Kapitel 6

 

»So, Bart, heute dürfen Sie sich anschauen«, versprach Raynor Drei.

Bart fühlte, wie sich ein Lächeln unter dem Verband ausbreitete, der sein Gesicht in einer dicken Schicht umhüllte. Auch seine Hände waren eingebunden, genauso wie sein gesamter Kopf, und es war ihm nicht gestattet worden, sich im Spiegel zu betrachten.

Die Verwandlung war erstaunlich schmerzlos erfolgt; vielleicht war sein Wohlbefinden auch darauf zurückzuführen, daß Raynor ihm irgendwelche Drogen verabreicht hatte. Er war sich da nicht ganz sicher, denn er hatte eine solche Menge von Pillen geschluckt – morgens, mittags und abends –, daß er den Überblick verloren hatte.

Die gravierendste Veränderung war aufgrund von Injektionen vonstatten gegangen, die seine Hautfarbe veränderten. Er mußte das Mittel weiterhin einnehmen, bis er das Versteckspiel nicht mehr nötig hatte. Ferner waren unbedeutende operative Eingriffe an Gesicht, Händen und Füßen vorgenommen worden.

»Sehen wir mal, ob Sie aufstehen und herumlaufen können«, meinte Raynor Drei. Bart kam der Aufforderung so tolpatschig nach, daß Raynor die Stirn runzelte. »Tut das weh?«

»Eigentlich nicht, ich habe nur das Gefühl, als würde ich hinken.«

»Das ist normal«, erwiderte Raynor. »Ich habe den Winkel der Achillessehne und den Muskel des Fußgewölbes geringfügig verändert. Beim Laufen tritt jetzt eine andere Muskelgruppe in Aktion. Bis diese Muskeln sich straffen, werden Sie ein bißchen Muskelkater haben, aber daran werden Sie sich gewöhnen. Können Sie mich richtig hören?«

»Das schon, aber ohne diese ganzen Verbände würde ich Sie vermutlich wesentlich besser verstehen«, erklärte Bart mit einer ungeduldigen Bewegung seiner verbundenen Hände in Richtung Kopf.

»Alles zu seiner Zeit. Haben Sie Probleme mit dem Atmen?«

»Nein, wieder nur wegen der Verbände.«

»Gut. Wissen Sie, nachdem ich die Form Ihrer Ohren und Ihrer Nasenlöcher verändert habe, hätte es leicht sein können, daß die Atemwege und das Gehör beeinträchtigt sind; das ist aber anscheinend nicht der Fall. Hören Sie, Bart, ich werde jetzt zunächst die Verbände von Ihren Händen entfernen. Setzen Sie sich hin.«

Bart setzte sich an die andere Seite des Tisches und streckte folgsam seine Hände aus. Raynor Prei forderte: »Schließen Sie Ihre Augen.«

»Ich möchte doch sehen – «

»Tun Sie, was ich Ihnen sage. Schließen Sie die Augen.«

»Ja, schon gut«, murrte Bart, machte aber die Augen zu und spürte, wie Raynors lange Finger sanft und geschickt an dem Verband nestelten. Er fühlte einen Luftzug auf seinem Handrücken.

»Bewegen Sie jeden Finger, den ich berühre.«

Bart spürte eine leichte Berührung auf jedem Finger, zunächst der Reihe nach, dann in unregelmäßiger Reihenfolge. Raynor ließ einen zufriedenen Seufzer hören und sagte: »In Ordnung. Also, nun atmen Sie tief durch – «

»Was hat das denn damit – «

»Atmen Sie tief durch«, wiederholte Raynor unbeeindruckt, »und danach öffnen Sie die Augen.«

Voller Ungedult holte Bart tief Luft, dann öffneten sich seine Lider. Aus seiner Kehle drang ein rauhes, stoßweises Japsen. Obwohl er durch Fotografien und auf andere Weise auf die Veränderungen vorbereitet worden war, brachte ihn der Schock beinahe um seinen Verstand. Vor ihm auf dem Tisch lagen seine Hände – doch es waren nicht seine Hände!

Die glatten, langen, feingliedrigen Finger waren von perlgrauer Farbe und endeten in weißlich-rosa Klauen, die sich sanft über die Fingerkuppen wölbten. Mit nervös über die Lippen fahrender Zunge bewegte Bart einen seiner Finger, und eine lange Kralle schoß heraus, wie bei einer Katze, und zog sich wieder zurück. Wieder schnappte er nach Luft. Er schluckte.

