20. KAPITEL

Der Lärm, das Chaos und die Verwirrung sind unbeschreiblich. Offenbar konnten sich die orkischen Phalangen in der Deckung der Schneewehen an uns heranpirschen und mähen sich jetzt durch die ungeschützte Flanke der turanianischen Armee. Gleichzeitig überschütten uns die Drachen von oben mit Feuer. Ich wäre längst tot, wenn uns unsere Zauberer, die sich jetzt dank Lisutaris’ Warnung beinahe vollständig auf dem Schlachtfeld versammelt haben, nicht augenblicklich geschützt hätten.

In dem verheerenden Durcheinander versucht Senator Marius unsere Phalanx zu formieren und dem Feind zuzuwenden, aber das ist nicht so einfach. Die Männer sind in Panik, und da fast alle Phalangen rechts und links von uns Aufstellung genommen haben, um die aufmunternden Worte unseres Prinzen mit anzuhören, bleibt kaum Platz für ein solches Manöver. Speere, Schilde, Arme und Beine geraten völlig durcheinander, als eine andere Phalanx mit der unseren zusammenstößt. Das Schneetreiben wird stärker, und wir können unseren Feind nicht einmal sehen, obwohl wir die Schreie aus der Schlacht hören. Schon bald lösen sich unsere Reihen von dem Strom der Flüchtenden noch weiter auf. Bei ihnen handelt es sich um die Überlebenden der Truppen an unserer linken Flanke. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie sie im Handumdrehen beiseite gefegt wurden.

Derweil setzen die Drachen über uns ihren Angriff fort. Es müssen mindestens zwanzig sein. Jeder Drache trägt einen Reiter, einen Magier und vielleicht noch etwa zehn weitere Orks. Es sind Armbrustschützen, deren Bolzen tiefe Lücken in unsere Reihen reißen. Ihre Magier feuern ihre Zauber auf uns herunter und versuchen, die magische Schutzbarriere zu durchbrechen, die Lisutaris und ihre Kollegen errichtet haben. Feuerkeile zucken über den Himmel, als unsere Zauberer den Angriff erwidern.

In dem ohrenbetäubenden Lärm kann keiner die Befehle von Senator Marius hören. Seine Zenturionen mühen sich ab, die Männer in Schlachtordnung zu bringen. Natürlich geht es auf einem Schlachtfeld immer laut und chaotisch zu, aber eine gut ausgebildete Phalanx sollte damit fertig werden. Wir sind aber alles andere als eine gut ausgebildete Phalanx. Als wir uns endlich umgedreht haben und dem Feind entgegensehen, klaffen große Lücken in unseren Reihen. Unsere ganze linke Flanke hinkt hinterher. Ich schreie die Männer um mich herum an, ihre Lanzen endlich in Position zu bringen. Die Männer bemühen sich redlich, aber wir sind nicht einmal annährend bereit, als in dem Schneetreiben vor uns eine orkische Phalanx auftaucht. Sie marschieren in beeindruckender Formation auf uns zu. Mit ihren verwegenen Gesichtern, der schwarzen Heidung und der nüchternen Rüstung bieten sie einen Anblick, bei dem den Neulingen an meiner Seite das Herz in die Uniformhose rutscht.

