überraschten Gesichtsausdruck. »Jawohl, Mister Montano«, sprach er in das Gerät, bevor er Bart zunickte. »Gehen Sie hinauf.« Auf einen Knopfdruck öffnete sich die pupurfarbene Wand. Bart trat langsam durch die Öffnung und spürte dabei, wie sein schwer herabfallendes Cape hinter ihm im Rhythmus seiner sonderbar kraftvollen Lhari-Gangart ausschwang, während sich die Blicke des Mannes neugierig in seinen Rücken bohrten. Er zwang sich zu einem würdevollen Schrittempo, obwohl er lieber gerannt wäre.

Den Gang entlang. Eine schwarze, marmorglänzende Treppe hinauf. Eine Tür ging auf und wieder zu, schloß den roten Sonnenuntergang aus und ließ ihn ein in einen Raum, der ihm nach vielen Monaten unter Lhari-Beleuchtung sehr düster vorkam. Drei Männer befanden sich im Zimmer, doch seine Augen wurden sofort auf den gelenkt, der an einem altmodischen Kamin lehnte.

Er war sehr groß und sehr dünn, und trotz seines jugendlichen Aussehens trug er schneeweißes Haar. Barts erster absurder Gedanke war, daß er einen besseren Lhari abgeben würde als er selbst. Er hatte feurige, durchdringende Augen, und als er mit forschem, herrischem Schritt auf ihn zutrat, wurde Bart sofort klar, daß dieser Mann die Verantwortung trug; die übrigen waren nur seine Helfer.

»Du bist Bartol?«

»Das ist richtig.«

Urplötzlich stand der Weißhaarige unmittelbar vor ihm und streckte ihm die Hand wie zur Begrüßung entgegen. Bart ergriff sie – und war im Nu in einem Judogriff gefangen, flankiert von den anderen beiden. Mit groben Händen tasteten sie seinen gesamten Körper ab.

»Keine Waffe«, meinte der eine.

»Hört mal – « begann Bart.

»Spar dir das. Wenn du der richtige Mann bist, wirst du uns verstehen«, meinte der Große. »Solltest du aber der falsche sein, dann wirst du nicht sehr viel Zeit haben, das zu bedauern. Wir machen einen überaus simplen kleinen Test. Welche Farbe ist das?« Er deutete auf ein niedriges Sofa.

»Grün.«

»Und das?«

»Ein dunkleres Grün mit einer rotgoldenen Figur.«

Die Männer gaben ihn frei; der Weißköpfige lächelte. »Du hast es also tatsächlich geschafft, Steele! Ich hatte ganz sicher angenommen, daß die Code-Nachricht sich als Falle herausstellen würde!« Er trat zurück und betrachtete Bart von Kopf bis Fuß, wobei er einen anerkennenden Pfiff hören ließ. »Raynor Drei muß ein wahres Genie sein! Die Klauen und das ganze Drum und Dran! Aber trotz allem: was für ein wahnsinniges Risiko! Ich muß bekennen, daß ich mich nicht darauf eingelassen hätte!«

»Sie kennen meinen Namen – aber wer sind Sie?«

In den dunklen Augen keimte wieder Argwohn auf. »Bedeutet dein Mentorianercape, daß sie dich erwischt haben? Haben sie dein Gedächtnis gelöscht?«

»Nein«, erwiderte Bart, »es ist viel einfacher. Ich bin nicht Rupert Steele. Ich bin – « Seine Stimme versagte einen Moment. »Ich bin sein Sohn.«

Überraschung und Schock zeichneten sich auf dem Gesicht des Mannes ab. Er sagte leise: »Vermutlich heißt das, daß Rupert tot ist. Tot! Es kam demnach ein wenig früher, als er erwartet hatte. Du bist also Bart.« Er seufzte auf. »Ich heiße Montano. Das ist Hedrick – « Er deutete auf einen untersetzten kleinen Mann, der offensichtlich vom Aldebaran stammte. »Und wahrscheinlich wirst du Raynor Zwei erkennen.«

Bart kniff die Augen zusammen. Es frappierte ihn, das mürrische Gesicht von Raynor Eins, überlagert vom gleichen, aber doch wieder ganz anderen liebenswürdigen Gesicht von Raynor Drei an einer weiteren Person zu entdecken. Raynor Zwei sah streng und gefährlich aus.

»Setz dich doch«, meinte Montano mit einer einladenden Geste, »mach es dir bequem.«

Hedrick nahm Bart den Umhang ab; Raynor Zwei drückte ihm ein dampfendheißes Getränk in die Hand und reichte ein Tablett mit kleinen, knusprig gebratenen Leckerbissen zu ihm herüber, die ihm ausgezeichnet schmeckten. Unter den bewundernden Blicken der beiden Männer, während er auf ihre Fragen antwortete, ließ Barts Anspannung nach. Wie alt? Erst siebzehn? Und du bist ganz allein auf einem Lhari-Raumschiff gereist, mit einer Heuer als Astrogator? Die Situation glich auf beinahe gefährliche Weise seinen Phantasievorstellungen. Doch Montano betrachtete die Szene mit einem Stirnrunzeln zwischen seinen dichten weißen Brauen, und schließlich unterbrach er sie nicht gerade zartfühlend.