»Mein Gott!« Er bemerkte, daß die grauen Klauenhände zitterten. Er spürte eine eigenartige Schwäche.

»Hervorragende Arbeit, würde ich sagen«, kommentierte Raynor. »Passen Sie auf, daß Sie sich nicht damit kratzen. Trainieren Sie, kleine Gegenstände aufzuheben. Und üben Sie sich in der Lhari-Schrift.«

Bart machte seine Kehle frei. »Wie haben Sie das mit den Klauen gemacht?«

»Es war verhältnismäßig einfach.« Raynor strahlte. »Ich habe in die Matrix der Nägel Proteine injiziert, die das Wachstum ungeheuer beschleunigen, und dann, als die Nägel wuchsen, habe ich sie in ihre Form gebracht. Der komplizierte Teil war, sie mit den winzigen Muskeln zu verbinden, die das Einziehen der Krallen bewirken. Zum Glück ähneln sich die Hände der Menschen und der Lhari, sonst – nun, mir wäre es äußerst zuwider gewesen, einen Finger abnehmen oder eine Transplantation versuchen zu müssen.«

Bart bewegte prüfend seine Hände. Nachdem der Schock überwunden war, hatte er ein ganz normales Gefühl. Die Klauen waren ihm nicht halb soviel im Weg, wie er erwartet hatte, als er einen Stift aufnahm und mit seiner stumpfen Spitze ein paar dieser sonderbaren Punkte und keilförmigen Schriftzeichen machte, aus denen das Lhari-Alphabet bestand.

»Wenn Sie üben wollen, dann schreiben Sie das hier ab«, meinte Raynor Drei, und legte einen Plastik-Ordner vor ihn hin. Es handelte sich um einen Stoß Bordpapiere, in Lhari-Schrift gedruckt. Bart warf einen Bück darauf und stellte fest, daß sie ausgefertigt waren auf den Namen Bartol, Astrogator Erster Klasse.

»So heißen Sie jetzt; es ist der Name, den auch Ihr Vater benutzen wollte. Prägen Sie ihn sich ein, gewöhnen Sie sich an seinen Klang, üben Sie den Namenszug. Über Ihren Rang brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen – es ist einer der unteren, der in etwa unseren Ausbildungsrängen entspricht. Außerdem habe ich für Sie noch ein Trainingsband. Mein Bruder hat es organisiert; fragen Sie mich nicht, wie, und ihn fragen Sie am besten auch nicht! Vermutlich mit Hilfe einer kleinen Manipulation, die unter den Begriff ›Diebstahl‹ fallen könnte.«

»Wann werde ich mein Gesicht sehen?« fragte Bart.

»Wenn ich der Meinung bin, daß Sie den Schock überstehen«, erklärte Raynor freimütig. »Sie sind ja schon fast umgekippt, als ich Ihnen Ihre Hände gezeigt habe!«

Er forderte Bart auf, noch etwas im Zimmer herumzulaufen, bevor er behutsam die Binden abwickelte. Dann drehte er sich um und holte einen Spiegel aus seinem Arztkoffer, den er Bart entgegenhielt. »Hier. Aber nehmen Sie’s nicht so tragisch.«

Doch als Bart in den Spiegel sah, traf ihn kein überraschender Schock, sondern er verspürte nur überwältigende Neugier und eine Art Fremdheit, begleitet von einem enervierenden Veränderungsgefühl. Im Spiegel erblickte er das Gesicht eines Lhari.

Sein Haar war weiß gebleicht und flaumig, es fühlte sich an wie Federn. Er hatte eine grau-rosa Haut, und die Form seiner Augenlider war so verändert worden, daß seine Augen lang, schmal und schrägstehend erschienen. Die Nasenlöcher waren zu bloßen Schlitzen in einer spitzen, fein gemeißelten Nase reduziert, und er hatte ein eigenartiges Gefühl, als er seine Zunge über ungewohnt dünne Lippen gleiten ließ.

