21. KAPITEL
Die Orks laufen verwirrt durcheinander. Ich führe meine kleine Kompanie direkt zwischen den brennenden Leichen der Drachen hindurch. Öliger Rauch steigt von den Kadavern der Biester empor, die durch den dunklen Zauber brennen, den Lisutaris beschworen hat. Wir sind kaum fünfzig Meter von den Toren entfernt, und ich bete, dass jemand in der Stadt die Lage erkennt, die Tore öffnet und uns hineinlässt, bevor die Orks Gelegenheit haben, sich neu zu formieren.
Lisutaris’ Gewicht lastet schwer auf meiner verletzten Schulter, aber ich marschiere weiter. Wir dürfen diese Chance auf keinen Fall verpassen. Eine weitere bekommen wir nicht. Die Tore schwingen auf. Die eingekesselten turanianischen Truppen verlassen die Deckung ihrer improvisierten Wagenburg und laufen in die Stadt. Wir folgen ihnen. Wir sind immer noch ein beträchtliches Stück von den rettenden Toren entfernt, als ich spüre, wie ein feindlicher Zauber sich nähert. Im nächsten Moment bebt der Boden unter meinen Füßen. Ich werde am Hinterkopf von einem Schlag wie von einem Hammer getroffen. Mein Zauberschutzamulett rettet mir zwar das Leben, aber es hemmt keinen Schmerz. Ich sinke auf die Knie und lasse Lisutaris zu Boden gleiten. Es kostet mich endlose Mühe, wieder aufzustehen. Selbst Makri rappelt sich nur langsam wieder auf.
»Was zum …?«
Harmonius, Chomenius und Anemari helfen sich gegenseitig auf die Füße. Die Zauberer tragen ebenfalls Zauberschutzamulette, wie Makri und ich. Es sind ziemlich rare, kostbare Gegenstände. Meine Soldaten besaßen so etwas nicht. Aus diesem Grund wird auch keiner von ihnen wieder aufstehen. Als sich meine Benommenheit allmählich legt, stelle ich fest, dass wir nicht mehr allein sind. Wir stehen zwölf Orks gegenüber. Drei von ihnen sind Magier, sieben sind Krieger und zwei scheinen Offiziere zu sein. Einer der Zauberer ist Harm der Mörderische. Lisutaris liegt vor mir auf dem Boden und regt sich wieder. Harm wirft ihr einen finsteren Blick zu.
»Ihr habt meinen Drachen umgebracht!«, sagt er mit schmerzerfüllter Stimme. »Er war mein Lieblingstier.«
Dann wirft er Makri einen Blick zu, der, soweit ich das beurteilen kann, irgendwie sehnsüchtig ist. Wenn er ihr jetzt mit einem Blumenstrauß kommt, erwürge ich ihn mit bloßen Händen. Doch bevor Harm noch etwas Charmantes sagen kann, tritt einer der beiden Offiziere vor. Es ist ein großer Ork, kein massiger Kerl, sondern sehr kräftig, in einer sehr gut gearbeiteten schwarzen Rüstung, mit langem schwarzem Haar und einem kleinen goldenen Reif um die Stirn. Er wirkt nicht ganz so abgerissen wie seine Gefährten. Das muss Prinz Amrag sein.
Er betrachtet uns einige Sekunden. Dann sieht er Makri neugierig an. Lisutaris rappelt sich wieder auf. Prinz Amrags Leibwache tritt vor, bereit, ihren Führer vor der menschlichen Oberhexe zu schützen. Amrag wirft Harm einen fragenden Blick zu.
»Sie haben keine Magie mehr in sich«, erklärt der.
»Genauso wenig wie ihr«, erwidert Lisutaris.
»Damit habt Ihr bedauerlicherweise Recht«, gibt Harm zu. »Wir waren gezwungen, unsere ganze Magie einzusetzen, um am Leben zu bleiben, als Ihr uns aus dem Himmel gefegt habt.«
Selbst hier auf dem Schlachtfeld ist Harm mit seiner blassen Haut, seinen geschliffenen Manieren und seinem langen Mantel eine außergewöhnliche Erscheinung.
