30
Seit Martin Beck und die Generation, zu der er gehörte, Rinder gewesen waren, hatte sich Weihnachten von einem schönen traditionellen Familienfest zu einer Sache entwickelt, die man nicht anders als einen ökonomischen Geniestreich oder als kommerziellen Wahnsinn bezeichnen konnte. Länger als einen Monat vor Heiligabend, der ja der große Tag war, hämmerte eine beinahe desperate Werbung für fast alle Konsumgüter auf die Nerven der Menschen ein, und die einzige Absicht war offenbar, den Leuten das Geld bis auf die letzte Münze aus der Tasche zu ziehen. Weihnachten war in vieler Beziehung das Fest der Kinder, aber nur allzu viele der Kleinen weinten vor Stress und Ermüdung bereits mehrere Wochen, bevor der gemietete (und nicht selten betrunkene) Weihnachtsmann endlich an die Tür klopfte.
Für viele Branchen im Geschäftsleben bedeutete Weihnachten alles. Der Buchhandel gehörte beispielsweise dazu. Der Autor, dem es nicht glückte, dass seine Bücher im Weihnachtsgeschäft verkauft wurden, konnte im Großen und Ganzen einpacken, denn am Nachmittag des Heiligabend war es so, als ob ein eiserner Vorhang vor den Verkaufstischen der Buchhandlungen heruntergelassen wurde. Gerade das war eigenartigesweise eine kleine schwedische Spezialität, denn schon im Nachbarland Dänemark wurden Bücher nach Qualität und zu jeder beliebigen Jahreszeit verkauft.
Außerdem schien es so, als ob die gesamte Bevölkerung von einem nervlich bedingten Bedürfnis erfasst wurde, sich an einen anderen Ort zu begeben. Die Autoschlangen waren endlos, alle Charterflüge nach Gambia, Malta, Marokko, Tunis, Malaga, Israel, Kanada, den Kanarischen Inseln, an die Algarve, auf die Färöer Inseln, nach Capri, Rhodos und zu verschiedenen anderen, um diese Jahreszeit wenig lockenden Zielen waren ausgebucht, die grob vernachlässigte staatliche Eisenbahn musste Unmengen von Extrazügen einsetzen, und offensichtlich unbequeme Busse donnerten durchs Land, zu den geheimnisvollsten Reisezielen wie Säffle, Borgholm und Hjo. Sogar die Fähre nach Djurgärden und die Schiffe nach Visby waren vollbesetzt.
Martin Beck konnte in dem Nachtzug nach Malmö nicht schlafen, obwohl er in seiner Eigenschaft als hoher Beamter l. Klasse fahren durfte, und das lag nicht nur daran, dass der zweite Mann in der Kabine auf dem Bett über ihm schnarchte, im Schlaf redete und mit den Zähnen knirschte. Schon in Älvsjö kletterte der Mann herunter und ging, um sein Wasser abzuschlagen, wie es in gekünsteltem, aber als vornehm angesehenem Schwedisch heißt. Das wurde dauernd wiederholt, und als der Zug bereits über den Rangierbahnhof von Malmö schwankte, pisste der Mitreisende zum 14. Mal. Vermutlich litt er an Blasenkatarrh.
Doch Martin Beck ließ sich nicht davon stören, jedenfalls nicht übermäßig. Es waren eher seine Gedanken, die in alle möglichen Richtungen liefen. Meistens beschäftigten sie sich mit Heydt. Einige Stunden vorher, als Rhea nackt am Schlafzimmerfenster in Röpmangatan gestanden hatte und er selbst auf dem Bett lag und ihren Rücken und die muskulösen Waden bewunderte, hatte er plötzlich an Gunvald Larssons Warnung gedacht und wäre beinahe aufgesprungen und hätte sie vom Fenster weggezogen. Gunvald Larsson pflegte fast niemals solche Sachen zu sagen, jedenfalls nicht ohne gewichtigen Grund. Und eine Weile später, während Rhea unter ununterbrochenem Reden und lautem Geklapper den Hummer in eine ausgesuchte Rreuzung der Varianten Vanderbilt und Rhea Nielsen verwandelte, war er durch die Wohnung gegangen und hatte alle Springrollos heruntergezogen.