»Gott sei Dank mußte ich an Ihren Zähnen keine gravierenden Korrekturen vornehmen«, ließ sich Raynor Drei vernehmen. »Ich habe so wenig wie möglich daran gemacht – nur die Schneidezähne überkront, das war alles. Wenn Sie also Zahnschmerzen bekommen sollten, haben Sie Pech gehabt; denn Sie können es nicht riskieren, einen Lhari-Arzt zu konsultieren. Ich hätte noch mehr verändern können, aber dann hätten Sie später, wenn ich Sie wieder in einen Menschen verwandle, sehr sonderbar ausgesehen – vorausgesetzt, Sie überleben das Ganze«, meinte er mit Galgenhumor.

Bart sagte: »Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Aber – kann ich denn zurückverwandelt werden?«

Und wenn mich Raynor Drei aus seinem Gedächtnis löscht, wer wird dann die Operation durchführen –?

Die eisige Hand der Furcht, die sich nie völlig zurückgezogen hatte, griff wieder nach ihm. Raynor Drei, der seinen Gesichtsausdruck beobachtet hatte, sagte besänftigend: »Wir haben ein

weitverzweigtes Netz, Bart. Zu Ihrer eigenen Sicherheit darf ich Ihnen nicht zuviel erzählen. Aber wenn Sie auf Antares ankommen, wird man mit Ihnen Kontakt aufnehmen und Ihnen alles sagen, was Sie wissen müssen. Es sind keine Mentorianer, folglich brauchen Sie kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Diese Leute haben nicht einmal besonders viel mit den Lhari zu tun. Sie werden alles weitere veranlassen.«

Er hob Barts eigenartige Klauenhände in die Höhe und fügte hinzu: »Wie Sie sich sicher erinnern werden, habe ich Sie darauf vorbereitet, daß die Veränderungen nicht vollständig rückgängig zu machen sind. Ihre Hände werden immer ein bißchen eigentümlich aussehen; unter anderem mußte ich auch Ihre Finger verlängern. Nun, ich wollte eben erreichen, daß Sie unter den Lhari nicht auffallen. Wie die Dinge stehen, kann Sie nur eine Röntgenaufnahme verraten. Also passen Sie auf, daß Sie sich nichts brechen.«

Er händigte Bart ein kleines Päckchen aus. »Das ist das Instruktionsband der Lhari. Hören Sie es sich an, so oft Sie nur irgend können, und dann vernichten Sie es völlig; es wird am besten sein, wenn Sie es verbrennen und die Asche verschwinden lassen – bevor Sie sich hier absetzen. Sie können noch eine Woche hierbleiben. Es ist genug zu essen da. Die Swiftwing  soll in drei Tagen einlaufen und eine Woche im Raumhafen liegen. Lassen Sie unseren Leuten nach der Landung achtundvierzig Stunden Zeit – machen Sie Spaziergänge, Schreibübungen und so weiter; dann begeben Sie sich in die Stadt und heuern auf der Swiftwing an. Ich weiß noch nicht, wie wir es anstellen werden, aber ich garantiere Ihnen, daß auf dem Schiff der Posten eines Astrogators Erster Klasse frei sein wird. Ja dann – « Er erhob sich. »Ich kehre heute abend in die Stadt zurück und lösche meine Erinnerung an das hier aus.« Er hielt inne und musterte Bart eingehend.

»Wenn Sie mir also begegnen, Bart, dann halten Sie sich von mir fern und sprechen Sie mich nicht an. Ich werde Sie nämlich nicht von irgendeinem x-beliebigen Lhari unterscheiden können – und für Sie bin ich nur ein gewöhnlicher Mentorianer. Verstehen Sie? Von nun an sind Sie ganz allein auf sich gestellt – Bartol.«

»Mir fehlen die Worte«, meinte Bart stockend, »ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll – «

»Lassen Sie es bleiben«, erwiderte Raynor Drei bündig. »Ihr Vater war mir sympathisch, und ich glaube an seine Idee, sonst würde ich niemals solche Risiken eingehen. Also dann – « Er streckte ihm die Hand entgegen. »Das ist der unangenehme Teil, mein Junge. Ich bin in einer sehr sonderbaren Lage.« In seinem Gesicht zuckte es seltsam. »Ich bin Teil dieses Verbindungsnetzes zwischen den Sternen – doch mir ist nichts bekannt, was ich vorher getan habe; ich werde nie erfahren, was dabei herauskommt oder welche Rolle ich dabei gespielt habe. Es ist ein widersinniges Gefühl, hier zu stehen und Sie anzusehen und gleichzeitig zu wissen, daß ich mich nicht einmal an Sie erinnern werde.« Seine eigentümlichen goldglitzernden Augen blinzelten einmal rasch. »Leben Sie wohl, Bart. Und viel Glück!«

Tief bewegt, mit dem absonderlichen Gefühl, als würde er erneut Zeuge eines Todes, grausamer als der Briscoes, ergriff Bart Raynors Hand. Seine Einsamkeit war unbeschreiblich. Erfolglos bemühte er sich um Worte.

