Kapitel 4

 

Einen Augenblick lang tanzten die Worte vor Barts verwirrten Augen. Er rieb daran herum, während er versuchte, sich zu fangen. Acht Farben! Hatte er schon so bald das Ende seiner gefährlichen Suche erreicht? War das hier wahrhaftig der sichere Ort, an dem er der Überwachung der Lhari entgehen konnte? Briscoe hatte davon gesprochen, gewiß, aber irgendwie hatte er etwas Zwielichtiges und Verborgenes erwartet. Er las das Schild noch einmal. Dort stand es, für jeden sichtbar: ACHT FARBEN.

Raynor Eins. Die Existenz von Raynor Eins ließ darauf schließen, daß auch ein Raynor Zwei existierte, und vermutlich auch ein Raynor Drei – und womöglich ein Raynor Vier, Fünf, oder beispielsweise Fünfundfünfzig! Es konnte kein Zufall sein. Das Gebäude vermittelte einen Eindruck von Festigkeit und Realität. Es sah sogar ein bißchen schäbig aus, so als hätte es schon lange Zeit dort gestanden; die Neonschrift konnte eventuell jüngeren Datums sein.

Als seine Hand bereits die Tür berührte, ließ ihn eine Art Panik in letzter Minute zögern. Woher wußte er, ob es sich um die richtigen Acht Farben handelte. Andererseits war es Familienwortschatz – ein Ausdruck, auf den man kaum irgendwo anders stoßen würde. Und Briscoe – er wäre sicher nicht in den Tod gegangen, um ihn in eine Falle zu locken. Er schob die Tür auf und ging hinein.

Der Raum bestand aus Chrom und Glas; seine Beleuchtung war noch greller als die Sonne des Prokyon vor der Tür. Flimmerndes Neonlicht zeichnete im mentorianischen Stil die Umrisse der einzelnen Möbelstücke nach. Eine unnahbar aussehende junge Dame saß hinter ihrem Schreibtisch – oder hinter etwas, das zumindest einen Schreibtisch darstellen sollte, wenngleich es mehr einem Spiegel mit winzigen verschiedenfarbigen Lichtpunkten glich, die in regelmäßigen Abständen an einer Seite angeordnet waren. Das spiegelnde Oberteil war von blau-violetter Farbe, und es verlieh ihrem Teint und ihren violetten Augen einen eigenartigen Blauton. Sie selbst war wohlgerundet und lackiert und glitzernd, und unter gehobenen Brauen bedachte sie Bart in seiner Erdentracht mit einem Blick, als handele es sich um eine ausgefallene Lebensform, die sie noch nicht sehr häufig zu Gesicht bekommen hatte.

»Haben Sie einen Termin?«

Er fragte sich, was geschehen würde, wenn er den Namen Rupert Steele erwähnte – oder auch Raynor Drei. Statt dessen sagte er: »Ich hätte gern Raynor Eins gesprochen, wenn möglich.«

Ihr zierlicher blaulackierter spitzer Fingernagel stach nach den bunten Lichtpunkten. »In welcher Angelegenheit?« fragte sie gelangweilt.

»In einer persönlichen Angelegenheit.«

»Dann schlage ich vor, ihn bei sich zu Hause aufzusuchen.«

»Ich kenne seine Adresse nicht«, sagte Bart, »und außerdem ist es wichtig.«

Die junge Dame betrachtete die gläserne Schreibtischplatte und drückte auf weitere kleine Lichtpunkte. Ein kleiner Bildschirm belebte sich, aber sie beugte sich darüber, so daß Bart nichts erkennen konnte. Ihre Finger bewegten sich in raschem Tempo; schließlich sagte sie: »Wie ist Ihr Name?«

Was würde geschehen, wenn er seinen richtigen Namen preisgab?

In letzter Minute entschied er sich dagegen. Das Mädchen war schließlich Mentorianerin, eventuell steckte sie mit den Lhari unter einer Decke.