Als die Orks vor uns auftauchen, weiß ich, dass wir verloren sind. Was wir auch immer über die Schwächen der orkischen Armee gewusst zu haben glauben, wir haben uns gründlich getäuscht. Diese Phalanx marschiert Furcht einflößend diszipliniert. Kaum sehen sie uns, gellen Hörner, und die langen Spieße, die sie in den Himmel gestreckt haben, senken sich in unsere Richtung und bilden eine scharfe und tödliche Wand. Die orkische Phalanx verfällt in einen langsamen Trab und wird immer schneller, je näher sie uns kommt. Die Männer um mich herum greifen nach ihren Kurzspeeren, um sie gegen den Feind zu schleudern, in der Hoffnung, eine Bresche in ihre Reihen zu reißen. Aber es funktioniert nicht so gut, wie es sollte. Meine Phalanx sollte eigentlich gleichzeitig die Kurzspeere schleudern, damit sie wie ein stählerner Sturm in die Linien des Feindes einschlagen. Aber die Männer in unserer Phalanx hören die Befehle nicht und scheinen auch die ganze Ausbildung vergessen zu haben. Sie schleudern die Speere viel zu früh ab. Die meisten landen weit vor dem Feind harmlos im Boden. Die disziplinierten Orks haben abgewartet. Ohne ihren Lauf zu unterbrechen, lassen sie den Hagel ihrer Kurzspeere los. Eine Wolke aus spitzem Metall regnet auf unsere Köpfe herunter. Da unsere Zauberer vollkommen mit dem Kampf gegen die Drachen beschäftigt sind, haben wir keinen Schutz vor diesen feindlichen Speeren. Jeder Mann trägt zwar seinen Harnisch und einen Helm, aber ein spitzer, schwerer Speer, der aus der Luft heransaust, durchschlägt die Rüstung eines einfachen Soldaten mit Leichtigkeit. Selbst wenn er von dem Harnisch des einen Mannes abprallt, trifft er mit großer Wahrscheinlichkeit das Bein oder den Arm eines anderen Soldaten und reißt dort verheerende Wunden, die den Betreffenden außer Gefecht setzen. Männer rechts und links von mir fallen zu Boden. Ich halte mir den Schild über meinen Kopf. Ein Speer durchdringt ihn und kratzt an meinem Helm vorbei. Glücklicherweise verwundet er mich nicht.

Mittlerweile klaffen in der ersten Reihe meiner Phalanx gähnende Lücken, die immer größer werden, als eine unterstützende Einheit der leichten orkischen Infanterie, die neben ihrer Phalanx herläuft, Speere und Pfeile auf uns herabregnen lässt. Ich befehle den Männern hinter mir, vorzutreten und die Lücken zu füllen, aber es ist sinnlos. Panik greift um sich. Viele Lanzen, die eigentlich aus der ersten Reihe unserer Phalanx herausragen sollten, liegen entweder auf dem Boden oder deuten mit der Spitze in alle möglichen Richtungen, während die Männer hastig versuchen, sich angesichts des feindlichen Angriffs in Formation aufzustellen. Der Mann vor mir stürzt zu Boden. Ein Pfeil hat sein Auge durchbohrt. Ich trete vor und nehme seine Position ein. Jetzt stehe ich in der auseinander gerissenen Frontlinie. Die Orks sind kaum fünfzehn Meter entfernt und greifen uns im Laufschritt an. Dabei halten sie ihre langen Spieße unbeugsam in einer Reihe. Ich packe die Lanze, die über meiner Schulter zittert und von dem Mann hinter mir unsicher festgehalten wird, und richte sie direkt auf die Orks, während ich auf den Aufprall ihrer Phalanx warte. Dabei murmele ich ein Stoßgebet in den Himmel. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies die letzten Worte sind, die ich in diesem Leben spreche.

Die dunkle Ork-Phalanx prallt auf unsere Schlachtreihe. Meine Lanze durchdringt den Hals eines Orks, aber nur sehr wenige andere Lanzen meiner Leute landen ebensolche Treffer. Unsere Frontlinie zerbricht unter dem Aufprall wie Glas, und die Orks mähen uns nieder. Ich liege am Boden unter einem Haufen von Leichen. Füße trampeln uns in den Schnee, jemand liegt auf meinem Gesicht, und ich bekomme kaum noch Luft. Dank meiner Körperkraft gelingt es mir, mich auf die Knie aufzurichten. Mein Helm ist weg, und ich kann meine Arme nicht befreien. Ein Ork aus der Mitte ihrer Phalanx zieht sein Schwert, um mir den Kopf abzuschlagen. Ich schreie den Zauberspruch, den ich in Reserve habe und schon vor langer Zeit gelernt habe. Es ist ein Bann, der Orks tötet. Mein Angreifer fällt lautlos zu Boden, niedergemäht von Magie. Drei oder vier andere Orks in seiner Nähe werden von dem Spruch ebenfalls getötet. Mittlerweile habe ich meine Arme wieder befreit und mein Schwert gezogen. Aber meine Lage bleibt hoffnungslos. Meine Phalanx ist besiegt, ich bin von meiner Einheit abgeschnitten und werde von Hunderten von Orks umringt. Ich kann meinen Bann noch einmal benutzen, bevor er aus meiner Erinnerung gelöscht wird. Die vier Orks, die mir am nächsten stehen, fallen tot um. Das war’s. Meine Magie ist erschöpft. Ich habe acht Orks getötet, was kein schlechter Schnitt ist. Ich hebe meinen Schild, als sie sich von allen Seiten auf mich stürzen.