»Ja – « Raynors Mundwinkel hoben sich in einem verzerrten Lächeln. »Ich könnte Ihnen noch den ganzen Tag lang gute Ratschläge erteilen. Autsch! Passen Sie mit Ihren Krallen auf, mein Junge! Kein Wunder, daß sich die Lhari nicht die Hände schütteln!«

Er wandte sich abrupt um und verließ das Zimmer, verließ gleich darauf das Grundstück und damit Barts Leben, während Bart an dem gewölbten Fenster stand und hinuntersah auf seine unglaublichen Klauenhände, erfüllt von einem überwältigenden Gefühl der Verlassenheit, von einer Intensität, wie er sie noch niemals erlebt hatte, nicht einmal, als ihm Raynor vom Tod seines Vaters berichtete.

Er war nicht mehr der Weganer Bart Steele, sondern nur ein winziges Rädchen im Getriebe einer weitläufigen interstellaren Interessengruppe. Entschlossen griff er nach dem stumpfen Stift und begann, seine Lhari-Unterschrift zu üben.

Sechs Tage mußte er warten, die ihm wie sechs Ewigkeiten vorkamen. Wieder und wieder ließ er das Instruktionsband ablaufen und machte sich mit dem Vokabular eines Astrogators

Erster Klasse und den technischen Einzelheiten vertraut, auf die es sich bezog. Dank seines Studiums an der Raumfahrt-Akademie war die Angelegenheit bei weitem nicht so kompliziert, wie er befürchtet hatte. Immer wieder las er die Papiere durch, die ihn als Bartol, Astrogator Erster Klasse, auswiesen. Gefälscht, vermutlich. Oder gab es wirklich irgendwo einen Lhari namens Bartol? Wie aus den Unterlagen hervorging, hatte er nur auf der Polaris-Route gearbeitet, in einem entfernten Bereich der Galaxis. Das Risiko, daß ein Besatzungsmitglied der Swiftwing jemals in die Nähe dieses Gebiets gekommen war, war verschwindend gering; gegen derartig unwahrscheinliche Zufälle war man niemals gefeit.

Am Morgen des letzten Tages schlief er lange und unruhig, heimgesucht von Träumen über Briscoe, über seinen Vater und über Raynor Drei. Er nahm seine vorläufig letzte Mahlzeit als Angehöriger der menschlichen Rasse ein, verbrachte einen Teil des Tages damit, sämtliche Spuren seiner Anwesenheit in Raynors Haus zu tilgen, er warf seine Kleider in den Müll, verbrannte das Instruktionsband und zog schließlich das silbrig-seidene Trikot und das Cape an, Kleidungsstücke, die Raynor für ihn beschafft hatte. Inzwischen konnte er mit seinen Händen umgehen, als wäre er damit geboren; die Klauen kamen ihm sogar sehr praktisch und nützlich vor. Mit der größten Selbstverständlichkeit leistete er seine Unterschrift und notierte sich Auszüge aus den Anleitungen des Tonbands in Lhari-Schrift. Er entsann sich, irgendwo gelesen zu haben, daß sich das Alphabet der Lhari aus einer primitiven Schrift entwickelt hatte, bestehend aus kleinen Punkten und Keilschriftzeichen, alten Runen ähnelnd, die sie mit ihren Klauen direkt in Wachs oder Ton eingeritzt hatten.

In der Abenddämmerung schlüpfte ein junger Lhari unbeobachtet aus Raynors Landhaus. Ohne Aufsehen zu erregen, marschierte er bis zum Rand einer nahen Kleinstadt, wo er sich unters Volk mischte und ein Lufttaxi mit einem gleichgültigen menschlichen Fahrer anheuerte, um sich zum Raumflughafen fliegen zu lassen. Der Fahrer war ein wenig überrascht, einen Lhari als Passagier zu haben, was aber nach Barts Dafürhalten nicht verwunderlich war.