»David Briscoe.«

Er war der Ansicht gewesen, daß ihr perfekt angemaltes Gesicht außer Verachtung keinen anderen Ausdruck zeigen konnte, aber er hatte sich geirrt. Sie sah zu ihm auf mit unverhüllter Verblüffung und sagte zu dem Bildschirm: »Er nennt sich David Briscoe. Ja, ich weiß. Jawohl, Sir.« Sie hob erneut das Gesicht; es sah wieder beherrscht aus, aber nicht mehr gelangweilt. »Raynor Eins wird Sie empfangen. Gehen Sie durch diese Tür bis zum anderen Ende der Halle.«

Bart schob die Tür auf. Die Lichtintensität war auf Mentorianer zugeschnitten, aber langsam gewöhnte er sich daran. Trotz allem hatte er Kopfschmerzen. Er hatte zu lange Zeit auf der Erde verbracht. Selbst bei der Wega würde er wohl eine Anpassungsphase brauchen.

Am Ende der Eingangshalle befand sich eine weitere Tür. Er betrat eine kleine Kabine, deren Tür rasch hinter ihm zuglitt. Er wirbelte herum, von Panik erfüllt, die in dümmliche Erleichterung umschlug, als die Kabine nach oben schwebte; er befand sich nur in einem automatischen Lift.

Immer höher ging es hinauf, bis der Lift so abrupt hielt, daß Bart flau im Magen wurde; die Tür glitt zurück und gab einen hell erleuchteten Büroraum frei. In diesem Büro saß ein Mann hinter einem Schreibtisch – einem einfachen, normalen Schreibtisch –, der zu Bart hinübersah, als er aus dem Lift stieg.

Der Mann war sehr groß und extrem schlank, und irgendein undefinierbarer Ausdruck in seinen Augen, ebenso wie die überaus grelle Beleuchtung, ließ Bart vermuten, daß es sich um einen Mentorianer handelte. Ein kleines Schild an der Tür besagte: RAYNOR EINS, DIREKTOR. Raynor Eins verfolgte Bart beim Verlassen des Lifts mit ruhigem, grauem und etwas verkniffenem Blick, und Bart fühlte, wie sein Herz unter einer langsam aufsteigenden Panikwelle pochte, die sich seiner bemächtigte. War dieser Mann ein Lhari-Sklave, der ihn verraten würde? Oder – konnte er ihm am Ende vertrauen? Schließlich hatte seine eigene Mutter zur Rasse der Mentorianer gehört.

»Wer sind Sie?« fragte Raynor Eins. Seine Stimme klang streng und – nein, laut war sie nicht, obwohl sie diesen Eindruck erweckte.

»David Briscoe«, antwortete Bart. Es war die falsche Antwort. Die Lippen von Raynor Eins preßten sich zu einem bedrohlichen Strich zusammen.

»Neuer Versuch. Mir ist zufällig bekannt, daß David Briscoe tot ist.«

Bart begann, seine Papiere hervorzuziehen, doch Raynor Eins winkte mit ungeduldiger Geste ab. »Ich glaube gern, daß Sie Papiere vorweisen können, die auf diesen oder irgendeinen anderen Namen lauten«, sagte er. »Was mich interessiert: Wie sind Sie dazu gekommen?«

Bart erklärte zögernd: »Man hat mir die Papiere in Verbindung mit einer Nachricht für Raynor Drei übergeben.«

Raynor Eins starrte ihn weiterhin mit seinen kalten, hellen Augen an. »Das ist ja sehr interessant«, meinte er langsam. »Sie wollen also zu Drei. Was haben Sie mit ihm zu tun?«

Einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte Bart: »Das will ich Ihnen gern sagen, wenn Sie mir Ihrerseits erklären, was die Achte Farbe ist.«

Nun war ein Glitzern in Raynors Augen, doch seine gleichmäßige, unnachgiebige Stimme klang nicht weicher als zuvor. »Ich habe das selbst nie erfahren. Ich habe den Firmennamen nicht erfunden. Vielleicht möchten Sie den anderen Inhaber sprechen.«