»Das reicht jetzt. Das hier ist keine Party, und wir haben nicht die ganze Nacht Zeit. Bart vermutlich auch nicht. Wir haben schon genug Zeit vergeudet. Nachdem du mit eingestiegen bist, Steele, nehme ich an, daß du auch weißt, worum es geht und wie die Risiken verteilt sind – und auch, was unser nächster Schritt ist.«

Bart schüttelte den Kopf. »Nein, Raynor Drei wollte mich lediglich als Passagier hierher schicken, um Ihre Pläne abzublasen…«

»Das sieht Drei wieder ähnlich«, unterbrach ihn Raynor Zwei. »Entschieden zu zimperlich!«

Verärgert wies ihn Montano zurecht: »Halt den Mund, Zwei. Ohne einen unserer Leute auf der Swiftwing hätten wir überhaupt nichts anfangen können, das weißt du genau. Und an die Mentorianer kommen wir nicht heran. Wie viele Mentorianer sind an Bord, Bart?«

»Nur drei. Zwei im Kommandoraum, eine medizinische Assistentin.«

»Gut. Das bedeutet, sie führen keine großartigen Spezialgeräte mit. Nun, ich nehme an, du hast auf der Swiftwing alles über Lharillis erfahren?«

»Nicht unter dieser Bezeichnung.«

»Euer nächster Landepunkt. Der Planetoid der kleinen Zwillingssonne.«

»Hm. Ja.«

»Bist du informiert? Nein, ich sehe schon, daß du nicht Bescheid weißt. Also, dieser Planetoid ist der allererste Ort, dem die Lhari in unserer Galaxis einen Besuch abstatteten, und zwar noch bevor sie auf die Mentorianer trafen. Allerdings haben sie dort keinen Raumhafen errichtet. Der Planetoid ist vollkommen unbewohnt; er besteht nur aus blankem Felsgestein. Es ist ein Inferno des Lichts, erhellt von dieser kleinen blau-weißen Sonne, und aus dem Grunde sind sie so gern dort.

Sie fühlen sich da wie zu Hause. Zunächst wollten sie dort eine Niederlassung gründen, doch als sich herausstellte, daß die inneren Planeten des Antares bevölkert waren, errichteten sie den Raumhafen auf unserem Planeten, weil er bessere Handelsmöglichkeiten erschloß.« Montano verzog die Mundwinkel. »Außerdem fühlen sich menschliche Wesen auf dem kleinen Felsbrocken nicht wohl, und den Lhari würde nie einfallen, ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten!« Sein Gesicht offenbarte heftigen, finsteren Groll.

»Nun, um es kurz zu machen, die Lhari waren im Begriff, diese kleine Welt für sich zu beanspruchen, doch wir drohten ihnen in diesem Fall mit Krieg. Wir überlassen ihnen nichts, das wir nicht überwachen und inspizieren können! Wir haben den gesamten Planetoiden untersucht, um sicherzugehen, daß er keine kostbaren Mineralien barg, und schließlich konnten sie ihn jeweils für ein Jahrhundert pachten. Mit Hilfe von robotergesteuerten Maschinen fördern sie dort ein puderförmiges Gleitmittel, wirksamer als Graphit. Niemand ist ständig dort beschäftigt, aber immer, wenn eines ihrer Raumschiffe das Sonnensystem anfliegt, machen sie da, wo es außer einem Landeplatz, einigen Betonbunkern mit Fördergerät und einer Art Denkmal nichts gibt, eine Zwischenlandung. Sie erfolgt jedesmal, bevor sie das Sonnensystem verlassen; und hier beginnt deine Aufgabe.«

»Meine?«

»Nicht allein deine«, erklärte Montano, »aber du befindest dich ja an Bord des Raumschiffs. Es muß dir irgendwie gelingen, ihr Strahlungsmeßgerät außer Betrieb zu setzen.«

Er wandte sich um und holte einen Schaltplan aus einer Schublade, den er auf dem Tisch ausbreitete. »Das einfachste wäre, diese beiden Verbindungen zu durchtrennen«, meinte er. »Weißt du, Bart, wenn die Lhari landen, wird nämlich eines unserer Raumschiffe bereits heimlich auf sie warten.«

»Und wenn ich das Strahlenmeßgerät außer Betrieb setze – «

»Dann werden sie nicht in der Lage sein, unsere Ankunft und Landung zu entdecken. Wir planen, das Lhari-Raumschiff zu kapern. Es müssen sich sämtliche Daten über den Antriebs-Katalysator an Bord befinden, insbesondere, was den Fundort betrifft.«

Bart pfiff durch die Zähne. »Aber was ist mit der Besatzung? Werden sie sich nicht verteidigen? Wir kommen gegen die Lhari nicht an, mit ihren Energon-Strahlenpistolen!«

Das Gesicht Montanos war völlig unbewegt. »Wir haben gar nicht die Absicht, gegen sie zu kämpfen. Einen solchen Kampf würden wir todsicher verlieren, zumal unsere vergleichbaren Waffen bei weitem nicht so wirkungsvoll sind«, sagte er. »Wir werden nicht einmal einen Versuch in dieser Richtung unternehmen.«

Er übergab Bart einen schmalen blaßgelben Plastikstreifen.

»Nimm das an dich«, forderte er. »Paß auf, daß es die Mentorianer nicht sehen; bei den Lhari wäre es nicht so schlimm, sie können ja die Farbe nicht erkennen. Laß den Streifen nicht aus den Augen. Wenn er sich orange verfärbt, solltest du in Deckung gehen.«

»Was ist das?«

»Ein strahlenempfindlicher Filmstreifen«, erklärte Montano. »Er ist genauso empfänglich für Strahlung wie dein eigener Körper. Sobald er sich orange verfärbt, nimmt er Strahlung auf, und sollte die Färbung zu Rot überwechseln – nun, das wirst du wohl nicht mehr erleben. Falls du dich an Bord aufhältst, sieh zu, daß du den Kommandoraum erreichst; er ist mit Blei verkleidet, und du bist dort sicher. Draußen gewähren dir die Betonbunker Schutz, in denen sie das Fördergerät aufbewahren. Aber achte darauf, daß du in Sicherheit bist, bevor der Streifen einen tiefdunklen Orangeton annimmt – denn kurze Zeit später werden alle Lhari mausetot sein.«

Ungläubig ließ Bart den Plastikstreifen aus seinen Fingern gleiten und starrte in Montanos ruhiges, grausames Gesicht. »Ihr wollt sie töten? Eine ganze Schiffsbesatzung töten? Das ist ja – das ist – « Ihm fehlten die Worte; er schüttelte nur hilflos den Kopf. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«

»Ich hab dir doch gleich gesagt, daß er sich schon zu lange unter den Lhari aufgehalten hat«, warf Hedrick ein.