»Sie haben sich wohl ein bißchen auf unserem Planeten umgesehen, was?«

»Stimmt«, erwiderte Bart in der Raumsprache, wobei er sich nicht bemühte, den Lhari-Akzent zu imitieren. Von Raynor wußte er, daß nur wenige von ihnen das charakteristische schnarrende »r« und das zischende »s« sprachen; er hatte ihm von dem Versuch abgeraten, diese Laute nachzuahmen. Sprechen Sie einfach ganz natürlich. Es gibt Utari-Dialekte, genauso wie es Dialektformen der verschiedenen menschlichen Sprachen gibt. Und in der Raumsprache klingt sowieso alles ganz anders. »Ich war ein bißchen unterwegs.«

Der Fahrer des Lufttaxis blickte stirnrunzelnd hinunter auf seine Armaturen. Bart hatte das sonderbare Gefühl, als sei er kurz abgefertigt worden. Dann kam ihm jedoch zu Bewußtsein, daß er selbst den Lhari auch immer sehr wenig zu sagen hatte, wenn sie ihn ansprachen.

Er war ein Fremdling, ein Monster, und konnte nicht erwarten, weiterhin wie ein menschliches Wesen behandelt zu werden.

Als er dem Lufttaxi vor dem Raumhafen entstieg, mutete es ihn seltsam an, daß sich die Menge auf seinem Weg vor ihm zurückzog. Er erhaschte sein Spiegelbild an einer der Rampen – eine hochgewachsene schlanke Gestalt in metallischer Kleidung, auf dem Kopf eine fedrige weiße Krone – und verspürte unbeschreibliches Heimweh nach seinem eigenen wohlbekannten Gesicht.

Langsam bekam er Hunger, und es wurde ihm klar, daß er nicht in ein gewöhnliches Restaurant gehen konnte, ohne Aufsehen zu erregen, denn das war etwas, was die Lhari äußerst selten taten – vermutlich bedeutete es für sie, in die Gosse hinabzusteigen oder so etwas, überlegte Bart unwillig. Er erwog kurz, einen Imbiß an einem der Kiosks einzunehmen, die über den ganzen Raumhafen verteilt standen.

Er entschied sich dagegen, weil er damit die Sache nur aufschob. Die Zeit war reif für einen Test seiner Maskierung unter den Lhari; er mußte seine Furcht überwinden. Je früher, desto besser. Er rief sich kurz ins Gedächtnis, nach welchem Schema die Raumhäfen generell angelegt waren: auf der einen Seite befand sich der Gebäudekomplex, der den Menschen,

Besuchern und Passagieren frei zugänglich war; der andere Teil, den Lhari und ihren mentorianischen Angestellten vorbehalten, bestand – neben den verschiedenartigsten Büroräumen – aus einer Art Passage mit Vergnügungszentren, Geschäften und Restaurants für das Personal der Lhari-Schiffe. Nachdem täglich neun bis zehn Raumschiffe einliefen, hatte ihm Raynor versichert, daß ein fremdes Gesicht sich leicht in der Menge verlieren würde.

Er ging auf eine Tür mit der Aufschrift Gefahr! Lhari-Beleuchtung! zu, schritt durch einen gleißend hellen Gang, der zu Büros und Lagerhäusern führte, und trat schließlich hinaus auf einen breiten Promenaden weg. Das Licht war mörderisch, doch er konnte es inzwischen problemlos ertragen – obwohl er im Augenblick leichte Kopfschmerzen hatte. Bei einem Test seiner Lichttoleranz hatte Raynor beteuert, daß er die gleiche Lichtintensität vertrug wie die Lhari, ohne seine Sehnerven zu schädigen, daß er aber in der Gewöhnungsphase mit Kopfschmerzen würde rechnen müssen.

Es gab kleine Läden und bar-ähnliche Etablissements sowie ein Lokal mit gläserner Front und einer Aufschrift in riesigen schwarzen Lettern, die in Lhari ungefähr bedeutete:

 

HEIMAT FERN DER HEIMAT – SPEISERESTAURANT,

RAUMFAHRTPERSONAL WILLKOMMEN, VERNÜNFTIGE PREISE.

 

Zögernd stand er vor dem Eingang, in letzter Minute von Panik ergriffen.