In jäher Hoffnung fragte er: »Heißt er rein zufällig Rupert Steele?«

Raynor der Erste machte eine verräterische Geste. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie zu der Annahme kommen«, erwiderte er vorsichtig, »besonders, nachdem Sie erst von der Erde gekommen sind. Es ist niemals allgemein bekannt gewesen. Er hat die Bezeichnung ›Acht Farben‹ erst vor wenigen Wochen gewählt. Ihr Raumschiff hat während der Delta-Antriebsphase auch keine Nachrichten empfangen können. Sie werfen mit zu vielen Namen um sich, aber ich stelle fest, daß Sie mit weiteren Informationen geizen.«

»Ich suche nach einem gewissen Rupert Steele – «

»Ich war der Meinung, Sie suchten nach Raynor Drei,« sagte Raynor Eins und starrte auf Barts mentorianisches Gewand. »Ich kann mir denken, daß eine ganze Anzahl von Leuten nur zu gern wüßte, wie ich auf gewisse Namen reagiere, um herauszufinden, ob ich die falschen Leute kenne – falls sie für mich die falschen Leute sind. Woraus schließen Sie, daß ich zu derartigen Eingeständnissen bereit wäre?«

Jetzt war es soweit, dachte Bart, jetzt hatten sie den toten Punkt erreicht. Einer mußte den Anfang machen, mußte einfach Vertrauen beweisen. Es konnte zwar die ganze Nacht so weitergehen – Parade und Konter, Frage und ausweichende Antwort; sie konnten die beiderseitigen Fragen in einem verbalen Klingenkreuzen abblocken. Fest stand, daß Raynor Eins keine weiteren Auskünfte geben würde. Und wenn man berücksichtigte, was auf dem Spiel stand, dann konnte ihm Bart deswegen keinen Vorwurf machen.

Er schleuderte das mentorianische Cape auf den Tisch.

»Das hier hat mir aus der Patsche geholfen – aber ich habe Lehrgeld bezahlen müssen«, sagte er. »Ich habe vorher noch nie so etwas getragen und werde es wohl auch in Zukunft nicht mehr tun. Ich suche nach Rupert Steele, weil er mein Vater ist!«

»Ihr Vater«, wiederholte Raynor Eins. »Und wie, wenn ich fragen darf, wollen Sie diese außerordentlich interessante Behauptung beweisen?«

Ganz unvermutet verlor Bart die Beherrschung.

»Ich will Ihnen mal was sagen: ich pfeife darauf, ob ich es Ihnen beweise oder nicht! Sie sitzen da, ruhig und gelassen, und geben ganz prima nichtssagende und schlaue Antworten auf alles, was ich vorbringe, und Sie erwarten, daß ich alles beweise! Beweisen Sie doch zur Abwechslung mal etwas! Wenn Sie Rupert Steele kennen, dann brauchen Sie keine Beweise für meine Identität – schauen Sie mich doch richtig an! Ich soll sein Ebenbild sein – das erklärte mir jedenfalls Briscoe. Ein Mann namens Briscoe, zumindest einer, der sich so nannte. Er hat mir diese Papiere gegeben.« Bart knallte sie heftig auf den Schreibtisch und beugte sich verärgert über Raynor Eins. »Ich habe nicht darum gebeten, ich habe sie nicht gewollt! Er hat sie mir in die Hand gedrückt. Jener Briscoe ist tot. Die Lhari haben ihn mit seinem Robo-Taxi abgeschossen.« Er fühlte, wie es in seinem Gesicht zuckte. Die Erinnerung würde ihn wohl niemals völlig loslassen.