Plötzlich blitzt es, und um mich herum wird es grün. Ich falle hin und lande in dem zertrampelten Schneematsch. Als ich mich wieder aufrichte, bin ich der Einzige, der noch steht. Um mich herum liegen haufenweise tote Orks. Irgendein Menschenzauberer ist uns zu Hilfe gekommen. Mehr Aufmunterung brauche ich nicht. Ich werfe mir den Schild über die Schulter und laufe los, springe über Leichen und Waffen, während ich durch das Schneetreiben renne und nach bewaffneten Menschen Ausschau halte. Wie üblich bei einer Schlacht habe ich nicht die geringste Ahnung, wie der Kampf läuft. Aber ich vermute, dass es nicht besonders gut für Turai aussieht.

Etwa hundert Meter weiter treffe ich auf die Reste meiner Phalanx. Sie laufen unter dem Schutz der jungen Anemari Donnerschlag, die gerade erst in die Zaubererinnung aufgenommen wurde. Die junge Hexe hat ihr Pferd verloren, und ihr Regenbogenumhang besteht nur noch aus Fetzen, aber was auch immer ihr widerfahren ist, sie hat es geschafft, einen Teil meiner Phalanx zu retten.

»Guter Spruch«, sage ich. »Habt Ihr noch ein paar übrig?«

»Nur noch einen«, antwortet sie.

Sie hat etwa vierzig Männer um sich geschart, von denen einige verwundet sind. Von Senator Marius oder einem seiner Zenturionen ist nichts zu sehen. Nicht einmal ein Korporal ist dabei. Ich übernehme das Kommando und lasse die Männer in vier Reihen zu zehn antreten. Wir marschieren in Richtung Stadtmauer, obwohl die in dem Schneetreiben und dem Qualm, der die Zaubersprüche begleitet, nicht mehr zu sehen ist.

Über uns fegen immer noch Drachen durch die Lüfte, obwohl einige bereits getötet wurden. Andere sind gelandet und setzen mehr Truppen und Zauberer ab, um den Angriff zu verstärken. Die Absichten der Orks sind mir ziemlich klar. Prinz Amrag möchte Turai erobern, um die Stadt als Brückenkopf gegen den Westen einzusetzen. Er ist das Risiko eingegangen, uns im Winter anzugreifen, bevor unsere Verbündeten eintreffen, und seine Risikobereitschaft könnte sich für ihn auszahlen. Da die offene Feldschlacht verloren ist, müssen jetzt alle Turanier in die Stadt zurückkehren, um sie zu verteidigen. Ich führe meine Leute zum Stadttor. Die Hauptstreitmacht der Orks rückt unaufhaltsam vor. Wenn das Gemetzel unter den turanianischen Truppen überall so schlimm war wie in diesem Frontabschnitt, haben wir nur geringe Chancen, die Stadt lebend zu erreichen.

Ich peitsche meine kleine Einheit weiter. Anemari läuft neben uns her. Sie ist kalkweiß im Gesicht, und mir ist klar, dass sie bis ins Mark erschüttert ist. Sie hat noch nie so viele Leichen gesehen und musste auch nicht über einen Teppich aus toten Menschen und blutverschmierten Orks laufen. Ich kümmere mich um sie, während wir weiterrennen. Die junge Zauberin hat mir das Leben gerettet. Wenn es sein muss, trage ich sie in die Stadt zurück.