Hinter ihm hörte er eine Stimme in Lhari-Sprache: »Sag mal, stimmt das wirklich, was da steht? Oder ist das wieder so eine Falle, in der unbedarften Raumfahrern ihre sauer verdienten Scheine aus der Tasche gezogen werden? Wie ist das Essen?«

Bart riß sich zusammen. Jetzt mußte er Farbe bekennen.

»Ich weiß nicht, ich habe hier noch nie gegessen«, erwiderte er vorsichtig. »Ich hatte mich das auch gerade gefragt, aber wahrscheinlich ist es nicht anders als mit den meisten Restaurants: man kriegt was Gutes, wenn man sich nicht scheut, etwas auszugeben.« Er drehte sich um und stand einem jungen Lhari gegenüber, der wie Bart das schmucklose Cape eines Raumfahrers ohne Offizierspatent trug. Das Alter des Lhari.

war an seiner weißen Haarkrone zu erkennen und an seinem Gesicht, das noch faltenlos war wie Barts eigenes.

Der junge Lhari streckte ihm seine Klauenhand entgegen, zur Faust geschlossen, mit eingezogenen Krallen – der Begrüßungsgeste dieser Rasse. Er sagte: »Sollen wir das Risiko eingehen? Ringg, Sohn des Rahan, grüßt dich.«

»Bartol, Sohn des Berihin«, stellte sich Bart vor, indem er den Gruß mit geschlossener Faust erwiderte. Er hatte zum ersten Mal seinen Decknamen benutzt.

Die schmalen Lippen des jungen Lhari zogen sich in einem Lächeln zurück, als er die Tür aufstieß und sich erkundigte: »Bist wohl neu hier? Ich glaube, ich habe dich noch nicht hier im Hafen gesehen, aber es gibt ja so viele – «

»Ich habe mich an dieses Ende der Galaxis vorgearbeitet«, erklärte Bart. Es war die offizielle Version. »Aber meistens bin ich die Polaris-Route geflogen.«

»Was, dort hinten?« Der Lhari klang überrascht und beeindruckt. »Da bist du ja ganz schön herumgekommen! Sollen wir uns hierher setzen?«

Sie nahmen auf dreieckigen Stühlen an einem dreieckigen Tisch Platz. Einer der Stühle war blau, die beiden übrigen präsentierten sich in einem eigenartigen Orange. Bart fiel es auf, aber er wußte ja, daß die Lhari keine Farben unterscheiden konnten, und die Stühle waren in ihrer sonstigen Beschaffenheit identisch. Er wartete ab, bis Ringg, Sohn des Rahan, seine Bestellung aufgegeben hatte und bestellte dann das gleiche. Das Essen stellte sich als eine Art Eintopf aus Fisch und Eiern heraus, der ganz ausgezeichnet schmeckte, und Bart langte kräftig und mit Gusto zu. Sah man von den Klauen ab, dann unterschieden sich die Tischsitten der Lhari nicht wesentlich von denen der Menschen – denken Sie daran, daß es auch bei ihnen Abweichungen in den Sitten und Gebräuchen gibt, genau wie bei uns. Wenn Sie etwas anders machen, so wird man lediglich annehmen, daß Sie aus einer anderen Region der Planetenwelt stammen!

Nach einer Weile hatte Bart den Eindruck, daß sein neuer Bekannter von ihm einen Beitrag zur Unterhaltung erwartete, also fragte er: »Bist du schon lange hier im Raumhafen?«

»Erst einen Tag. Ich bin mit der Swiftwing hereingekommen.«

Blitzschnell entschloß sich Bart, seine Chance wahrzunehmen. Er sagte: »Ich habe gehört, daß es auf der Swiftwing eine freie Stelle geben soll.«

Ringg hob den Kopf an und sah ihn mit einer gewissen Neugier an. »Das stimmt«, meinte er, »obwohl mir nicht ganz klar ist, wie du das erfahren hast. Captain Vorongil drohte an, daß jeder, der ein Wort darüber verliert, zu drei Zyklen auf Kleeto verdonnert wird! Was ist eigentlich mit dir los? Hast du dein Schiff verpaßt?«

»Nein, ich habe mal Pause gemacht – ich bin herumgereist, habe mich ein bißchen umgeschaut, hier und da mal gejobt, ansonsten gefaulenzt«, gab Bart Auskunft. Raynor Drei hatte ihm erzählt, daß das unter den jungen Lhari so üblich sei, offenbar, um ihre Wißbegierde in bezug auf Sitten und Gebräuche der Menschen zu befriedigen; diese Art Exkursionen waren allerdings meist auf die freundlicheren Welten im Umkreis des Planeten Mentor beschränkt, dem ursprünglichen Ort der Begegnung mit den Lhari. »Aber nun reicht’s mir, und ich möchte wieder anheuern und hinaus ins All.«

Der junge Lhari sah besorgt aus.