Heydt war natürlich gefährlich, aber war er noch in Schweden?
Und war dieses Fragezeichen für Martin Beck wirklich Grund genug, um vier loyalen Rollegen, von denen drei außerdem Kinder hatten, das Weihnachtsfest zu verderben?
Das musste die Zukunft zeigen. Oder die Zukunrt würde nicht das Geringste beweisen, jedenfalls nicht über Reinhard Heydt.
Im Inneren wünschte Martin Beck, dass Heydt den Weg über Oslo nehmen würde, damit Gunvald Larsson die Chance erhielt, ihm welche in die Schnauze zu hauen. Ein besseres Weihnachtsgeschenk konnte Gunvald Larsson gar nicht bekommen.
Dann dachte er eine Weile an die angenehm gelassene Stimmung, die Rönn und Melander sicher bei der gesamten Polizei in Heisingborg verbreiten würden. Aber sie waren tüchtig. Melander war es immer gewesen, und Rönn war es entgegen den pessimistischen Erwartungen vieler geworden, und wenn Heydt versuchte, sich auf diesem Weg außer Landes zu begeben, hatte er keine große Chance, durchzukommen.
Aber Malmö … Ja, Malmö war ehrlich gesagt die reine Hölle, was die Grenzüberwachung betraf. Auf diesem Weg wurde fast das gesamte Rauschgift ins Land geschleust und fast alles andere Schmuggelgut ebenfalls.
Der Ma«n mit der schwachen Blase war schneller aus dem Bett, und da Martin Beck sich nicht umdrehen mochte, hatte er das Vergnügen, aus der Froschperspektive zu beobachten, wie der Mitreisende sich anzog. Strümpfe und Unterhosen und ein Netzunterhemd wirbelten vorbei, und dann folgte ein längerer Rampf mit den Hosen und den Hosenträgern, bevor Martin Beck die Chance bekam, sich selbst seine Riamotten anzuziehen.
Er begab sich hinüber zum Savoy, wo er immer zu wohnen pflegte. Auch wenn die Zeiten zwischen den einzelnen Besuchen lang waren, wurde er von dem Portier mit den langen Rockschößen überschwänglich begrüßt.
Ging hinauf in sein Zimmer, rasierte sich, duschte und fuhr mit dem Taxi zum Polizeihaus, wo er kurz darauf Per Mänssons Dienstzimmer betrat. Die Polizei in Malmö hatte ein schweres, zeitweise direkt beklemmendes Jahr hinter sich, aber das war Mänsson nicht anzusehen, der gelassener als je zuvor auf einem seiner ewigen Zahnstocher kaute.
»Benny ist nicht hier«, sagte Mänsson. »Er hat sich an der Anlegestelle der Flugboote häuslich niedergelassen.«
In Malmö nennt man die Tragflügelboote aus nicht bekannten Gründen Flugboote, obwohl ein Flugboot genau genommen etwas anderes ist, nämlich ein Flugzeug.
»Und sonst so?«
»Sonst haben wir überall verdammt genaue Kontrollen«, antwortete Mänsson. »Der springende Punkt ist natürlich, dass während dieser Tage so viele Menschen unterwegs sind. In beiden Richtungen. Die reine Hysterie. Aber …«
»Ja?«
»Ein auffallender Typ, dieser Heydt. Groß und stattlich. Er müsste schon auf allen vieren laufen, um als Hund durchzugehen. Wenn es nicht sogar so ist, dass man Hunde nicht mit über die Grenze nach Dänemark nehmen darf. Die Füchse haben dort die Tollwut.«
»Na ja, es gibt viele hoch gewachsene Männer, Heydt ist zum Beispiel nicht ganz so groß wie Gunvald Larsson.«
»Aber mit dem kann man ja auch kleine Kinder zu Tode erschrecken«, sagte Mänsson und nahm einen neuen Zahnstocher aus der Bleistiftschale.