»Allerdings verfügen wir noch über eine funktionierende Armee«, fügt er hinzu und deutet mit einer eleganten Handbewegung hinter sich. Von dort stürmen etwa eintausend Ork-Krieger auf uns zu. Ich schiebe Lisutaris in Richtung Stadtmauer.
»Geh«, sage ich. »Sofort.« Ich bedeute den Zauberern zu fliehen. Harmonius und Anemari brauchen keine weitere Aufforderung, aber Lisutaris zögert. Chomenius der Fleischwolf packt sie ziemlich ungalant an ihrem zerfetzten Umhang und zieht sie einfach hinter sich her. Makri und ich zücken unsere Schwerter. Wir werden unsere Leben teuer verkaufen und so den Zauberern die wenigen Sekunden erkaufen, die sie brauchen, um die Stadt zu erreichen. Der dichte, beißende Qualm von den brennenden Drachen steigt uns immer noch in die Nase. Ich erwarte, dass Prinz Amrag seiner Leibwache befiehlt, die Verfolgung aufzunehmen. Sieben Krieger. Die können Makri und ich zumindest so lange aufhalten, bis der Rest der Ork-Armee eintrifft. Aber zu meiner Überraschung gibt der Prinz diesen Befehl nicht. Stattdessen sieht er Makri wieder an, und als er spricht, bedient er sich der Menschensprache, die nur sehr wenige Orks beherrschen.
»Hallo, Schwester.«
»Hallo, Bruder.«
»Ich habe deine Fortschritte bewundernd verfolgt. Champion Gladiator.«
»Du hast mich in den Sklavengruben dem Tod überlassen«, erwidert Makri.
Prinz Amrag kommentiert das mit einem Schulterzucken. »Und jetzt kämpfst du für Turai?«
»Allerdings.«
»Möchtest du vielleicht in meine Armee überwechseln?«
Makri spuckt auf den Boden.
Prinz Amrag lacht leise.
»Dein unreines Elfenblut. Das hat schon immer Probleme gemacht.« Er schaut über unsere Schultern. »Sie schließen die Tore. Wenn Ihr Euch in Eure Stadt zurückziehen wollt, solltet Ihr Euch beeilen. Ich werde Euch dort noch früh genug Gesellschaft leisten.«
Makri zögert, als wollte sie noch etwas sagen, aber ich hake sie unter und zerre sie einfach durch den dichten Qualm und das Schneetreiben hinter mir her zum Großen Osttor. Es schwingt gerade zu, als wir ankommen. Ich stoße eine lange, laute Salve der übelsten und gemeinsten Flüche aus, die ich kenne. Gnädigerweise hat das jemand drinnen gehört. Das Tor öffnet sich einen Spalt, wir quetschen uns hindurch, und dann fällt es donnernd wieder zu. Schwere Bolzen werden vorgeschoben, und von oben senken sich gewaltige Eisenstangen herab, um sie zu verstärken. Wir sind die letzten Menschen, die es nach Turai zurückgeschafft haben. Ich drehe mich zu Makri um.
»Hallo Schwester? Schwester? Prinz Amrag ist dein Bruder?«
»Mein Halbbruder. Derselbe Vater, eine andere Mutter. Er hat kein Elfenblut in sich.«
»Wusstest du das schon die ganze Zeit?«
Makri schüttelt den Kopf. »Ich wusste nicht, was aus ihm geworden ist, nachdem er aus den Sklavengruben entkommen ist.«
Um uns herum herrscht blankes Chaos. Von Lisutaris ist nichts zu sehen.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragt Makri. »Sollen wir die Zinnen besetzen?«
»Eine gute Frage.«
Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Niemand war auf eine solche Entwicklung vorbereitet. Es gibt keinen Versammlungspunkt für die Soldaten, die geschlagen in die Stadt zurücktaumeln. Ich habe keine Ahnung, wohin ich mich wenden soll. Einige Bataillone frischer Truppen haben die Mauern bereits besetzt. Andere laufen die Treppen hinauf, um Stellungen zu beziehen. Ich sollte mich irgendwo einreihen, aber ich weiß nicht wo.
»Ich muss Lisutaris suchen«, erklärt Makri.
