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Der hoch gewachsene blonde Mann nannte sich nicht mehr Heydrich, sondern hatte jetzt einen britischen Pass, ausgestellt auf einen Geschäftsmann namens Andrew Black. Er traf bereits am 15. Oktober in Schweden ein und benutzte den denkbar besten Reiseweg. Er kam nämlich via Kopenhagen mit dem Tragflügelboot nach Malmö, wo die Passpolizei, wenn sie überhaupt da ist, sich hauptsächlich damit beschäftigt, zu gähnen und Kaffee zu trinken.

In Malmö löste er eine Fahrkarte nach Stockholm, schlief ruhig, während der kalte schwedische Regen gegen das Abteilfenster prasselte, traf morgens in Stockholm ein und nahm ein Taxi zu der Sechs-Zimmer-Wohnung auf Söder, die ein Strohmann der ULAG bereits lange vorher als Gästewohnung für seine Geschäftsfreunde gemietet hatte. Die Wartezeit in der ellenlangen Schlange am Taxistand vor dem Bahnhof war die erste Unannehmlichkeit, der er in Schweden ausgesetzt war.

Er war also ohne Schwierigkeiten ins Land gekommen, nirgendwo hatte er mehr als die Vorderseite seines Passes zeigen müssen, er hatte niemandem seinen Namen genannt und auch nicht seine Koffer geöffnet. Die hatten doppelte Böden, und ihr Inhalt war hochinteressant. Trotzdem hätte ein normaler Zollbeamter, der nach nichts anderem suchte als nach Alkohol oder Zigaretten, bestimmt nichts Besonderes daran gefunden.

Als es Zeit zum Essen war, ging er in ein Lokal, das sich Bar nannte, nahm zur Kenntnis, dass das Essen schlecht und erschreckend teuer war. Dann kaufte er einige schwedische Zeitungen und nahm sie mit nach Hause. Nach einer Weile stellte er fest, dass er den Text überraschend gut verstand.

Er hieß eigentlich Reinhard Heydt, war Südafrikaner und in einem viersprachigen Heim aufgewachsen, in dem man Holländisch, Afrikaans, Englisch und Dänisch sprach. Später hatte er fließend Französisch und Deutsch dazugelernt und konnte sich notdürftig in einem halben Dutzend weiterer Sprachen verständigen. Seine Schulbildung hatte er in England genossen.

Heydts praktische Ausbildung war paramilitärisch, zuerst hatte er sich im Kongo geschlagen und war später auf der Verliererseite in Biafra gewesen. Auch bei dem Staatsstreich in Guinea war er dabei gewesen, und nach einer Zeit beim portugiesischen Geheimdienst hatte er mehrere Jahre lang einem irregulären Spezialverband angehört, der die Frelimo-Guerillas in Mozambique bekämpfte. Danach war er von der ULAG rekrutiert worden.

Heydt war in Lagern in Rhodesien und Angola zum Terroristen ausgebildet worden. Das Training war ausgesprochen hart gewesen, und das geringste Zeichen von psychischer oder physischer Schwäche hatte unmittelbar dazu geführt, dass man in den Verwaltungsdienst überführt wurde. Verrat oder Feigheit wurde mit dem Tode bestraft.

Die ULAG war von privaten Interessenten ins Leben gerufen und organisiert worden, erhielt jedoch finanzielle Hilfe von den Regierungen mindestens dreier Länder. Das Fernziel war, eine hocheffektive Terroristengruppe zu bilden, die letztlich den immer schwankender werdenden weißen Regimen im südlichen Afrika als Stütze dienen konnte. Verbindungen nach außen gab es wenige, sie waren jedoch vorhanden. So bestand zum Beispiel in London ein hochfeiner Klub, in dem man allen Ernstes eine Bestellung an die ULAG aufgeben konnte. Bisher war allerdings nur eine einzige so bestellte Aktion durchgeführt worden, nämlich die, die Gunvald Larsson als Zeuge miterlebt hatte. Was die Aktionen dieser Organisation darüber hinaus so erschreckend und schwer verständlich machte, war die Tatsache, dass sie als Übungen ausgeführt worden waren.