Das Stadion Superbius taucht jetzt zu unserer Rechten auf. Es ist ein riesiges, mit Schnee bedecktes Bauwerk. Vor seinen Eingängen liegen die Leichen niedergemetzelter Kämpfer, die von den Drachen und den Zauberern getötet wurden, als sie aus dem Stadion strömten, um sich in die Schlacht zu werfen. Ich frage mich, ob Viaggrax ebenfalls unter den Toten ist.

Weiter vorn im Schneetreiben erkenne ich eine große Abteilung von Orks. Ich hebe die Hand und halte meine Truppe an. Ich zögere. Hätte ich Ghurd und eine Truppe verlässlicher, kampferprobter Männer bei mir, würde ich angreifen. Meine Kameraden jedoch sind zum größten Teil blutjunge Rekruten, von denen einige verwundet und die meisten vor Angst wie gelähmt sind. Ich traue ihnen nicht zu, sich eine Schneise durch ganz gleich welchen Feind zu schlagen. Ein Windstoß zerreißt kurz den Schneeschleier, und ich kann die Umrisse vor uns genauer erkennen. Auf einem kleinen Hügel steht Makri mit erhobenen Waffen. Lisutaris, die Herrin des Himmels, liegt bewusstlos oder tot zu ihren Füßen. Makri beschützt die Zauberin gegen eine Übermacht von mindestens hundert Orks. Ihr Gesicht wird zwar von dem Helm bedeckt, aber sie wäre bei all dem Haar, das darunter hervorquillt, und den Waffen, unter denen sie fast verschwindet, auch so kaum zu erkennen. Sie schwingt ein dunkles Ork-Schwert und eine schwere silberne Streitaxt. Die Orks greifen sie von allen Seiten an.

Ich befehle meinen Männern den Angriff. Der Befehl wird nur sehr zögernd aufgenommen. Ich habe keine Zeit, die Soldaten lange zu bitten, ja nicht einmal Zeit genug, um ihnen zu drohen. Makri wird in einigen Sekunden tot sein. Ich stürme auf sie zu und hoffe, dass meine Männer mir folgen. Als ich auf den kleinen Hügel zulaufe, habe ich plötzlich das merkwürdige Gefühl, dass die Zeit sehr langsam verstreicht. Ich nehme alles um mich herum überdeutlich wahr. Ich schlage einen Bogen um den Leichnam eines gewaltigen Drachens, und der Umweg scheint ewig zu dauern. Ich sehe, wie Makri sich ihrer Angreifer erwehrt, aber obwohl ich laufe, komme ich ihr irgendwie nicht näher. Ich muss zusehen, wie die Orks sie angreifen. Ihre Schwerter und Speere scheinen aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Ich habe Makri schon bei vielen Gelegenheiten kämpfen sehen, und darunter waren auch einige äußerst schwierige Situationen. Aber ich habe weder Makri noch jemand anders jemals so fechten sehen, wie sie es jetzt tut. Sie wirbelt um ihre Achse und windet sich auf eine fast schon unmögliche Art und Weise. Dabei wehrt sie die Klingen und Speere ihrer Feinde mit einer beinahe unglaublichen Schnelligkeit ab. Sie schlägt einen Gegner vor sich nieder, während ein anderer einen Speer von hinten gegen sie schleudert. Den wehrt sie ebenfalls ab, ohne überhaupt hinzusehen, gleitet dabei aus der Reichweite von zwei weiteren Schwertern, wirbelt herum, rammt ihr Schwert in das Gesicht des Speerwerfers und hackt einem anderen Ork den Schwertarm ab. Sie springt über eine Klinge, die auf ihre Beine zielte, und noch bevor sie wieder landet, hat ihre Axt dem Angreifer den Schädel gespalten. Ich laufe derweil immer noch auf sie zu. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, dass Makri wirklich die größte Schwertkämpferin ist, die je gelebt hat, selbst wenn diese wenigen Sekunden, die ich sie im Kampf sehe, ihre letzten sein würden.