»Halt den Mund!« fuhr ihn Montano an. »Ich sagte euch doch, der ist noch jung, er versteht nicht!« Er kam zu Bart herüber. »Hör mal, ist dir nicht klar, daß es sich um KRIEG handelt?«

»Wir führen keinen Krieg gegen die Lhari! Wir haben mit ihnen einen Handels- und Friedensvertrag!« protestierte Bart wütend.

»Ja, der Weltenbund hat solche Verträge – weil sie sonst nichts zu unternehmen wagen!« rief Montano zornig. »Aber es gibt einige unter uns, die sich etwas trauen, die nicht einfach dasitzen und zusehen, wie sie der Menschheit das Wasser abgraben und sie unterdrücken. Wir befinden uns im Krieg, Bart, ob du willst oder nicht, und zwar in einem Krieg um wirtschaftliches Überleben. Du bezweifelst doch wohl nicht, daß die Lhari nicht zögern würden, jeden einzelnen von uns – oder auch alle – umzubringen, falls wir ihr Raumfahrt-Monopol angriffen?«

Bart zauderte, und Montano schlug in die Bresche.

»Ich nehme an, du weißt Bescheid über den jungen Briscoe? Wie ihn die Lhari gejagt haben – «

»Aber wie sollen wir wissen, daß es ein organisiertes Verbrechen war und nicht die Tat eines Fanatikers?« wandte Bart plötzlich ein. Er erinnerte sich wieder an den Tod des alten Briscoe, wurde erneut von Entsetzen geschüttelt, aber er sah zum ersten Mal, daß Briscoe seinen eigenen Tod provoziert hatte. Er hatte die Lhari tätlich angegriffen, hatte sie bedroht und quasi genötigt, ihn in Notwehr abzuschießen.

»Ich habe an Bord monatelang mit ihnen zu tun gehabt. Sie sind keine mutwilligen Mörder!«

Raynor Zwei meinte in spöttischem Top: »Scheint so, als hätten ihn die Mentorianer auch in der Mangel gehabt!«

Hedrick murrte: »Weshalb vergeuden wir unsere Zeit, um mit diesem Grünschnabel zu diskutieren? Hör gut zu, kleiner Steele: du tust das, was dir gesagt wird, wenn du nicht den Rest deines Lebens als Lhari herumlaufen willst. Wer hat dir das Recht zugestanden, unsere Anordnung in Frage zu stellen oder zu kritisieren?«

»Seid still, ihr beiden«, befahl Montano. »Stimmt, er ist noch jung – aber er ist zuverlässig.« Seine Stimme verbreitete einen einnehmenden Charme, dem man sich nur schwer entziehen konnte. Er kam und legte Bart den Arm um die Schulter. »Bart, ich weiß, wie du dich fühlst. Du hast dich in ihren Reihen aufgehalten, sie erscheinen dir wie Kameraden oder Freunde. Das konnte nur geschehen, weil sie glauben, du seist einer der ihren. Du hast doch Vertrauen zu uns, oder? Du bist Rupert Steeles Sohn, und du wirst den Plänen deines Vaters folgen, nicht wahr?« Die überzeugende, freundliche Stimme wurde sanft. »Bart, zerstöre sein Lebenswerk nicht. Wenn du uns jetzt enttäuschst, gibt es vielleicht jahrelang keine neue Möglichkeit, vielleicht nicht mal mehr, solange wir leben!«

»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, bekannte Bart hilflos und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Eine ganze Mannschaft umbringen – unschuldige Handelsleute! Den kahlköpfigen alten Rugel, den strengen Vorongil, seinen Freund Ringg -

Oder stimmte es, was Montana sagte – daß sie kaum zögern würden, sie ihrerseits zu töten…

»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, wiederholte er, und Montano beschwichtigte ihn sanft: »Es ist schwer für dich. Aber hab Vertrauen zu uns, Bart. Du gehörst doch auch zur menschlichen Rasse, du bist auch ein Mensch.« Sein Arm umfaßte Barts Schulter.

Bart sah sich um nach den Männern, die hier im Zimmer auf seine Entscheidung warteten. Ja, er war ein Mensch…

Montano erkannte den Moment, als er wankte. Er sprach ganz leise, beinahe zärtlich. »Du hattest die Möglichkeit, das zu tun, was uns die Lhari vorenthalten. Du hast das All zwischen den Sternen gesehen. Dein Vater wollte uns allen diesen Reichtum erschließen, aber er kam nicht mehr dazu. Möchtest du es nicht für deine Rasse tun? Du kannst dich doch nicht mit den Lhari gegen die Menschen verbünden, oder? Brächte das der Sohn eines Rupert Steele wirklich fertig?«

Bart schloß die Augen. Der Kampf in seinem Innern war unerträglich, doch als er aufblickte, spürte er, daß sich sein Sinn gewandelt hatte. Nein, er konnte nicht gegen seine eigene Rasse Partei ergreifen.

»Gut, ich mach’s«, erklärte er schließlich mit belegter Stimme.