»Was meinst du denn, du weißt doch alles über diesen Verkehr?«
»Mmm. Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt etwas weiß. Am leichtesten ist die Eisenbahnfähre Malmöhus zu kontrollieren. Da hat er keine Chance. Danach die so genannten großen Boote 0rnen, Gripen und Öresund. Etwas verzwickter wird es mit den Autofähren in Limhamn, Hamlet und Ofelia, und wie sie nun heißen. Und dann kommt das Schlimmste, die Abfertigungsstelle der Flugboote, da ist es das reinste Chaos.«
»Tragflügelboote«, verbesserte Martin Beck.
»Okay, trotzdem ist da die Hölle los. Die kommen und fahren in einer Tour, und die ganze Zeit über ist das Abfertigungsgebäude so mit Leuten voll gestopft, dass man kaum die Nase hineinstecken kann.«
»Ich verstehe.«
»Du verstehst überhaupt nichts, bevor du das Ganze nicht mit eigenen Augen gesehen hast. Die Leute, die die Fahrkarten kontrollieren sollen, werden niedergetrampelt, und die Zöllner und die Polizisten von der Passkontrolle haben einen Raum, wo sie sich verstecken und Raffee trinken können, sonst würden sie innerhalb von zehn Minuten platt wie die Pfannkuchen sein. Man könnte sie ihren Frauen unter der Tür hindurchschieben, wenn sie nach Hause kommen.«
Mänsson brach ab, denn der Zahnstocher hatte sich zwischen zwei Zähnen verklemmt.
»Was macht denn Skacke?«
»Benny? Steht draußen auf dem Rai und friert. Völlig blau im Gesicht. Und da hat er praktisch die ganze Zeit über gestanden, seit er gestern hier eintraf.«
Auch Gunvald Larsson fror, obwohl er sowohl mehr als auch weniger Anlass dazu hatte. Natürlich war es an der norwegischschwedischen Grenze um mehrere Grade kälter als in Malmö. Aber auf der anderen Seite war er für diesen Anlass zweckmäßiger gekleidet, nämlich in Skistiefel, Wollsocken, lange Unterhosen (die er verabscheute), dicke Kordhosen, Schafspelzjacke und Krimmermütze.
Er stand fast genau auf der Grenze, mit dem Rücken gegen einen Riefernstamm gelehnt, und betrachtete aufmerksam den unendlichen Strom von Autos, das Zollhäuschen, die Grenzschranke und die provisorische Wegsperre und hörte zerstreut dem Hagelschauer von Verwünschungen und Flüchen zu, den die Autofahrer auf die wissbegierigen Polizisten herniederprasseln ließen. Gab es nicht die Passfreiheit? Wie war das denn mit der Zusammenarbeit der skandinavischen Länder? War es plötzlich ebenso schwer, nach Norwegen einzureisen wie nach Saudi-Arabien? Lag das an dem Öl in der Nordsee? Oder daran, dass alle schwedischen Polizisten Idioten waren? Warum, verdammt noch mal, soll ich Heydt heißen? Und was geht es im Übrigen die Polizei an, wie ich heiße? Solange ich schwedischer Staatsbürger bin und wir in Skandinavien die Passfreiheit haben, geht es die Polizei gar nichts an, ob ich Birnenzweig oder Dick und Doof heiße. Guckt euch doch an, was für eine Autoschlange ihr hier habt.