Mein Herz hämmert. Ich kann nicht schneller laufen. Und es wird mich zu viel Zeit kosten, bis ich Makri erreiche. Lange kann sie die Orks nicht mehr hinhalten, ganz gleich, wie hervorragend sie kämpft. Sie hat es mit über hundert Gegnern zu tun und findet nirgendwo Deckung. Ihr Kettenhemd ist bereits zerfetzt, und einige Pfeile stecken in ihrer ledernen Hose. Zu ihren Füßen türmen sich die Leichen, aber die Orks setzen erbarmungslos nach. Ich bin nur noch sieben Meter entfernt, als sie einen Schlag gegen den Kopf erhält und schwankt. Zwischen mir und ihr befinden sich noch vier Reihen Orks. Und ich bin allein, weil ich meine Gefährten abgehängt habe. Ich breche wie eine Ein-Mann-Phalanx in die hinteren Reihen der Orks ein, durchstoße sie und schleudere sie in alle Richtungen. Makri ist bereits auf den Knien und kämpft immer noch. Ich erschlage einen Ork, der sie gerade durchbohren will, und prügele dann wie wild auf die anderen ein. Das verblüfft die Orks einen Moment, und sie weichen etwas zurück. Makri steht wieder auf den Beinen und hat die Waffen erhoben. Blut rinnt unter ihrem Helm heraus.

»Gut, dich wiederzusehen, Thraxas«, keucht sie.

»Danke, gleichfalls«, erwidere ich kurzatmig.

Als die Orks begreifen, dass ich allein bin, zögern sie nicht länger. Sie stürmen aus allen Richtungen auf uns zu. Makri steht auf der einen Seite neben Lisutaris und ich auf der anderen, und wir machen uns darauf gefasst, unserem Schicksal entgegenzutreten. Plötzlich zuckt eine grüne Flamme durch die Luft, und die Orks fallen zu Boden. Erneut hat Anemari Donnerschlag mich gerettet. Sie hat uns endlich eingeholt und ihren letzten Spruch gewirkt. Ich sollte Dankbarkeit empfinden, aber ich wünschte, sie wäre etwas früher gekommen. Ich sinke auf die Knie. Ich bin viel zu weit und viel zu schnell gelaufen. Außerdem habe ich eine Verletzung an der Schulter davongetragen. Ich muss erst einmal zu Atem kommen.

»Ruh dich ruhig aus«, meint Makri. »Willst du nicht noch ein Bier trinken, während du es dir da unten gemütlich machst? «

Ich ziehe eine kleine Taschenflasche mit Kleeh unter meinem Harnisch hervor. »Wir müssen leider damit vorlieb nehmen.«

Ich trinke einen Schluck und reiche Makri den Flakon, die meinem Beispiel folgt. Anemari Donnerschlag beugt sich derweil über Lisutaris.

»Sie lebt.«

»Natürlich lebe ich!«, fährt Lisutaris sie an, und schlägt die Augen auf. »Was zum Teufel ist denn passiert?«

»Du bist von einem Drachenschweif getroffen worden«, erklärt Makri.

»Und was ist mit dem Drachen passiert, der dranhing?«

»Du hast ihn getötet.«

»Wenigstens etwas.«

Lisutaris schaut sich auf dem eisigen Schlachtfeld um. »Wir müssen in die Stadt zurück«, sagt sie schließlich.

Also marschieren wir los, eine Streitmacht von vierzig Soldaten, zwei Zauberinnen und einer Leibwächterin. Als wir uns Turai nähern, bläst ein starker Wind aus dem Osten, der den Schnee vertreibt. Die Tore sind geschlossen, und vor ihnen findet ein erbittertes Gefecht statt. Die siegreichen Orks bestürmen die letzten Reste der turanianischen Armee. Es ist längst keine geordnete Truppe mehr, sondern eine verzweifelte Horde Soldaten und Söldner, die verzweifelt nach einem Fluchtweg sucht und keinen findet.

Lisutaris bleibt plötzlich stehen und sieht sich suchend um. »Harmonius?«, ruft sie dann. »Chomenius?«

Harmonius AlpElf und Chomenius der Fleischwolf schreiten aus dem weißen Dunst auf uns zu.