Als er eine weitere halbe Stunde später Montanos Haus verließ, kannte er alle Einzelheiten des Plans, er wußte, wo sich der Apparat befand, den er manipulieren sollte, und er trug ein Paar besonders dunkler Kontaktlinsen bei sich, die ihm Montano übergeben hatte. »Es herrschen infernalische Lichtverhältnisse dort draußen«, hatte ihn Montano gewarnt. »Ich weiß, daß du zur Hälfte Mentorianer bist, doch sie lassen nicht mal ihre Mentorianer von Bord. Sie sind stolz darauf, behaupten zu können, daß kein menschlicher Fuß jemals Lharillis betreten hat – jedenfalls bilden sie sich das ein! Bevor sie landen, versetzen sie ihre Mentorianer in Kälteschlaf. Du solltest die Linsen auf alle Fälle tragen.«

Als er zum Raumhafen zurückkam, winkte ihn Ringg zu sich heran. »He, wo bist du denn gewesen? Vorongil hat uns allen dienstfrei gegeben, und ich habe den ganzen Raumhafen nach dir abgesucht! Wenn wir nicht zusammenhalten auf einem Planeten, der überquillt vor Fremdlingen, wie sollen wir uns da behaupten?«

»Ich hatte zu tun«, informierte ihn Bart knapp.

»Ich weiß, du warst bei dem alten Freund deines Vaters. Aber so lange? Egal, komm jetzt, es ist richtig was los!« drängte Ringg. »Ich wollte nicht gehen ohne dich – wozu hat man sonst Freunde?«

Bart schob sich wortlos an ihm vorbei. »Ich gehe nicht runter in den Hafen«, sagte er, Ringgs erstaunten Blick ignorierend, und betrat die Laufplanke der Swiftwing. In seiner Kabine warf er sich auf die Koje, im Zwiespalt mit sich selbst.

Ringg war sein Freund. Ringg mochte ihn! Auch er vergaß oft für längere Zeit, daß er nicht mit einem alten Freund aus seinen Schülertagen – wie Tom – zusammen war. Wenn er tat, was Montano von ihm forderte, würde Ringg sterben!

Er bemerkte, daß Ringg ihm gefolgt war und jetzt in der Kabinentür stand und ihn anstarrte. »Bartol, ist irgendwas nicht in Ordnung? Kann ich dir helfen? Hast du wieder eine schlechte Nachricht bekommen?«

Barts angespannte Nerven hielten es nicht mehr aus – er explodierte. »Ja, du kannst mir helfen! Und zwar, indem du aufhörst, mir nachzulaufen, und mich zur Abwechslung mal in Frieden läßt!«

Ringg trat einen Schritt zurück. Dann sagte er tonlos: »Wie du willst, Bartol. Entschuldige.« Mit hoch erhobenem weißen Schopf entfernte er sich anschließend lautlos. Barts Entschluß erhärtete sich. Die Einsamkeit hatte ihn die Dinge in einem seltsamen Licht sehen lassen – wie hatte er jemanden wie Ringg, einen Lhari, eine dieser Mißgeburten, die schuld waren am Tod seines Vaters, als Freund betrachten können! Wenn sie seine wahre Identität kannten, würden sie sich auch gegen ihn wenden, ihn verfolgen, wie sie Briscoe und seinen Vater verfolgt hatten, von der Erde bis nach Prokyon! Damit schob er seine Skrupel beiseite. Seine Entscheidung war getroffen.

Sollten sie doch alle sterben – was ging es ihn an! Er war ein Mensch, das allein zählte. Und er würde seiner eigenen Rasse die Treue halten.

Doch obwohl er glaubte, den Konflikt in seinem Innern gelöst zu haben, stellte er fest, daß er ihn ständig beschäftigte, ob er nun in seiner Koje lag oder von der Kuppel aus die Sterne beobachtete, während sie sich mit normaler Lichtgeschwindigkeit durch das Planetensystem des Antares auf die Zwillingssonne und den winzigen Planeten Lharillis zubewegten.

Ich habe die Macht, das hier allen Menschen zu vermitteln…

Sollten ihm da ein paar Lhari im Weg stehen?

Grübelnd lag er in seiner Koje und starrte auf den gelben Strahlungsindikator. Solltest du versagen, dann werden wir es kaum mehr erleben. Er mußte sich wieder mit den kleinen Dingen befassen, mit den kleinen Schiffen, die unbedeutendes Frachtgut zwischen unbedeutenden Planeten hin- und hertransportierten, während die Lhari die ganze Pracht der Sterne für sich beanspruchten. Sollte ihm aber Erfolg beschieden sein, dann konnte sich seine Gesellschaft WEGAPLANET im All ausbreiten, zum großartigen Gedenken an Rupert Steele -

Er brütete dumpf vor sich hin, sprach kaum noch mit Ringg, hüllte sich während der Dienstsrunden vor dem Computer in Schweigen. Eines Tages wurde er zu Vorongil gerufen.

»Bartol«, begann er in freundlichem Ton, »du warst immer gut mit Ringg befreundet, und ich hoffe, du bist ihm jetzt nicht böse. Er macht sich Sorgen wegen dir – sagt, daß du die ganze Zeit in deiner Koje verbringst und ihn nur noch anknurrst. Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Weißschopf? Manchmal fällt es einem Älteren leicht, Probleme zu lösen, die einen Jüngeren vielleicht erdrücken würden. Möchtest du darüber reden?«

Es klang so besorgt und so väterlich – das Wort erfüllte Bart mit hysterischer Heiterkeit –, daß er den Drang verspürte, unsinnig loszulachen und loszuheulen. Statt dessen murmelte er nur: »Ringg sollte sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.«

»Ganz so ist das nicht«, wandte Vorongil ein. »Sieh mal, die Swiftwing ist eine Welt für sich, und dazu noch eine kleine, junger Mann. Wenn nur ein einziges Wesen in dieser Welt unglücklich ist, sind alle betroffen. Kennst du die Schriften von Mesarkin von Khaz? Und krümmte sich im Schopf meines Bruders nur ein einziges Haar, wie könnte ich unbesorgt schlafen?«

Bart fühlte sich von einem absurden, schmerzhaften Impuls getrieben, Vorongil die ganze unglaubliche Wahrheit zu gestehen und an das Verständnis des alten Captains zu appellieren. Und was dann? Er brauchte nicht aufzugeben. Er war Mentorianer und konnte bei ihnen arbeiten… -

Aber die Angst machte ihn stumm. Angenommen, sie gingen auf ihn los? Er war allein, ein einzelnes, kleines Menschenwesen auf einem Raumschiff voller Lhari, und sein ganzes Leben lang hatte er nichts als Vorurteile gehört. Seine Mutter hatte die Lhari gemocht und ihnen vertraut – aber sie als Mentorianerin fiel ja in die Kategorie der besonderen Lhari-Favoriten. Nein, es blieb ihm keine Wahl.