Es ist schon lange her, seit ich mich so unsicher gefühlt habe. Vielleicht sollte ich nach ZwölfSeen zurückgehen, auf die nächstbeste Mauer steigen und auf den Angriff der Orks warten. Oder ich warte hier am Osttor, falls die Orks versuchen, dort durchzubrechen. Ich weiß es einfach nicht.
Direkt hinter den östlichen Mauern liegen die Lustgärten. Die Teiche sind zugefroren, und die Bäume sind verschneit. Überall auf dem gefrorenen Boden liegen Tote und Verwundete, Soldaten, die von ihren Kameraden in die Stadt zurückgeschleppt worden sind. Turai war auf derartig hohe Verluste nicht gefasst. Heiler, Kräuterkundige und Apotheker wurden davon völlig überrascht. Die Verwundeten liegen in dem niedergetrampelten Schnee, und niemand kümmert sich um sie.
»Du hast Recht gehabt, als du mich gewarnt hast, wie es in einer Schlacht zugeht«, sagt Makri. »Von dem Moment an, wo es losging, hatte ich keine Ahnung, was eigentlich vorgeht.«
»Ich auch nicht. Ich weiß nur, dass wir ordentlich Prügel bezogen haben.«
»Lebt Ghurd noch?«
Ich schüttele den Kopf. Ich weiß es nicht.
Da treffen wir einen Bekannten, der auf dem Boden kniet. Öttgerox, der Koch des Konsuls. Der arme Kerl wurde vor der Stadtmauer kalt erwischt. Er muss sich aber noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben, denn er hat seinen kleinen Karren mit dem transportablen Ofen bei sich. Ein Pfeil steckt in seiner Wade, und er versucht, ihn herauszuziehen. Ich bücke mich, um ihm zu helfen. Der Pfeil ist nicht sehr tief eingedrungen und wird keinen großen Schaden anrichten, wenn man ihn entfernt. Ich reiße ihn mit einem Ruck heraus. Öttgerox schreit auf und fällt in Ohnmacht.
»So schlimm war es nicht«, sage ich.
Ich werfe einen Blick auf den kleinen Ofen. Ich habe schon eine Weile nichts mehr gegessen. Ich öffne die Tür. Vielleicht ist ja noch etwas drin. Es ist tatsächlich noch ein Stück Gebäck da. Ich nehme es heraus und biete Makri die Hälfte an. Sie lehnt es ab, also schiebe ich mir das Stück ganz in den Mund.
»Öttgerox. Er ist ein Meister seiner Zunft. Ich glaube nicht, dass es einen besseren Koch in der ganzen Stadt gibt. Dieses Gebäck war vorzüglich.«
»Tatsächlich«, sagt Makri.
»Ja. Perfekt. Und bedenke nur die widrigen Umstände, unter denen er es gebacken hat. Ein transportabler Ofen, der Schnee, die angreifenden Orks, die Drachen, die über ihn hinwegfliegen. Trotzdem zaubert der Mann noch perfektes Gebäck. Nichts kann ihn davon abhalten …«
Ich unterbreche mich. Mir dämmert plötzlich, dass Öttgerox mich belogen hat. Er stöhnt, und ich helfe ihm sich aufzurichten. Die Wunde in seiner Wade ist nicht so schlimm.
»Öttgerox. Während ich den Mord an Calvinius untersucht habe, warst du der Einzige, dem ich vertraute. Weil du so ein großartiger Koch bist. Aber du hast mich belogen, stimmt’s? Du hast mir gesagt, dass niemand deine Küche betreten hätte und du dich die ganze Zeit darin aufgehalten hast. Das war gelogen, hab ich Recht?«
Öttgerox sieht mich hilflos an. Er ist gerade mit einem Pfeil im Bein dem Schlachtfeld entkommen und nicht gerade in der Verfassung, mir allzu viel Widerstand zu leisten.