Gunvald Larsson seufzte und blickte auf die Fahrzeugschlange. Die begann tatsächlich erstaunlich lang zu werden, während die Autos, die aus der entgegengesetzten Richtung kamen, aus dem lieben, alten Nachbarland ungehindert nach Schweden hineinsausten. Einige der Polizisten an der Sperre benahmen sich außerdem ungewöhnlich dämlich. Jeder Beamte war ja mit Heydts Fotografie und einer ausführlichen Personenbeschreibung ausgestattet. Sie wussten, dass er ein schlechtes Schwedisch, dagegen einigermaßen gut Dänisch sprach. Außerdem, dass er etwa 30 Jahre alt und 1,95 groß war. Trotzdem gab es einige, die ohne weiteres kahlköpfige Sechzigjährige mit auffallendem värmländischen Dialekt bis zu zehn Minuten aufhielten. Aber gegen die Dickfälligkeit und Dummheit des Polizeikorps anzugehen, hatte Gunvald Larsson Jahre seines Lebens gekostet. Jetzt war es an der Zeit, dass ein anderer Don Quichote ihn ablöste.
Fast alle Autos hatten Dachgepäckträger, beladen mit Skiern, Motorschlitten und Rengeweihen. Die Rengeweihe wurden von einem skrupellosen Geschäftsmann bereits auf der schwedischen Seite der Grenze zu schwindelnden Überpreisen verkauft. Gunvald Larsson besah sich das alles mit tiefem Widerwillen.
Er mochte Lappland sicher ganz gern, jedoch nur im Sommer.
Rönn und Melander froren überhaupt nicht. Sie saßen jeder auf seinem vergleichsweise bequemen Stuhl in einer Rabine mit Glaswänden, die die Polizei in Heisingborg für sie extra aufgestellt hatte. Zwei elektrische Heizöfen verbreiteten eine behagliche Wärme darin, und in regelmäßigen Abständen kamen junge Polizisten mit Kaffee in Thermoskannen, Plastikbechern und großen Tellern mit Keksen und dänischen Blätterteigstücken. Man hatte den größten Teil des Fußgängerverkehrs an der Kabine mit den Glaswänden vorbeigeführt, und wenn einer der Reisenden besondere Aufmerksamkeit erforderte, standen zwei vortreffliche Ferngläser zur Verfügung.
Außerdem hatten sie Funkverbindung mit den Polizeibeamten, die die Autofahrer und Eisenbahnreisenden kontrollierten.
Rönn und Melander sahen trotzdem genauso mürrisch aus wie vorher. Ihr Weihnachtsfest schien verdorben zu sein.
Sie sprachen nicht viel, es sei denn, sie fanden einen öffentlichen Fernsprecher und konnten ihre Frauen anrufen und sich beklagen.
So sah es am Freitag, dem 20. Dezember aus, 4 Tage vor Heiligabend. Der Sonnabend wurde schlimmer, da noch mehr Leute freihatten und der Strom der Menschen über den Öresund enorm war. Es war beinahe so, dass man sich nach der verhassten Brücke sehnte. Eine Brücke konnte man wenigstens absperren.
Als Martin Beck auf den Rai vor die Abfertigungshalle der Tragflügelboote kam, nachdem er gezwungen war, sich durch hysterische Menschenmassen zu drängen, die keine Buchungszeiten auf ihren Fahrkarten hatten, aber darauf hofften, trotzdem mit dem nächsten Boot mitzukommen, zeigte es sich, dass der Steuermann, der die Fahrkarten für die Loberen kontrollierte, das Boot, das gleich abfahren sollte, Däne war und sehr misstrauisch gegenüber Personen, die behaupteten Rriminalkommissare zu sein, ihre Dienstausweise aber nicht finden konnten. Martin Beck hatte die Jacke gewechselt, und natürlich war sein Ausweis im Hotelzimmer liegen geblieben. Schließlich befreite ihn Benny Skacke aus der Verlegenheit, der inzwischen mit allen fahrkartenknipsenden Steuerleuten gut bekannt war.
Martin Beck trat hinaus in den feuchten, peinigend scharfen Wind, der so typisch für den Winter in Südschweden und besonders für Malmö ist. Er betrachtete seinen getreuen Mitarbeiter, hinter dem eine Reihe von Weihnachtsmännern stand und Reklamezettel für einen Teil dessen verteilte, was Dänemarks Hauptstadt trotz wirtschaftlicher Rrise und drohender Abwertung zu bieten hatte.