»Lisutaris! Ich dachte, du wärst tot.«

»Noch nicht.«

»Wir haben viele Drachen vom Himmel geholt«, erklärt Harmonius. »Aber unsere Truppen konnten wir nicht retten.«

Die beiden mächtigen Zauberer sind unversehrt. Als die Zauberer auf Lisutaris’ Notruf reagierten, sind die meisten ohne ihre Leibwächter gekommen. Ihr Überleben ist vermutlich die letzte Chance für Turai. Aber es dürfte nicht leicht sein, sie wieder in die Stadt zu bringen. Sie haben ihre Magie verbraucht, und die orkische Armee steht zwischen uns und den Toren.

Am Himmel kreisen nur noch zwei oder drei Drachen. Einige sind unseren Zauberern zum Opfer gefallen. Andere machen vielleicht gerade nur eine Pause, weit weg von der Schlacht. Drachen sind im Winter nicht sonderlich ausdauernd und können der ständigen Belastung einer Schlacht nicht so gut standhalten wie im Sommer. Mittlerweile dürften selbst die Biester, die noch fliegen, schwächer werden und kaum noch Feuer speien können. Die Zauberer, die sie tragen, haben möglicherweise ebenfalls ihre Zaubersprüche verbraucht. Wenn Turai die orkische Armee hindern kann, in die Stadt einzudringen, könnten wir vielleicht die Mauern verteidigen.

»Wir sollten nach Süden gehen«, rate ich. »Wir umgehen die Orks und versuchen, durch die Tore am Ufer hineinzukommen.«

»Und der Schlacht ausweichen?«, protestiert Makri.

»Wir müssen die Zauberer wieder in die Stadt bringen, damit sie ihre Magie neu aufladen können.«

Es ist nicht unmöglich, dass wir uns an den Orks vorbeischleichen können, weil das schlechte Wetter uns verbirgt. Das würde zwar bedeuten, die restlichen Soldaten am Osttor ihrem Schicksal zu überlassen, aber ich wüsste nicht, was wir noch für sie tun könnten. Lisutaris wägt unsere Möglichkeiten ab. Es gefällt ihr genauso wenig wie mir, die turanianischen Soldaten am Tor im Stich zu lassen. Ich zucke mit den Schultern und zücke mein Schwert.

»Wohlan denn«, sage ich. »Greifen wir eben an.«

Ich stelle meine vierzig Leute auf und bereite sie mental darauf vor, die paar tausend Orks zu massakrieren, die zwischen uns und der Stadtmauer stehen.

»Haltet Euch einfach hinter mir«, befiehlt Lisutaris. Wir folgen ihr zum Schlachtgetümmel. Einige hundert Turanier sitzen zwischen der Stadtmauer und den Orks in der Falle und schlagen ein aussichtsloses Gefecht. Sie benutzen umgestürzte Wagen als Deckung. Auf den Mauern schleudern Männer Geschosse auf die Orks, und Zauberer auf den Rampen wirken ihre Banne. Aber die Orks verfügen ebenfalls über Magier, die ihre Truppen beschützen, und sie erwidern das Feuer. Mittlerweile lassen die orkischen Truppen einen Pfeilhagel auf unsere Leute niedergehen. Und eine orkische Phalanx marschiert direkt auf uns zu. Ihrem Aussehen nach zu urteilen sind das frische Truppen, die sich anscheinend darauf vorbereiten, die letzten menschlichen Überlebenden vom Schlachtfeld zu fegen. Danach werden sie versuchen, die Tore zu erstürmen. Die orkische Armee hat zwar keine Belagerungsmaschinen, aber nachdem sie die turanianischen Truppen auf dem Feld beinahe vollständig vernichtet und dafür gesorgt haben, dass unsere Zauberer ihre ganze Magie verbraucht haben, benötigen sie vielleicht auch keine Maschinen, um sich einen Weg in die Stadt zu bahnen. Ein Rammbock und ein paar Zaubersprüche dürften genügen.

Wir marschieren hinter Lisutaris her, die stark humpelt. Makri stützt sie. Sie hat ihren Helm abgenommen. Ihr Hals ist blutverkrustet, und ihr Haar ist ebenfalls blutig. Als wir noch etwa hundert Meter von den Orks entfernt sind, bleibt Lisutaris stehen.