Aber konnte er Vorongil einfach sterben lassen?

Er mußte den Anordnungen Montanos Folge leisten; es war seine einzige Chance, sein menschliches Aussehen wiederzuerlangen…

Vorongil sah ihn mit tief gefurchter Stirn an. Bart murmelte: »Es ist nichts besonders Schlimmes, Ehrwürdiger Kahlkopf. Ich habe auf Antares schlechte Nachrichten erhalten.«

»Dann hast du vermutlich Heimweh«, meinte Vorongil. »Nun, es wird nicht mehr lange dauern. Nur noch Lharillis, dann der große Sprung, und dann befinden wir uns bereits wieder in bekannten Gefilden.«

Der Glanz der Zwillingssonne wurde immer stärker, und damit wuchsen auch Barts Angst und seine Bedenken. Bis jetzt hatte sich noch keine Möglichkeit geboten, das Strahlungsmeßgerät außer Betrieb zu setzen. Manchmal, in schlaflosen Nächten, kam es ihm so vor, als sei das der beste Weg – einfach alles laufen lassen. Doch in diesem Fall würden die Lhari Montanos Raumschiff entdecken und Montano mitsamt seinen Leuten töten -

Glaubte er das tatsächlich?

Es blieb ihm nichts anderes übrig. Nur auf diese Weise war sein Verhalten zu rechtfertigen.

Das Strahlenmeßgerät befand sich hinter einer Wandverkleidung im Kommandoraum. Bart lag nächtelang wach und überlegte, wie er dort unauffällig herankommen könnte. Nur selten war er einmal für mehr als ein bis zwei Minuten allein. Fast wünschte er, daß sich ihm keine Gelegenheit bieten würde; dann wären so viele Probleme gelöst.

Und dann kam die Chance – wie so oft, wenn man sie nicht mehr benötigt. Der Zweite Offizier, verantwortlich für den Dienstplan auf Routineflügen innerhalb eines Planetensystems, kam auf ihn zu und sagte: »Bartol, der alte Rugel ist krank; er kann kaum auf den Beinen stehen. Meinst du, daß du die Nachtschicht allein übernehmen kannst, wenn ich ab und zu hereinschaue und dir zur Hand gehe?«

»Ich glaube schon«, erwiderte Bart und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Der Zweite Offizier verbrachte normalerweise die Hälfte seiner Dienstzeit im Kommandoraum, in dem sie sich jetzt befanden, und die andere Hälfte unten auf dem Wartungsdeck. Er wechselte im Turnus von etwa fünfundvierzig Minuten das Revier.

Bart kontrollierte die Zeitabstände zweimal mit der Uhr. Als der Zweite Offizier zum dritten Mal abwesend war, löste er die Wandverkleidung, lokalisierte die Drähte – und zögerte dann. Er wagte nicht, sie so mir nichts, dir nichts zu kappen. Es bestand die Möglichkeit, daß es jemandem auffiel, obwohl der Strahlungsmesser nur innerhalb der Planetenzone verwendet wurde; draußen im All bediente man sich eines Analysators für kosmische Strahlen.

Er lockerte einen der Drähte und scheuerte den zweiten mit einer seiner scharfen Klauen so weit durch, bis er nur noch notdürftig zusammenhielt und bei der geringsten Erschütterung zerreißen würde, und zog noch an einem weiteren, bis er keinen vollen Kontakt mehr hatte. Er nahm an, daß erst dann mit seinem Ausfall zu rechnen war, wenn das Gerät eingeschaltet wurde. Er brachte die Verkleidung wieder an und blies etwas Staub darüber; bei der Rückkehr des Zweiten Offiziers war er wieder an seinem Platz.

Während der Antares in der Sichtluke auf sie zustürzte, machte er sich Gedanken um die Mentorianer. Sie befänden sich zum kritischen Zeitpunkt im Kaltschlaf, vermutlich in einem sicheren Bereich des Raumschiffs, andernfalls hätte Montano bestimmt Vorkehrungen für sie getroffen. Trotzdem hätte er gern einen Weg gefunden, um Meta zu warnen. Er hatte ihr den Umhang in die Kabine gebracht, wobei er ihre Abwesenheit abgewartet hatte; er war von der Überlegung ausgegangen, daß er sie und auch sich selbst in Gefahr bringen würde, falls man sie miteinander sprechen sah. Und doch sehnte er sich nach einem Gespräch mit ihr. Wenn er ihr doch alles erzählen könnte!

Aber sie war ja Mentorianerin – und für ihn tabu.

Der Tag, an dem sie in das Planetenfeld des Lharillis einflogen, war für ihn dienstfrei, doch als er kurz vor der letzten Bremsphase seinen Dienst antrat, wußte er sogleich, daß der Defekt im Strahlungsmeßgerät entdeckt worden war. Die Wandverkleidung hing herab, die freigelegten Drähte waren herausgezogen worden, und Ringg stand dem alten Rugel gegenüber und brüllte:

»Hör mir mal zu, Kahlkopf, ich kann es nicht leiden, wenn man mir Pfuscherei oder oberflächliche Arbeit vorwirft! Ich sage dir doch, daß ich diese Drähte erst vor fünf Schichten überprüft habe, und da war alles vollkommen in Ordnung. Wer hat hier überhaupt das Recht, die Verkleidung wegzunehmen?«

»Nicht doch«, meinte der alte Rugel friedfertig, »ich werfe dir doch nichts weiter vor als vielleicht ein wenig Unachtsamkeit, mein junge. Du stocherst überall mit deinen piepsenden Instrumenten und dem übrigen Zeug herum, da hast du möglicherweise ein paar Drähte losgerissen.«

»Genau das habe ich nicht!« tobte Ringg.