Skacke sah entsetzlich aus. Seine Wangen waren leicht blauviolett, die Stirn dagegen kreidebleich, ebenso die Nase, und über dem wollenen Halstuch war die Haut beinahe durchsichtig.
»Wie lange hast du hier gestanden?«, fragte Martin Beck.
»Seit halb sechs«, antwortete Skacke zitternd. »Oder eher Viertel nach fünf. Seit Abfahrt des ersten Bootes. «
»Du gehst jetzt sofort und nimmst was Warmes zu dir«, sagte Martin Beck im Befehlston. »Jetzt. Sofort!«
Skacke verschwand, aber eine Viertelstunde später stand er wieder da. Seine Gesichtsfarbe war jetzt wieder beinahe normal.
Am Sonnabend passierte weiter nichts, abgesehen davon, dass einige Leute stockbetrunken waren und sich zu schlagen begannen. Martin Beck dachte daran, dass er kürzlich einen Umlauf gelesen hatte, demzufolge die Schweden, Amerikaner und möglicherweise die Finnen sich häufiger prügelten als andere Völker. Ohne Zweifel roch das nach Verallgemeinerung, aber manchmal schien es beinahe zu stimmen.
Gegen 10 Uhr abends ging Martin Beck zurück zum Hotel. Der übereifrige Skacke blieb da, fest entschlossen, auf seinem Posten auszuharren, bis das letzte Boot abgelegt hatte. Offenbar hegte er kein besonderes Zutrauen zu seinen ehemaligen Kollegen von der Polizei in Malmö.
Martin Beck holte den Zimmerschlüssel und ging auf den Fahrstuhl zu, überlegte es sich aber anders und trat in die Bar. Die war mit Gästen gut besetzt, wie stets um diese Zeit vor Weihnachten, aber einer der Barhocker war frei, und er setzte sich hin.
»Hallo, guten Abend«, begrüßte ihn der Barmann mit dem untrüglichen Gedächtnis. »Whisky mit Eiswasser, wie üblich?«
Martin Beck zögerte. Eiswasser hörte sich nicht besonders verlockend an nach den Stunden auf dem windigen Kai. Er schielte zu dem Gast neben sich, der etwas Goldgelbes aus einem großen Glas trank. Das sah nicht schlecht aus. Dann sah er sich den Gast selbst an, einen jung aussehenden, aber irgendwo um die 50 Jahre alten Mann mit Bart und langem glänzendem Haar.
»Probieren Sie das mal«, forderte ihn der Mann auf. »Ein Gyllenkrok oder Golden Hook, wie die Amerikaner es nennen. Eigene Erfindung der Bar.«
Martin Beck folgte dem Rat. Der Drink war gut, und er versuchte vergeblich, herauszubekommen, was er enthielt. Dann blickte er plötzlich den Gast an, der ihm dieses Getränk empfohlen hatte, und sagte:
»Jetzt erkenne ich Sie. Sie sind der Botaniker und Reporter, der im vorigen Herbst Sigbrit Märd am Börringesjön gefunden hat.«
»O Gott, sprechen Sie nicht davon, jedenfalls nicht hier.«
Gleich darauf warf er Martin Beck einen Blick zu und sagte:
»Sie haben Recht. Und Sie sind der Polizeikommissar aus Stockholm, der mich hinterher verhört hat. Was machen Sie denn diesmal hier?«
»Dienst«, antwortete Martin Beck und zuckte mit den Achseln.
»Tja«, meinte der Leichenfinder, »mich geht das ja nichts an.«
Drei Minuten später sagte Martin Beck gute Nacht, ging hinauf und legte sich hin. Er war so müde, dass er nicht einmal die Kraft hatte, Rhea zu Hause anzurufen.