»Er hat mich hierhergeschickt mit dem Auftrag, einen Mann namens Raynor Drei zu finden. Aber der einzige, den ich finden möchte, ist mein Vater. Jetzt wissen Sie genausoviel wie ich! Wie wär’s, wenn Sie jetzt mit ein paar Informationen herausrückten? Oder soll ich mich lieber an die Raumhafenbehörden wenden?«

Er war außer Atem geraten. Mit geballten Fäusten stand er da und starrte hinunter auf Raynor Eins. Raynor Eins stand auf und fragte rasch, schroff und leise: »Hat Sie jemand hereinkommen sehen?«

»Nur das Mädchen unten«, erwiderte Bart.

»Sie haben vielleicht eine Glückssträhne!« meinte Raynor Eins in bissigem Ton. »Wie sind Sie den Lhari entkommen? Etwa damit?« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Mentorianer-Capes.

Bart erklärte es ihm kurz, und Raynor Eins kommentierte kopfschüttelnd: »Sie hatten Glück; Sie hätten erblinden können. Offenbar haben Sie die Anpassungsfähigkeit der Augen als dominierendes Erbgut von mentorianischer Seite mitbekommen – Rupert Steele besaß diese Fähigkeit nicht. Ich kann Ihnen folgendes sagen«, fügte er hinzu, während er wieder Platz nahm, »nachdem Sie gewissermaßen mein Chef sind. Die IHG Acht Farben – früher ALPHA TRANSFLUGGESELLSCHAFT genannt – ist das, was man unter einer Makler-Agentur versteht. Die diversen interplanetarischen Raumfahrtlinien transportieren die Fracht innerhalb eines Sonnensystems von Planet zu Planet – im freien Wettbewerb –, und die Lhari-Schiffe sind mit dem interstellaren Transport betraut. Sie haben das vollständige Monopol in der gesamten Galaxis. Also, die Maklergesellschaften organisieren den reibungslosen geschäftlichen Ablauf zwischen diesen beiden Transportsystemen. Die Lhari verhandeln sowieso lieber mit Mentorianern. Nun, Rupert Steele hat sich vor langer Zeit in die Gesellschaft eingekauft. Er hat das Management weitgehend mir überlassen, während er auf der Wega die Geschäfte der WEGAPLANET leitete. Jedenfalls bis vor kurzem.« Raynor beugte sich hinab und drückte einen Knopf. »Violet, bitten Sie Raynor Drei hierher ins Büro«, sagte er in die Gegensprechanlage. »Möglicherweise müssen Sie auf der Multiphase eine Nachricht hinterlassen, also Vorsicht!«

Bart wartete ab, bis sich Raynor wieder zu ihm wandte.

»Sie fordern eine Menge Erklärungen«, sagte er. »Nun, die muß Ihnen jemand anders geben. Ich habe keine Ahnung, was hier gespielt wird. Ich will es auch nicht wissen. Ich wickle mit den Lhari Geschäfte ab – was nicht bedeutet, daß ich ihnen alles auf die Nase binde, was ich weiß. Aber seit einiger Zeit geht hier alles drunter und drüber, der gesamte Frachtbetrieb verzögert sich, weil die Lhari die Ladungen inspizieren, und die Kosten haben sich verdoppelt. Je weniger ich weiß, desto weniger Gefahr besteht, daß ich den falschen Leuten etwas erzähle. Ich habe aber Drei versprochen, sofort mit ihm Kontakt aufzunehmen, falls Sie oder jemand anders mit der Frage nach der achten Farbe hier auftauchen würde. Also bitte erzählen Sie mir nichts. Ich will es nicht wissen. Es ist nicht gut fürs Geschäft, wenn ich zu viel weiß.«

Es klang sehr verärgert. Mit einer schroffen Handbewegung bot er Bart einen Platz an. »Ich habe keine Fragen an Sie, und ich erwarte keine Antworten. Das einzige, was mir am Herzen lag, war, sicherzustellen, daß Sie Drei nicht in Schwierigkeiten bringen würden, sonst nichts.«

Er klappte seinen Mund so endgültig zu, als habe er bereits zuviel verraten. Bart blieb sitzen. Nach einiger Zeit hörte er wieder das Liftgeräusch; die Tür glitt zurück, und ein weiterer Mann betrat das Büro.