»Aber außer dir öffnet doch keiner die Verkleidung!«

Ringg drehte sich mit einem Ruck zu Bart um. »Hast du schon jemals solche Frechheit erlebt wie bei diesem Alten? Ich habe die Aufgabe, die Sachen zu reparieren, nicht, sie kaputtzumachen!«

Bart bedachte, daß er ja nichts von der ganzen Affäre wissen durfte. »Was ist eigentlich los?«

»Na, dieses verflixte Strahlungsmeßgerät mit seinem Ballendraht«, knurrte Rugel, »und unser Ringg ist dafür verantwortlich – «

»Einen Dreck bin ich! Ich hab alles überprüft!«

Rugel meinte beschwichtigend: »Ist auch egal. Wir können das nach der Landung reparieren. Auf diesem Planeten erwarten uns ja keine herumschwirrenden Radio-Isotope. Wir gehen auf Lharillis runter, wenn ich euch daran erinnern darf. Wenn es sich um Steuerungsgeräte handeln würde, die wir bei der Landung einsetzen müßten, dann – «

Aber Ringg wollte sich nicht beschwichtigen lassen. »Es geht hier um meinen Ruf und um meine fachliche Kompetenz!«

»Reg dich doch nicht auf«, sagte Bart. »Wenn Rugel nicht sauer ist, dann ist doch alles andere unwichtig. Du hast es vermutlich bei der Kontrolle übersehen, und es hat sich Rost angesetzt, oder so.«

»Nein«, erwiderte Ringg aufsässig, »ich habe es in meinem Tagesnachweis notiert. Ich schätze, daß sich jemand hier an der Verkleidung zu schaffen gemacht hat, den es nichts anging, und aus Versehen die Drähte herausgezogen hat; und dann war dieser Jemand zu feige, um es zuzugeben und für entsprechende Reparatur zu sorgen, wie das unter anständigen Leuten – üblich ist.«

»Nein, so kann es auch nicht gewesen sein«, widersprach Rugel verärgert. »Denn entweder ist Vorongil in der Nähe oder ich, rund um die Uhr, und ich schwöre dir, daß niemand die Verkleidung geöffnet haben kann, ohne daß es einer von uns beiden bemerkte.«

»Und Vorongil entgeht nichts, das ist ganz sicher«, meinte der Zweite Offizier versöhnlich. »Dir auch nicht, Rugel. Bartol war zwar neulich nachts allein hier, aber weshalb sollte ihn wohl die Wandverkleidung interessieren?«

Bart spürte, wie es ihm eisig den Rücken herunterlief, doch Ringg wandte sich zu ihm.

»Sag, Bart – warst du’s? Hast du die Verkleidung vielleicht aus Versehen gelöst, weil du etwas anderes dahinter vermutet hattest? Wenn ja, so würde es dir nicht vom Lohn abgezogen, aber es fällt in meinen Arbeitsbereich und bringt mich in Mißkredit. Sollte es so gewesen sein, dann gibt’s einfach zu – hm? Du hattest ganz allein Dienst und wolltest den Zweiten Offizier vielleicht nicht extra fragen?«

»Ganz und gar nicht«, gab Bart knallhart zurück. »Wieso sollte ich etwas behaupten, nur, weil du nicht fähig bist zuzugeben, daß du einmal einen Fehler gemacht hast?«

»Dagegen verwehre ich mich!« Ringg trat wutentbrannt auf ihn zu, mit drohend erhobenen Händen. »Ich habe mir ja viel von dir gefallen lassen, aber wenn du damit anfängst, meine Kompetenz in Frage zu stellen – « er wollte Bart an der Schulter packen, aber Bart wich ihm aus und ballte die Fäuste. Als sich seine Krallen schmerzhaft in seine Handflächen gruben, wurde ihm bewußt, wo er sich befand – und genau in diesem Augenblick zerkratzten ihm Ringgs ausgefahrene Krallen die Wange. In einer reinen Reflexbewegung schossen auch seine eigenen Krallen heraus. Das ist kein Faustkampf, sondern ein Kampf mit Krallen, fuhr es ihm durch den Kopf, während sie sich aufeinanderstürzten. Er spürte, wie seine Krallen durch Ringgs Haut fuhren, sah eine dünne weiße Linie auf seinem Unterarm, aus der unmittelbar danach hellrotes Blut quoll. Dann hielten ihn Rugels Arme zurück, und der Zweite Offizier ergriff den um sich schlagenden Ringg. Vorongil kam hereingestürzt und erfaßte die Szene mit einem einzigen mörderischen Blick.

Zum ersten Mal erlebte Bart einen von Vorongils berühmten Zornesausbrüchen. Das Donnerwetter, das über sie beide niederprasselte, beanspruchte seine Lhari-Kenntnisse bis zum äußersten – er war froh, daß er nicht jedes Wort verstand. Als alles vorüber war, wäre es ihm lieber gewesen, Ringgs Klauen hätten ihn bis auf die Knochen zerrissen, als daß Vorongil sie als halbflügge, haarlose Küken bezeichnete, die sich herumbalgten wie die Kinder, statt Mannesarbeit zu leisten.