Am Sonntag, dem 22. Dezember, war das Chaos in der Abfertigungshalle der Tragflügelboote schlimmer als je zuvor. Die Geschäfte waren offenbar geöffnet, denn es waren noch mehr Weihnachtsmänner mit Reklamezetteln da als an den Tagen vorher. Außerdem befanden sich Unmengen von Kindern zwischen den sich drängenden Passagieren. Es war Mittagszeit, Hauptverkehrszeit, alles hatte Hochsaison, bis auf das Wetter. Der Wind kam von Norden, nass und ekelhaft kalt. Er blies geradewegs in die Hafeneinfahrt und wehte schonungslos über den ungeschützten Kai.
Zwei Boote sollten gerade ablegen, ein dänisches, das Flyvefisken hieß, und ein schwedisches mit Namen Tärnan. Man stopfte sie ganz einfach proppenvoll und schickte sie auf den Weg, so schnell man irgend konnte.
Das dänische Boot legte ab, und Benny Skacke, der in der Nähe der Laufplanke gestanden hatte, begann auf das schwedische Boot zuzugehen. Martin Beck stand am Ausgang direkt hinter dem schwedischen Steuermann, der blitzschnell die Fahrkarten knipste, während er gleichzeitig mit der anderen Hand sein Rechenwerk bediente, um die Zahl der Passagiere zu kontrollieren.
Der Wind war widerlich, und Martin Beck drehte den Ropf zur Seite, um das Gesicht ein wenig zu schonen. Er hörte jemanden etwas auf Dänisch zu dem Steuermann sagen.
Dann drehte er den Ropf wieder um.
Es herrschte kein Zweifel.
Reinhard Heydt hatte die Fahrkartenkontrolle und alle Polizisten davor passiert und war auf dem Weg zur Laufplanke bereits einen Meter weitergegangen.
Skacke befand sich 25 Meter davon entfernt, immer noch halbwegs zwischen dem Boot, das gerade abgelegt hatte, und dem, das in wenigen Minuten die Leinen loswerfen würde.
Heydts einziges Gepäckstück war eine Tragetüte aus Papier, auf die ein Weihnachtsmann aufgedruckt war.
Skacke blickte auf, erkannte den Südafrikaner sofort, verhielt und griff nach seiner Dienstpistole. Aber Heydt hatte Skacke zuerst gesehen und ihn sofort als Polizisten in Zivil erkannt. Jetzt ging es nur noch darum, ob der Polizist Heydt erkannt hatte.
In dem Augenblick, als Skacke die Hand unter den Mantel steckte, war für Heydt die Situation klar. Jemand musste in den nächsten Sekunden sterben, und Heydt war überzeugt davon, dass er nicht derjenige sein würde. Er würde diesen Polizisten dort erschießen, dann konnte er über den Zaun springen auf die Straße und mit Leichtigkeit im Verkehr verschwinden. Er ließ die Tüte fallen und schlug die Jacke zur Seite.
Benny Skacke war schnell und gut durchtrainiert, aber Reinhard Heydt war zehnmal schneller. Martin Beck hatte noch niemals etwas Ähnliches gesehen, nicht mal im Rino.
Trotzdem war auch er flink, machte einen Schritt vorwärts und rief:
»Einen Augenblick, Mister Heydt…«
Gleichzeitig packte er Heydts rechten Arm, aber der Südafrikaner hatte bereits den fürchterlichen Colt-Revolver in der Hand, und er war genügend stark, den Arm zu heben, obgleich Martin Beck ihn herunterdrückte.
Skacke sah mit Entsetzen, dass es hier in weit höherem Maße, als er es sich jemals hatte vorstellen können, um Tod und Leben ging und dass Martin Beck ihm eine Gratischance gegeben hatte, am Leben zu bleiben.
Er hatte jetzt seine Walther heraus, zielte und schoss, rücksichtslos und um zu töten.
Das Geschoss traf Heydt in den Mund und blieb in der Verlängerung des Rückgrats stecken.
Aber trotz aller Behinderungen und der trostlosen Unmöglichkeit der Situation und obwohl er eigentlich schon tot war, gelang es auch Heydt, einen Schuss aus seiner MR III Trooper Magnum abzufeuern. Das Geschoss traf Benny Skacke in die rechte Hüfte, ziemlich hoch oben und hatte zur Folge, dass er wie ein Spielzeugkreisel direkt in die Reihe der verstörten Weihnachtsmänner wirbelte. Reinem von ihnen kam es in den Sinn, ihn aufzufangen und seinen Sturz zu dämpfen.