Bevor er zu sprechen begann, erriet Bart, daß es sich um Raynor Drei handelte. Er glich nämlich Raynor Eins wie ein Ei dem anderen, außer daß er die Mannschaftsuniform der Mentorianer auf Lhari-Schiffen trug: das weiße Gewand der Mediziner, den metallischen Umhang und das enge Trikot, ergänzt durch silberne Sandalen mit niedrigen Absätzen. Raynor Drei sagte: »Deine Nachricht hat mich gerade noch auf dem Schiff erreicht. Eins. Ich war auf dem Weg zu meinem Landhaus. Was ist denn schon wieder los?«

»Steeles Sohn«, erklärte Raynor Eins mit ausdruckslosem Gesicht.

An dieser Stelle bemerkte Bart zum erstenmal einen Unterschied zwischen den – ja, Brüdern wohl, oder Zwillingen? Oder handelte es sich gar um Drillinge? Raynor Eins hatte nämlich während des ganzen Gesprächs seinen beherrschten, finsteren und strengen Gesichtsausdruck beibehalten; als er jetzt den Namen »Steele« aussprach, zogen sich Raynor Dreis Brauen zusammen, es verschlug ihm sichtlich den Atem, und in seinen Gesichtzügen zeigten sich Schock und Besorgnis. Er wandte sich Bart voll zu und sah ihn an.

»Ja, das ist der junge Steele«, bemerkte er mit Freundlichkeit in der Stimme. »Ist er unter seinem richtigen Namen gereist? Wie hat er das geschafft?«

»Nein. Er hat die Papiere von David Briscoe benutzt. Sein Vater hat sie offenbar durchgeschmuggelt.«

»Der Wahnsinnige«, sagte Raynor Drei und sog scharf die Luft ein, wobei er sich zu Bart umdrehte. »Geben Sie sie schnell her, Bart!«

Bart zögerte, Raynor Eins ging hinüber zum Fenster und sagte mit ausdrucksloser Stimme: »Es hat keinen Zweck, Drei. Auf diese Art kommst du nie weiter. Aber sieh zu, daß der Junge hier weg ist, bevor sie mich holen kommen. Schau mal, dort unten!«

Er deutete hinunter. Auf den Straßen unter ihnen herrschte Aufruhr. Lhari schwärmten aus, in sämtliche Himmelsrichtungen, uniformierte Beamte und Mentorianer. Bart wurde übel.

»Sie werden sicherlich auch hier suchen«, meinte Raynor Eins. »Wahrscheinlich haben sie die Meldungen ihres Nachrichtendienstes überprüft. Wenn sie im Papierkrieg genauso erfahren wären wie wir Menschen, dann wäre der junge Steele nicht so weit gekommen. Zum Glück hatten sie nur eine einzige Beschreibung, und dann noch den falschen Namen. Inzwischen ist vielleicht beides auf dem laufenden.«

Raynor Drei nickte. »Es ist wie beim Kastenspiel«, erklärte er Bart. »Sie hatten Steeles Steckbrief, aber nicht seinen Namen, so daß ihnen Briscoe mit seinen Papieren durch die Maschen schlüpfen konnte. Dann, auf der Erde, koordinierten sie die Information, sie hatten die Namen beider Steeles, aber vermutlich war ihnen Briscoe zu diesem Zeitpunkt schon entwischt.«

»Nein, er ist tot«, sagte Bart schroff, »die Lhari haben ihn ermordet.«

Im ausdrucksvollen Gesicht von Raynor Drei spiegelten sich Trauer und Bestürzung. Doch er fuhr fort: »Zu dem Zeitpunkt waren Sie bereits unterwegs mit einem weiteren Satz falscher Papiere. Möglich, daß es sie verwirrt hat, nachdem sie wußten, daß David Briscoe nicht mehr am Leben war, und die Chance bestand, daß Sie nur ein unbeteiligter Dritter waren, der ihnen ganz schön die Hölle heiß machen konnte, wenn er da mit hineingezogen wurde. Hier allerdings ist der Name Briscoes kein unbekannter. Sie sind hier nicht sicher – wir müssen das da vernichten.«

Er berührte den Stapel falscher Papiere leicht mit einem Finger.