»Hat noch jemand einen Spruch auf Lager?«, fragt sie Harmonius AlpElf und Chomenius den Fleischwolf. Die beiden schütteln nur den Kopf. Weder sie noch Anemari Donnerschlag haben auch nur noch einen winzigen Zauber im Gedächtnis gespeichert. Lisutaris nickt. Sie ist erschöpft, und ihre Wunden sind sicher sehr schmerzhaft. Es ist nicht gerade eine Kleinigkeit, wenn man von einem Drachenschweif erwischt wird. Sie wühlt in ihrem Wams und zieht eine etwas mitgenommene Thazisrolle heraus, die sie mit einem schwächlichen Machtwort entzündet. Sie inhaliert tief. Über unseren Köpfen stürzen sich zwei Drachen in die Schlacht und bereiten sich darauf vor, die Verteidiger vor dem Tor in Asche zu verwandeln. Im gleichen Moment senkt die orkische Phalanx ihre Spieße und verfällt in einen Laufschritt.

Lisutaris reicht Makri die Thazisrolle. Dann hebt die Zauberin ihre Arme hoch in die Luft, deutet mit jeder Hand auf einen Drachen und intoniert den Singsang einer Beschwörung. Ich habe so etwas noch nie gehört. Obwohl ich durchaus mit den meisten magischen Zungen vertraut bin, kenne ich nicht einmal diese Sprache. Es ist eine grobe, gutturale Anrufung, und als sie den Zauber wirkt, tritt Harmonius AlpElf plötzlich ziemlich unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Anemari Donnerschlag ist sichtlich vom Donner gerührt. Nur Chomenius der Fleischwolf nickt anerkennend. Vermutlich ist es ein besonders unerfreulicher Zauberspruch, den die Mitglieder der Zaubererinnung wohlweislich lieber in den Tiefen ihrer Gewölbe lassen. Ein Zauber, zu dem Lisutaris nur im allergrößten Notfall greifen würde.

Es ist schon so kalt wie im Grab der Eiskönigin. Als Lisutaris die Anrufung intoniert, wird es noch kälter. Der gähnende Schlund des Grabes der Eiskönigin scheint aufzuklaffen und uns mit einer eisigen Wolke einzuhüllen. Der Wind steigert sich zu einem röhrenden Brausen, als zwei Lichtstrahle eines dunkelvioletten Lichts von Lisutaris’ Händen in den Himmel zucken und in die beiden Drachen einschlagen. Deren wütende Schmerzensschreie sind schier unerträglich und übertönen sogar den Schlachtenlärm. Die Drachen werden mitten im Flug in der Luft angehalten und winden sich, bevor Lisutaris ihre Hände langsam sinken lässt und sie aus dem Himmel pflückt. Während sie das tut, zucken Lichtblitze von den Tieren durch die Luft auf die Herrin des Himmels zu. Die Magier auf den Drachen wehren sich. Die Lichtblitze treffen Lisutaris und schütteln sie durch, aber sie bleibt auf den Beinen, gestützt von Makri. Einen Moment scheint die Zeit stillzustehen. Die Drachen hängen bewegungslos in der Luft, während Lisutaris sich gegen deren kolossale Kraft und die Magie ihrer orkischen Reiter wehrt. Dann gibt etwas nach, und die Drachen hören auf, mit ihren mächtigen Schwingen zu schlagen. Sie stürzen wie Pfeile zur Erde, direkt auf die orkische Phalanx zu. Als die Drachen auf dem Boden aufschlagen, explodieren sie in zwei mächtigen Feuerbällen.

»So was kriegt man nicht jeden Tag zu sehen«, flüstert Makri.

Die orkische Phalanx wird von der Wucht der Explosion zerrissen. Die überlebenden Truppen der Orks weichen vor dem Flammenmeer zurück. Lisutaris sinkt zu Boden. Ich hebe sie auf, lege sie sanft über meine Schulter und befehle meinen Männern anzugreifen.