»Ja. Bewarius und Rhizinius sind hereingekommen. Dann bin ich mit meinem Assistenten und Bewarius kurz in die Vorratskammer gegangen.«
»Warum?«
»Wir haben Wetten für die Rennen abgegeben. Alle Küchenangestellten im Büro des Konsuls geben normalerweise ihr Geld dem Koch von Bewarius, und der platziert dann unsere Wetten beim Buchmacher.«
»Warum hat in dem Fall Bewarius das Geld genommen?«
»Er hat gesagt, sein Koch wäre krank. Wir fanden es zwar auch merkwürdig, dass der Assistent des Konsuls an Stelle seines Kochs Wetten annimmt, aber andererseits wetten diese Bonzen ja auch ganz gern.«
Ich nicke. Das lieferte Bewarius einen sehr passenden Vorwand, um den Chef und dessen Assistenten für einige Momente aus dem Weg zu räumen.
»Warum musstet ihr deswegen in die Vorratskammer gehen?«, frage ich nach.
»Aus Gründen der Diskretion. Der Konsul schätzt es nicht, wenn seine Angestellten während der Arbeitszeit Wetten abschließen.«
»Und wo hat sich Rhizinius in dieser Zeit aufgehalten?«
»Er war allein in der Küche.«
Rhizinius war allein in der Küche. Und hat zweifellos ein bisschen Gift verstreut. Ich war so damit beschäftigt, mir zu überlegen, warum der Konsul ganz allein in den Korridor zurückgekommen ist, dass ich nicht überprüft habe, wohin Rhizinius und Bewarius in der Zwischenzeit gegangen sind.
Sie sind in die Küche geschlichen. Öttgerox hat mich belogen. Ich helfe ihm, seine Wade zu verbinden. Seine Lügen haben meine Ermittlungen zwar erheblich erschwert, aber ich bringe es nicht über mich, einen Mann zu hassen, dessen Fähigkeiten in der Küche wohl unübertroffen sind.
Die Orks stehen vor unseren Toren. Ich sollte irgendwas Martialisches tun.
»Wieso wusstet Ihr, dass ich gelogen habe?«, erkundigt sich Öttgerox.
»Eure exzellenten Kochkünste haben Euch verraten. Ich habe Euer Backwerk im Büro des Konsuls gekostet, auf dem Truppenübungsfeld, und ich habe gerade das gegessen, was Ihr während des Angriffs der Orks gebacken habt. Jedes Stück Gebäck war einfach perfekt. Ihr seid fähig, selbst unter den schwierigsten Umständen perfektes Backwerk herzustellen. Aber dann ist mir eingefallen, dass ich an dem Tag, an dem Calvinius ermordet wurde, in eines Eurer Gebäckteilchen gebissen habe, das etwas zu wenig gegart war. Die einzige Erklärung dafür ist, dass Ihr den Ofen unbeaufsichtigt gelassen habt.«
Öttgerox schlägt die Augen nieder. »Es war ein ganzes Blech mit Gebäck. Es war zu weich in der Mitte. Das Backwerk hätte die Küche gar nicht verlassen dürfen.«
»Macht Euch keine Vorwürfe. Man muss seine Wette platzieren, solange man kann.«
»Thraxas!«, bellt die lauteste Stimme im Weiten Westen. Es ist Viaggrax, der anscheinend glimpflich davongekommen ist. »Das war vielleicht ein höllisches Gemetzel! Seit wann können Drachen im Winter so weit fliegen? Die Hälfte meiner Leute ist gefallen, bevor wir auch nur in die Nähe der Orks gekommen sind.«
Viaggrax und seine überlebenden Söldner haben ihre Verwundeten in die Stadt getragen und wollen sich jetzt medizinisch versorgen lassen, bevor sie die Zinnen bemannen. Einige seiner Leute sind schwer verwundet, und viele von ihnen sind gestorben.
»Ist das da Toggalgax?«
Viaggrax nickt.
»Der arme Junge. Seine erste Schlacht, und er lässt sich gleich umbringen.«
Makri tritt zu dem Leichnam. Er ist übel zugerichtet. Ausdruckslos sieht sie ihn an und zuckt nicht einmal mit der Wimper.
»Weißt du schon, dass Euer Prinz auch gefallen ist?«, erkundigt sich Viaggrax.
»Das wusste ich noch nicht.«
»Er war ein schlechter Führer.«
Das stimmt. Es war zwar nicht nur sein Fehler, dass die Orks uns überraschen konnten, aber er hätte Lisutaris’ Warnungen mehr Bedeutung beimessen müssen.