»Zwei tapfere Männer«, meint er leise. »Der Vater Edmund Briscoe und der Sohn David Briscoe. Behalten Sie den Namen im Gedächtnis, Bart – mir wird es leider nicht möglich sein.«

»Wieso nicht?«

Raynor Drei sah ihn mit einem glitzernd-goldenen, geheimnisvollen Blick an und erklärte: »Sie wissen doch, daß ich Mentorianer bin. Ich arbeite für die Lhari. Mein Kapital ist, mich nicht an gewisse Dinge zu erinnern. Seien Sie froh, daß ich mich noch an Rupert Steele erinnere. Wären Sie ein paar Tage später eingetroffen, dann hätte ich jede Erinnerung an ihn verloren, obwohl ich versprochen hatte, auf Sie zu warten.«

Das alles war sehr verwirrend, aber bevor Bart noch weitere Erklärungen verlangen konnte, mischte sich Raynor Eins ein: »Schaff ihn hier weg! Sie kommen!«

Raynor Drei wandte sich nervös an Bart: »Beherrschen Sie die Sprache der Lhari?«

Bart nickte.

»Dann ziehen Sie das an.« Er deutete auf das Mentorianer-Cape. »Ja, so ist’s gut – ziehen Sie die Kapuze schön über den Kopf, und wenn uns jemand begegnet, sagen Sie höflich – in Lhari – ›Guten Tag‹, und den Rest überlassen Sie mir.«

Briscoes Ausweispapiere warf er in den Müllschlucker. Bart sah ihnen mit Besorgnis und Bedauern zugleich nach. Ab jetzt besaß er keinerlei Identität mehr – weder seine eigene noch eine falsche, und das bestürzte ihn.

Mit dem Lift fuhren sie hinunter zur Straße, die von Lhari wimmelte. Niemand schenkte Raynor Drei und Bart in ihren metallenen Umhängen irgendwelche Aufmerksamkeit, doch Raynor flüsterte: »Angriff ist die beste Verteidigung«, als er auf einen der Lhari zuging.

»Was ist denn hier los.«

»Ein Passagier hat das Raumschiff verlassen, ohne die Desinfektionsanlage zu durchlaufen«, erwiderte der Lhari. »Er könnte auf diesem Planeten Krankheiten verbreiten. Wir haben selbstverständlich alle Behörden entsprechend informiert.«

Raynor Drei drehte sich zu Bart um und sagte mit lauter Stimme: »Haben Sie das gehört? Nun, wir werden die Augen offenhalten.«

Als der Lhari verschwunden war, verzog sich Raynors ausdrucksvolles Gesicht zu einer Grimasse. »Toll eingefädelt! So haben sie das also gedreht! Nun werden sämtliche Bewohner dieses Planeten nach einem Fremden Ausschau halten, verrückt vor Angst, daß er irgendwelche nicht genehmigten Bakterien einschleusen könnte! Sie müssen dringend an einen sicheren Ort gebracht werden.«

»Soll ich ein Robo-Taxi rufen?«

Raynor Drei grinste. »Nein, hier auf diesem Planeten sind uns private Transportmittel gestattet. Ich selbst besitze einen Mini-Hubschrauber. Das ist auch besser; die öffentlichen Transportmittel sind mit Aufnahmegeräten ausgestattet.«

Während sie einstiegen, fragte Bart: »Bringen Sie mich zu meinem Vater?«

»Bitte warten Sie, bis wir bei mir zu Hause sind.« Raynor Drei übernahm das Steuer und brachte die Maschine in die Luft. »Lehnen Sie sich einfach zurück, und genießen Sie den Flug, ja?« Er konzentrierte sich auf die Steuerung.