»Es ist so«, erklärte er. »Wenn Captain Vorongil erfährt, daß hier im Hafen Gerüchte über Klanerols Verschwinden vom Schiff im Umlauf sind, dann wird er uns das Leben zur Hölle machen. Trotzdem, es stimmt, uns fehlt wirklich ein Mann, und das ist nicht so angenehm. Bei kurzen Flügen mag es noch angehen, aber wir haben die lange Fahrt nach Antares und zurück vor uns, und wenn alle Sonderschichten einlegen müssen, so ist das kein reines Vergnügen. Falls wir hier einen Mann an Bord nehmen könnten – dich zum Beispiel –, wie war doch gleich dein Name? Bartol?«

Bart nickte.

»Also, Bartol, hör mal. Erzähle Vorongil auf gar keinen Fall, daß du hier im Hafen etwas gehört hast, sonst haben wir alle unter seinem Zorn zu leiden!«

Bart begann ein wenig aufzuatmen. Offensichtlich akzeptierte ihn Ringg ohne weiteres und fand ihn nicht sonderbar. So aus der Nähe betrachtet erschien ihm Ringg nicht wie ein Monster, sondern als normaler junger Bursche wie er selbst, herzlich und liebenswürdig. Um die Wahrheit zu sagen, Bart hatte bereits gedacht, daß Ringg große Ähnlichkeit mit Tom hatte! Er verscheuchte jedoch diesen Gedanken sofort aus seinem Gehirn. Was sollte das heißen, so ein Ding mit Tom zu vergleichen? Gleich darauf überlegte er erbittert, daß er ja auch einer dieser Dinger war und sich irgendwie mit ihnen arrangieren mußte. Reichlich mißmutig erkundigte er sich: »Wie soll ich also deinem Captain meine Bewerbung begründen?«

Ringg legte seinen Federschopf schief und dachte eine Weile nach. »Ich hab’s!« meinte er schließlich. »Ich hab dir’s erzählt! Ich werde ihm erklären, daß du ein alter Freund von mir bist, und als ich dich hier traf, habe ich dir vorgeschlagen, bei uns anzuheuern. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich Vorongil aufführt, wenn er in Wut gerät! Wenn du von einer Menschenwelt kommst und ihm erzählst, daß der ganze Raumhafen über einen Deserteur von seinem Schiff tratscht, ist er völlig ungenießbar. Wer hat es dir eigentlich erzählt?«

Das war die erste richtige Hürde. Bart suchte verzweifelt nach einer Erklärung. Bevor er jedoch erwidern konnte, sagte Ringg mit beißendem Spott: »Vermutlich haben es einige unserer Leute in einer Bar ausposaunt, und so ein dämlicher Mentorianer hat es mitgehört.«

»Ja«, meinte Bart, »Gerüchte verbreiten sich oft auf diese Weise.«

Ringg zuckte die Achseln. »Was Vorongil nicht weiß, macht ihn nicht heiß!« Damit schob er seinen dreieckigen Stuhl zurück. »Hast du Papiere? Welchen Dienstgrad hast du?«

»Astrogator Erster Klasse.«

»Klanerol war Zweiter, aber man kann schließlich nicht alles haben.« Ringg führte ihn durch die Passage hinaus in eine Sicherheitszone, in deren Bereich sie etwa ein halbes Dutzend Raumschiffe in ihren Docks passierten. Endlich blieb Ringg am Eingang zu einem der Docks stehen und sagte mit einer Handbewegung: »Das ist die alte Kiste. Alles andere als neu und geschniegelt.«

Bart kannte nur die Passagierschiffe der Lhari, alle neu, blitzblank und elegant. Das hier war gigantisch, oval wie das Ei eines Monsters aus dem All, die Flanken eingedrückt und