Makri tritt von Toggalgax’ Leichnam weg. »War jemand dafür verantwortlich? Ich meine, für diesen Ork-Magier in Turai und diesen überraschenden Angriff? Hat jemand die Stadt verraten?«
»Rhizinius, denke ich.« Ich sage es so leise, dass außer Makri niemand meine Worte hören kann. Sie nickt.
Plötzlich galoppieren Berittene in die Lustgärten. Es sind General Pomadius, Lisutaris und einige Bonzen. Vom Konsul ist nichts zu sehen. Ist er ebenfalls gefallen? Offiziere, hasten mit Befehlen von General Pomadius hierhin und dorthin, geben Anweisungen und sammeln die verstreuten Truppen.
»Ist das da nicht Rhizinius’ Kutsche?«, fragt Makri und deutet auf eine Karosse hinter der des Generals.
»Sieht so aus.«
Makri geht los. Ich folge ihr. Es ist zwar nach dieser katastrophalen Schlacht nicht der richtige Moment, meine Ermittlungen weiterzuführen, aber ich würde trotzdem gern ein Wörtchen mit Rhizinius wechseln.
Ich dränge mich durch die Soldaten und die Bonzen, welche die Kutsche des Generals umringen. Keiner von ihnen schenkt mir Beachtung. Viele Soldaten laufen planlos in den Gärten herum, geschockt von dem Erlebnis. Makri reißt die Tür von Rhizinius’ Kutsche auf und hüpft hinein. Ich folge ihr etwas gemächlicher und ziehe die Tür hinter mir zu. Rhizinius hockt in seinen weichen Polstern und sieht Makri überrascht an.
»Rhizinius, du Hund!«, stoße ich hervor. »Ich weiß, dass du ein Verräter bist…«
Weiter komme ich nicht. Ich würde zwar gern noch einiges sagen, aber Makri wählt genau diesen Moment, um Rhizinius einen Dolch ins Herz zu stoßen. Ich starre Makri an, und dann Rhizinius.
»… und nach einem gerechten, ordentlichen Prozess werdet Ihr Euch für Eure Vergehen zu verantworten haben.«
Rhizinius sinkt vornüber. Er ist tot. Ich drehe mich zu Makri um.
»Hättest du nicht wenigstens warten können, bis ich meine kleine Rede beendet habe?«
»Warum denn?«
»Ich hatte ihm einiges zu sagen.«
Makri zuckt mit den Schultern. »Nichts davon war wichtig.«
»Dir ist doch hoffentlich klar, dass ich Rhizinius nur verdächtigt habe? Ich habe noch keinerlei Beweise gesammelt. Normalerweise exekutieren wir hier keine Leute nur aufgrund meiner Vermutungen. Damit warten wir bis nach dem Prozess.«
»In dieser Stadt wird es keine Prozesse mehr geben«, erklärt Makri.
»Vielleicht hast du Recht. Machen wir, dass wir hier herauskommen.«
Wir schlüpfen aus der gegenüberliegenden Tür heraus. In dem allgemeinen Durcheinander achtet niemand auf uns. Ich bedauere nicht gerade, dass Makri Rhizinius erdolcht hat. Er war schon lange mein Feind, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er die Stadt an die Orks verraten hat. Ganz zu schweigen von dem Mord an Calvinius. Vermutlich war er auch für den Tod von Calvinius’ Informant und für das Attentat auf Bewarius verantwortlich, womit er seine Fährte verwischen wollte. Aber ich bin trotzdem nicht zufrieden. Ich hätte ihm gern noch einige Takte erzählt. Makri hätte das wirklich noch abwarten können.
Wir stehen nur wenige Meter neben Lisutaris, der Herrin des Himmels. Ich flüstere Makri etwas zu.
»Sag nichts von dem, was gerade passiert ist.«
»Lisutaris«, meint Makri, »ich habe gerade Rhizinius umgebracht, weil er die Stadt an die Orks verraten hat.«
Die Zauberin wirkt überrascht. »Wie bitte?«
»Thraxas kann dir mehr Einzelheiten mitteilen.«
»Diese Einzelheiten müssen warten«, erwidert Lisutaris. »Ich werde am Osttor gebraucht.«
Sie sieht nicht gerade erholt aus.