Bart ließ sich entspannt in den Sitz sinken, aber er wurde ein Gefühl der Besorgnis nicht ganz los. Die Ereignisse hatten sich überstürzt. Er hätte Tom gern eine Nachricht zukommen lassen, wußte aber nicht, wie.

Wo befand sich sein Vater? Brachte ihn Raynor Drei zu ihm? Er sagte sich ganz nüchtern, daß sein Vater als Flüchtiger vor den Lhari diesen Planeten schon lange verlassen haben und inzwischen bis ans andere Ende der Galaxis geflohen sein konnte. Andererseits bestand durchaus die Chance, daß er sich noch auf dem Planeten aufhielt – falls er je hier gewesen war –, weil er ja nicht mit Lhari-Schiffen fliegen konnte. Dann befände er sich zumindest noch im Sonnensystem des Prokyon.

Sie flogen lange über eine friedliche Landschaft hinweg, über flache Hügel, über die Fleckerlteppiche landwirtschaftlich genutzter Flächen, über zwei oder drei Städte, und schließlich eine lange Strecke über Wasser. Bart bemerkte, daß der Hubschrauber mit automatischer Steuerung ausgerüstet war. Trotzdem flog Raynor Drei manuell, so daß Bart sich fragte, ob der Mentorianer wohl nur einem Gespräch ausweichen wollte. Gleichviel – er hatte Vertrauen zu ihm, obwohl er nicht sagen konnte, warum.

Endlich sank der Hubschrauber hinab und nahm Kurs auf einen kleinen gelb-grünen Hügel, der hell in den letzten goldenen Strahlen der Sonne leuchtete. Aus dem Hang erhob sich eine kuppelartige kleine grüne Blase; sie tat sich langsam auf. Raynor Drei landete den Hubschrauber geschickt auf einer kleinen Plattform, worauf sich die Kuppel wieder schloß, löste ihre Sitzgurte und half Bart beim Aussteigen. Er knipste Licht an, ließ eine Schiebetür zur Seite gleiten und führte Bart in ein Wohnzimmer aus Glas und Chrom, angenehm möbliert, in gedämpftes Licht getaucht, jedoch unbewohnt und leicht verstaubt wirkend. Raynor drückte auf einen Knopf; einschmeichelnde Musik erklang, und Bart spürte die Teppiche wohlig unter seinen Füßen.

Raynor bot ihm einen Sessel an.

»So, hier sind Sie für ein Weilchen in Sicherheit«, sagte er, »aber man weiß nie, für wie lange. Bisher war ich über jeglichen Verdacht erhaben.«

Die Formulierung erschien sehr eigenartig. Wie war es ihm gelungen, den Überprüfungen und der Gehirnwäsche zu entgehen, der sich sämtliche bei den Lhari beschäftigten Mentorianer unterziehen mußten? Und welche Rolle spielte er in der ganzen Sache? Bart lehnte sich zurück; der Sessel war äußerst bequem, er zerstreute jedoch nicht völlig seine Vorbehalte.

»Wo ist mein Vater?«

Raynor Drei stand vor ihm und sah mit seltsam angespannten Zügen und schmerzvoll zusammengepreßtem Mund auf ihn herab. Schließlich sagte er: »Vermutlich kann ich es nicht länger aufschieben. Ich hatte gehofft – « er brach ab. »Ich habe seine Sachen hier, Bart. Ich werde sie Ihnen geben.«

Die Worte schienen mehr zu bedeuten, als sie kundtaten. Eine Vorahnung umklammerte mit festem Griff Barts Hals; er konnte kaum sprechen.

»Wo ist er?« forderte er. »Wo ist mein Vater? Was wird hier gespielt?«

Raynor Drei bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Seine Finger dämpften die heiseren Worte, in denen ein unbeschreibliches Gefühl mitschwang: »Ihr Vater ist tot, Bart. Ich – ich habe ihn getötet.«