Skacke lag auf dem Bauch und blutete bereits stark, aber er war bei Bewusstsein. Als Martin Beck neben ihm auf die Rnie fiel, fragte Skacke sofort:
»Wie ist es gegangen? Mit Heydt?«
»Du hast ihn erschossen. Er war auf der Stelle tot.«
»Was hätte ich sonst tun können.«
»Du hast es richtig gemacht, das war deine einzige Chance.«
Per Mänsson kam von irgendwoher angestürzt, eingehüllt in den Duft frisch gebrannten Kaffees.
»Der Krankenwagen ist im Nu hier«, rief er. »Lieg jetzt still, Benny.«
Lieg still, dachte Martin Beck. Wenn Heydt auch nur noch eine Zehntelsekunde länger gelebt hätte, würde Benny Skacke jetzt für immer still liegen. Und nur ein Hundertstel hätte gereicht, um ihn zum Invaliden auf Lebenszeit zu machen. Jetzt würde er sicher durchkommen. Martin Beck hatte den Einschuss gesehen, und der lag ziemlich weit außen an der Hüfte.
Ein ganzer Haufen von Polizisten war aufgetaucht und hatte damit begonnen, die Neugierigen von dem Toten wegzudrängen.
Als das Heulen der Sirene des Krankenwagens seinen Höhepunkt erreicht hatte, ging Martin Beck hinüber und blickte auf Heydt. Das Gesicht war ein wenig entstellt, aber im Übrigen sah er auch noch als Toter gut aus.
Derjenige, der in der Grenzbaracke an der E18 antwortete, hörte sich ziemlich irritiert an.
Dieses verfluchte Telefon klingelte viel zu oft, und außerdem wurde die Autoschlange immer länger und unübersichtlicher.
»Ja«, bestätigte der Grenzpolizist, »er ist sicher hier. Warte mal einen Moment.«
Er hielt die Hand vor die Sprechmuschel.
»Gunvald Larsson«, fragte er, »ist das der lange Kerl in den Millionärssachen, der da drüben an dem Baum gelehnt rumsteht?«
»Ja«, bestätigte sein Kollege. »Ich glaube.«
»Hier ist ein Telefongespräch für ihn. Der verdammte Heydt, von dem alle reden. Nein, zum Teufel, es ist ein anderer, der hier anruft.«
Gunvald Larsson kam herein und nahm den Hörer. Aus dem, was er sagte, konnte man nicht viel entnehmen, denn seine Bemerkungen waren sehr kurz.
»Aha … Tot?…
Verletzung?… Wer? … Skacke?…
Und er ist in Ordnung?… Hej.«
Er legte den Hörer auf, blickte die Männer in der Kontrollbaracke an und sagte:
»Ihr könnt jetzt den Verkehr durchlassen und die Sperren abbauen, die werden nicht mehr gebraucht.«
»Und du selbst?«
»Ich fahr nach Hause.«
»Schaffst du das wirklich noch?«
Gunvald Larsson fühlte plötzlich, dass er sehr lange nicht geschlafen hatte.
Im Übrigen schaffte er es auch nicht weit. Bereits in Karlstad gab er auf und nahm sich ein Zimmer im Stadshotel.
In Heisingborg legte Fredrik Melander den Hörer auf und lächelte zufrieden. Dann blickte er auf die Uhr. Rönn, der heimlich mitgehört hatte, setzte ebenfalls eine über alle Maßen zufriedene Miene auf.
Sie würden Weihnachten zu Hause feiern dürfen.