»Du siehst nicht aus, als könntest du noch kämpfen«, gebe ich ihr zu bedenken.
»Genauso fühle ich mich auch«, gibt Lisutaris zu. »Dieser letzte Zauberspruch hat mich wirklich ausgelaugt.«
Tinitis Schlangenstrickerin taucht neben ihr auf. Sie sieht blendend aus und hält sich ein parfümiertes Spitzentaschentuch an die Nase, als wollte sie damit den Gestank des Todes von sich fernhalten.
»Tinitis hilft mir«, sagt Lisutaris trocken. »Sie verfügt noch über all ihre Zaubersprüche, da sie es bedauerlicherweise nicht rechtzeitig zum Schlachtfeld geschafft hat.«
»Ich sagte dir doch schon, dass mein Coiffeur nicht rechtzeitig fertig geworden ist«, verteidigt sich Tinitis.
Sie gehen davon. Die Orks scheinen die Stadt im Moment nicht stürmen zu wollen, aber von irgendwo dringt Rauch in meine Nase.
Makri zögert noch einen Moment. »Sag bitte niemandem, dass Prinz Amrag mein Bruder ist.«
»Du hast mein Wort darauf.«
Dann läuft sie hinter Lisutaris her.
Ein Zenturion kommt auf mich zu und will wissen, warum ich hier vollkommen nutzlos mitten in den Lustgärten herumstehe. Ich sage ihm, dass meine Phalanx vor den Mauern vernichtet wurde.
»Ach ja?«, schnauzt er mich an. »Und willst du hier den ganzen Tag lustwandeln? Marsch ans Südtor und melde dich auf den Zinnen.«
Ich hülle meinen Mantel enger um mich und gehe los. Da keine Drachen über die Stadt hinwegfliegen und auch kein Schlachtlärm zu hören ist, scheinen die Orks nicht sofort einen Angriff gegen die Stadt führen zu wollen. Der Brandgeruch jedoch wird stärker, je weiter ich nach Süden komme. Obwohl die Drachen nicht versucht haben, die Stadt dem Erdboden gleichzumachen, scheinen sie bestimmte einzelne Ziele angegriffen zu haben. Aus den Weizensilos am Hafen lodern haushohe Flammen, und die Feuerbekämpfungskarren donnern an mir vorbei, während ich zum Tor gehe. Ich suche einen Offizier und melde mich bei ihm. Er schickt mich auf die Mauer, von der aus ich auf den eisigen Strand hinausschaue. Es ist dunkel, und es schneit, aber nichts deutet auf einen Angriff hin. Ich habe Hunger.
»Immer noch auf den Beinen?«, fragt mich eine vertraute Stimme.
Es ist Ghurd. Ich bin so erleichtert, ihn zu sehen, dass ich ihn am liebsten umarmen würde. Aber ich bin nicht gerade ein Kuschelbär, also nicke ich nur.
»Immer noch. Der letzte Überlebende der Siebten Phalanx. «
Ghurd schüttelt erschöpft den Kopf. »Meine Phalanx ist beim ersten Angriff vollständig aufgerieben worden. Ich habe keine Ahnung, wie ich das überlebt habe.«
Ich schon. Er hat einfach jedem Ork, der ihm zu nahe kam, den Kopf abgehackt. Wir warten darauf, dass die Nacht zu Ende geht. Die Stimmung auf den kalten, ungeschützten Zinnen ist grimmig. Turais Armee ist vernichtet. Prinz Dös-Lackal ist gefallen, zusammen mit vielen Kommandeuren und zahllosen Soldaten. Vor den Toren steht eine orkische Armee, und es ist nicht damit zu rechnen, dass rechtzeitig Entsatz eintrifft. Man muss nicht so spitz wie ein Elfenohr sein, um zu begreifen, dass wir in ernsten Schwierigkeiten stecken.
Als mir einfällt, dass ich heute meinen Fall gelöst habe, und dazu noch einen sehr verwirrenden Fall, hätte ich beinahe gelächelt. Wen interessiert jetzt noch, wer Präfekt Calvinius umgebracht hat? Niemanden. Wir alle werden ihm sehr bald Gesellschaft leisten.