»Nun, es hat also jemand etwas übersehen oder jemand etwas aus Versehen beschädigt – nein, ich will kein Wort mehr hören, von beiden nicht«, bestimmte er, als Ringg protestierend seinen Kopf hob. »Es ist mir egal, wer was getan hat! Vor zwanzig Jahren hätte ich euch dafür noch auspeitschen lassen! Und ich warne euch: falls es noch mehr solcher Faxen auf diesem Raumschiff geben sollte, dann kann der Anstifter seine Krallen an mir erproben!« Er sah sehr bösartig und gefährlich aus. »Ich hätte wahrlich etwas anderes von euch erwartet! Und nun seht zu, daß ihr nach unten verschwindet, ihr weißschöpfigen Heißsporne! Und laßt euch vor der Landung ja nicht wieder blicken!«

Als sie den Gang hinunterliefen, wandte sich Ringg Bart zu; auf seinem Gesicht spiegelte sich Versöhnungsbereitschaft und Kummer. Doch Bart sah bewußt an ihm vorbei. Auch er hätte gern die Sache zwischen sich und Ringg in Ordnung gebracht, aber es erleichterte seinen Auftrag, wenn er nicht noch Freundschaft heucheln mußte.

Es würde ja sowieso nicht mehr lange dauern…

Die Lichtintensität nahm zu. Bart hatte so etwas noch nie erlebt. Es war eine Erleichterung für ihn, sich davonzustehlen und die dunklen Kontaktlinsen einzusetzen. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigte ihm, daß sie seine Augen riesig erscheinen ließen, mit scheinbar erweiterten Pupillen. Er hoffte nur, daß keiner der Lhari etwas bemerken würde. Dann kam ihm der kaltblütige Gedanke, daß keiner ihm mehr etwas anhaben konnte, weil sie alle bald sterben würden. Sein Arm schmerzte. Mit Ringg sprach er während der gesamten Bremsphase kein einziges Wort.

Nach der Landung wurden alle Besatzungsmitglieder über Lautsprecher zur Ausstiegsluke beordert. Bart blieb einen Augenblick hinter Ringg zurück, um den Teststreifen an seinem Cape zu befestigen. Wieder drohte ihn ein Anflug von Furcht und ein alptraumhaftes Einsamkeitsgefühl sowie der Ekel vor seiner Lhari-Gestalt zu überwältigen. Er sehnte sich schmerzlich nach seinem eigenen, vertrauten Gesicht. Jetzt hinauszutreten in den Gang voller Lhari, die sich versammelt hatten, um das Denkmal ihrer stolzen Rasse zu besuchen, das war mehr, als er ertragen konnte.

Und doch gelang es ihm durch äußerste Willensanstrengung, sich hinter Ringg in die Reihe zu schieben. Der junge Mann, gut aufgelegt wie stets, murmelte respektlos: »Ich sehe, daß der alte Kahlkopf mit uns hinausmarschieren wird – und auch der Captain!«

Die Luke wurde geöffnet. Trotz der langen Gewöhnungszeit, die er hinter sich hatte, kniff Bart einen Moment lang die Augen zusammen, als sie von dem grellen blau-weißen Licht überflutet wurden. Kurz danach, beim vorsichtigen öffnen seiner schrägen Lider, stellte er jedoch fest, daß er ganz normal sehen konnte.

Eine gespenstisch anmutende, verlassene Landschaft erstreckte sich vor ihnen. Es war nur gleißender Sand zu sehen, durchsetzt mit eigentümlich getönten Gesteinsbrocken, angehäuft in verwirrendem Durcheinander. Zumindest schien es so. Dann bemerkte Bart allerdings, daß sie in einem sonderbaren, jedoch deutlich erkennbaren Muster angeordnet waren; sie zeigten stumpfe und polierte Flächen im Wechsel. Der alte Rugel fing seinen erstaunten Blick auf.

»Noch nie hier gewesen?«

»Nein. Das Raumschiff, auf dem ich angeheuert hatte, kam aus der anderen Ecke.«

»Ach ja, stimmt. Du hast ja auf der Polaris-Linie gearbeitet. Also, das hier sind keine echten Felsbrocken, sondern eine Art lebender Wesen. Die Kristalle leben; ihre stumpfe Seite besteht aus Flechten, die so etwas Ähnliches wie Chlorophyll enthalten und die damit ihre Nahrung aus der Luft und dem Sonnenlicht beziehen können. Sie leben mit den Felsen in Symbiose, und sie sind auch mit einer bestimmten Art von Intelligenz ausgestattet, die sich jedoch glücklicherweise weder gegen uns noch gegen unsere Förderautomaten wendet. Allerdings finden wir jedesmal neue Flechten vor, die mit dem Beton unserer Bunker eine Symbiose eingegangen sind.«

»Und jedesmal«, warf Ringg aufgeräumt ein, »jedesmal muß einer – gewöhnlich ich – das Zeug runterkratzen und den Anstrich erneuern. Vielleicht finde ich eines Tages eine Farbe, deren Geschmack die Flechten nicht mögen!«

»Wirst du mit Ringg auf Entdeckungstour gehen?« fragte Rugel. Ringg, der wie stets dazu tendierte, Vergangenes zu vergessen, erwiderte grinsend: »Na klar!« Bart konnte ihm nicht ins Gesicht sehen.

Denk daran, Bart Steele, daß sich seine Freundlichkeit nicht auf dich bezieht, sondern auf einen Lhari namens Bartol!

Du Judas! Läßt ihn in den Tod gehen!

Vorongil blieb bei ihnen stehen und sagte: »Du bist zum ersten Mal hier, Bartol? Möchtest du mich zum Denkmal begleiten? Die Maschinen kannst du auf dem Rückweg bestaunen.«

Erleichtert, daß er nicht mit Ringg gehen brauchte, gesellte er sich zum Captain und lief neben ihm her. Sie entfernten sich schweigend von der übrigen Besatzung, folgten dem ebenen Pflasterweg.