Freitag, der 10. Januar 1975, war genau so ein Abend, von dem man nur hoffen konnte, dass er sich möglichst oft wiederholte. Wenn alle vergleichsweise entspannt und ausgeglichen und mit sich selbst und ihrer Umwelt zufrieden sind. Wenn alle gut gegessen und getrunken haben und wissen, dass sie am nächsten Tag frei haben, sofern nichts Besonderes oder Schreckliches und Unvorhergesehenes geschieht.
Sofern man mit »alle« eine sehr kleine Gruppe der Menschheit meint.
Zum Beispiel vier Personen.
Martin Beck und Rhea waren an diesem Abend zu Besuch bei Lennart Kollberg und seiner Frau, und sie hatten all das gemeinsam getan und damit die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sie sich so wohl fühlten, wie man es sich nur wünschen konnte.
Niemand sprach sehr viel, aber das lag vor allem daran, dass sie ein Spiel spielten, das »Kreuzwort bauen« genannt wird und recht einfach zu sein scheint. Alle haben einen Stift und ein Stück Papier mit 25 Karos vor sich, und dann darf jeder der Reihe nach einen Buchstaben sagen. Die Spieler müssen die genannten Buchstaben in die Rästchen eintragen, aber keine zusätzlichen, und niemand darf auf das Blatt eines anderen sehen.
»X«, sagte Rollberg zum dritten Mal im gleichen Spiel, und alle seufzten tief.
Das Spiel hat vielleicht einen einzigen Haken, überlegte Martin Beck, und der war, dass Rollberg von fünf Durchgängen vier gewann. Beim fünften Mal siegte Rhea.
Aber wenn es um Spiele ging, waren Martin Beck und Gun Rollberg gewohnt zu verlieren, daher machte ihnen das nichts aus.
»X, wie Expolizist«, betonte Rollberg gut gelaunt.
So, als ob nicht bereits alle eingesehen hatten, dass es unmöglich war, noch ein Exemplar dieses hoffnungslosen Buchstabens irgendwo unterzubringen. Martin Beck starrte eine Weile auf sein Netz von Raros, dann gab er achselzuckend auf.
»Du, Lennart?«
»Mmm«, brummte Rollberg.
»Erinnerst du dich, vor 10 Jahren?«
»Als wir Folke Bengtsson jagten und man gerade kurz vorher die Polizei verstaatlicht hatte? Ja klar, an die Zeit lohnt es sich noch zu denken. Und alles, was später kam? Nein, verdammt.«
»Meinst du, dass es damals begonnen hat?« Rollberg schüttelte sich. Dann antwortete er: »Nein, das glaube ich nicht. Und leider wird es nicht einmal so bleiben, wie es jetzt ist.«
»Y«, rief Rhea.
Und stopfte damit für eine Weile allen das Mundwerk. Bald danach war es an der Zeit, die Punkte auszurechnen.
Martin Beck kritzelte die Zahlen auf sein Blatt. Er war wie üblich Letzter.
»Obwohl eins klar ist«, nahm Kollberg den Faden wieder auf. »Nämlich, dass man damals Fehler gemacht hat. Die Polizei an der Spitze der Gewalt marschieren zu lassen ist so, als ob man den Wagen vor das Pferd spannt.«
»Ha, ich habe gewonnen«, sagte Rhea.
»Ja, tatsächlich«, sagte Kollberg.
Dann sagte er hochherzig zu Martin Beck:
»Sitz nicht da und denk jetzt an so was. Die Gewaltverbrechen sind in den letzten 10 Jahren wie eine Lawine über die ganze westliche Welt hereingebrochen. Diese Lawine kann nicht von einzelnen Menschen gebremst oder gesteuert werden. Die wird nur immer größer. Das ist nicht dein Fehler.«
»Nicht?«
Alle drehten ihre Blätter um und malten neue Kästchen. Als Kollberg fertig war, blickte er Martin Beck an und erklärte:
»Dein Fehler, Martin, ist, dass du den falschen Beruf hast. Zur falschen Zeit. Im falschen Teil der Welt. Im falschen System.«
»Das wäre alles?«
»Ungefähr. Ich fange an. Dann sage ich X. X wie in Marx.«