»Die Kristallwesen haben diese Straße geschaffen«, erklärte ihm Vorongil schließlich. »Ich glaube, sie können ein bißchen Gedanken lesen. Hier war einst eine sehr unwegsame Stein wüste, und wir mußten uns immer sehr mühselig zu dem Mahnmal vorarbeiten. Der Rückweg war dann etwas einfacher. Eines Tages landete ein Raumschiff – nicht das unsrige –, und man fand diese wunderbar ebene Straße vor, die zum Monument führte. Die Flechten lassen den Stein übrigens immer unberührt; aber das hattest du ja alles schon in der Schule.«

Bart bestätigte das mit einem zurückhaltenden Kopfnicken, von dem er hoffte, daß es dem Benehmen eines jungen Lhari entsprach, der sich in Begleitung seines Captains befand. Er wünschte, Vorongil wäre nicht so nett zu ihm. »Aufgeregt, Bartol?«

»N-nein, Sir. Weshalb?«

»Deine Augen sehen ein bißchen komisch aus. Vermutlich ist es das Licht. Aber es wäre auch völlig in Ordnung, wenn du aufgeregt wärst. Ich selbst betrete nie diesen Planetoiden, ohne an Rhazon und seine Mannschaft auf ihrer langen Reise zu denken – die längste, die ein Lhari-Captain je unternommen hat. Du mußt bedenken, daß es sich um einen Blindflug in die Finsternis gehandelt hat, Bartol. Durch Leere und Finsternis, verflucht von seiner eigenen Bordbesatzung, weil er dieses Risiko eingegangen war. Nie zuvor hatte jemand intergalaktische Flüge unternommen. Man muß auch noch berücksichtigen, daß sie damals noch das alte Rechensystem verwendeten!« Er hielt inne. Bart bemerkte mit angehaltenem Atem: »Ganz schöne Leistung!« Der Indikationsstreifen präsentierte sich noch in beruhigendem Gelb.

»Ihr jungen Leute seid durch nichts mehr zu erschüttern«, sagte Vorongil. »Ich mache euch auch gar keinen Vorwurf – nachdem ihr euch nicht vorstellen könnt, wie es damals zuging. Ja, wir besaßen schon jahrhundertelange Erfahrung in der Raumfahrt. Aber neue Entwicklungen ließen auf sich warten. Und jetzt sieh doch nur, was daraus geworden ist! Und wie sie Rhazon verspotteten! Sie waren der Meinung, daß es sich bei irgendwelchen Rassen, denen er eventuell begegnen würde, doch nur um Monster handeln könne, bei denen jeder Kommunikationsversuch scheitern müsse! Und jetzt sind wir in der Lage, mit einer gesamten neuen Galaxis friedliche Handelsbeziehungen zu unterhalten, wir benutzen ein neues mathematisches System, das alle Unwägbarkeiten aus dem Bereich der Raumfahrt verbannt hat, wir haben unsere mentoriahischen Freunde und Verbündeten – « Er lächelte. »Denunziere mich nicht beim Hohen Rat; aber ich bin der Meinung, daß sie mehr Anerkennung verdienen, als ihnen die meisten Lhari zuerkennen. Unter uns gesagt, ich glaube, daß auch die Geschichte zu diesem Ergebnis kommen wird.«

Vorongil unterbrach sich. »Und hier ist das Monument.« In blaßblauem Sandstein stand es, hoch aufragend, zwischen kristallenen Säulen, als schlanke, imposant emporstrebende Stele, deren scharf gezeichnete Inschrift so stark mit dem Untergrund kontrastierte, daß sie für Lhari-Augen erkennbar wurde. Vorongil las die Worte in seiner melodischen Sprache laut vor:

Zum Dank an die Wächter der Ewigen Nacht errichte ich, Rhazon von Nedrun, an dieser Stelle ein Denkmal der Erinnerung. Hier betraten wir zuerst neue Welten. Wir wollen niemals mehr zaudern aus Furcht vor dem Unbekannten, sondern darauf vertrauen, daß der Schärfer aller Dinge für uns Lebende noch viele Überraschungen bereithält.

Leise wiederholte er die Worte. »Wir wollen niemals mehr zaudern aus Furcht vor dem Unbekannten«, murmelte er. »Dieser schreckliche blinde Sprung in die Finsternis! Ich bewundere Mut mehr als alles andere, Bartol. Wer hätte so etwas je gewagt? Bist du nicht stolz darauf, Lhari zu sein?«

Bart war tief bewegt gewesen, doch jetzt wurde er sich schlagartig wieder bewußt, wer er war und wozu er sich hier aufhielt. Aha, so war das also: nur ein Lhari hatte Mut! Das Leben hält viele Überraschungen für uns bereit, Cavtain, dachte er voller Ingrimm.

Er warf einen Blick auf den Plastikstreifen an seinem Ärmel, der sich gerade orange zu verfärben begann. Der Schreck fuhr ihm eiskalt in die Glieder. Er mußte hier weg, mußte in Deckung gehen!

Als er sich umschaute, wurde seine Angst beinahe verdrängt. »Captain, die Felsen! Sie bewegen sich!«

Vorongil meinte ungerührt: »Natürlich. Sie haben das so an sich, weißt du. Sie besitzen eine bestimmte Art von Intelligenz. Allerdings habe ich sie bis jetzt noch nie in Bewegung gesehen. Mir ist aber bekannt, daß sie nachts ihre Position verändern. Es würde mich interessieren, was da los ist.«

Die Felsen zogen sich zurück, wodurch sich der Weg verbreiterte und einen anderen Verlauf nahm. »Na, vielleicht verändern sie die Landschaft ein wenig. Ich kannte mal einen Captain, der behauptete, sie könnten Gedanken lesen.«

Bart beobachtete, wie sich der Streifen langsam und unerbittlich in der Farbe veränderte. Er mußte hier weg! Er verkrampfte sich vor Nervosität, wurde von Panikfäusten ergriffen, von nackter Todesangst. Irgendwo auf diesem Planeten trafen Montano und seine Leute Vorbereitungen, die tödlichen Strahlen freizusetzen…

Denk daran: wir werden ein Lhari-Raumschiff zu Studienzwecken haben, werden herausfinden, wie es angetrieben