Die Terroristengruppen sollten ganz einfach zeigen, wozu sie in der Lage waren. Außerdem geschah dies mit dem Hintergedanken, allgemein Misstrauen und politische Unruhe zu schaffen. Das war gelungen, denn der Anschlag in Malawi hatte zu ernsten Auseinandersetzungen zwischen den drei beteiligten Staaten mit viel versprechenden militärischen und politischen Komplikationen geführt. Das Attentat in Indien hatte schwere politische Unruhen nach sich gezogen, und in Peking und Moskau fiel es dem Geheimdienst immer noch schwer zu akzeptieren, dass nicht die CIA oder das Van-Thieu-Regime hinter dem Feuerüberfall in Vietnam stand.

Die Schöpfer der ULAG waren sich über die Probleme, die Terrorismus als politische Waffe automatisch mit sich bringt, vollständig im Klaren. Entweder verläuft es so wie in Ulster, wo die Aktiven zu schlecht ausgebildet oder bewaffnet sind. Niemand lässt sich von einem anspruchslosen irischen Landarbeiter, der sich selbst in die Luft sprengt, weil er nicht genügend über die Konstruktion der Bombe und ihre Handhabung weiß, aus der Ruhe bringen. Oder von den zahllosen palästinensischen Aktionen, die häufig mit dem Tod der Terroristen endeten, weil die Gegenseite so gut ausgerüstet war und außerdem kompromisslos vorging.

Was man demzufolge aufzustellen gedachte, war eine Gruppe, die niemals versagte und die, auch wenn sie nicht besonders groß war, imstande war, echten Terror auszuüben.

Zur Zeit zählte die ULAG nicht mehr als 100 Mann, wovon 20 in Aktivistengruppen zu je 4 Personen, 10 in Reserve und weitere 20 noch in der Ausbildung waren. Den Rest bildete die Verwaltung, die aus Sicherheitsgründen so klein wie möglich gehalten wurde.

Es stimmte, dass die Kerntruppe zu Anfang aus Leuten bestand, die sich schon in Biafra und Angola geschlagen hatten, aber bereits die war international, und seither war sie von Leuten aus vielen Ländern - unter anderem mehreren Japanern -, die eine ultranationale Phalanx repräsentierten und der Ansicht waren, ihren Heimatländern auf diese Weise dienen zu können, verstärkt worden. Ein schwedisches Mitglied war auch dabei, aber es befand sich noch in der Ausbildung. Insgesamt war es ein bunt gemischter Haufen, zu dem überraschenderweise auch zwei Farbige gehörten, die sehr genau wussten, worauf sie sich einließen, und ein israelischer Sicherheitsagent, der seinen Abschied genommen hatte.

Reinhard Heydt war der Beste in seinem Ausbildungskurs gewesen und konnte sich mit Fug und Recht zu den zehn gefährlichsten Männern der Welt rechnen, ein Gedanke, der ihn mit nicht geringem Stolz erfüllte. Im Übrigen war er ein gebildeter und wortgewandter Mann von vorteilhaftem Aussehen, dem sein Beruf viel Freude bereitete. Als Südafrikaner hätte man ihm vielleicht zugute halten können, dass er aus Idealismus handelte, aber das war nicht der Fall. Die Absichten der ULAG waren übrigens nicht klar formuliert. Außerdem würde Südafrika sich wahrscheinlich noch lange Jahre halten können.

Jedenfalls hatte die ULAG ihre Funktionstauglichkeit unter Beweis gestellt und würde nun wohl bald gezielt eingesetzt werden.

Von den weißen Regimen im südlichen Afrika war Mosambik bereits zusammengebrochen. Angola und Namibia waren auf dem besten Wege dahin, und der Augenblick ließ vielleicht nicht mehr allzu lange auf sich warten, in dem ein Engländer, der auf dem Flugplatz Salisbury eintraf, sich dort nicht mehr so zu Hause fühlte wie bei einem Besuch in Glasgow oder Cardiff.

Drei Tage nach Heydt trafen die beiden Japaner gemeinsam in Stockholm ein. Sie hatten den Weg über Finnland genommen und kamen mit einer der Schnapsfähren aus Mariehamn. Einer der Dienst tuenden Passbeamten stempelte gleichgültig ihre gefälschten Pässe, während er mit müder Abscheu einen der beiden nach dem nächsten Kino, in dem Sexfilme mit schönen schwedischen Mädchen liefen, fragen hörte.

Das mit den schönen schwedischen Mädchen hatte auch zur Folge, dass der Zollbeamte eiligst mit Kreide einen Krakel auf den Koffer malte.

»Wir sollten verdammt noch mal einen Prospekt in Japanisch und Englisch haben, der Adressen von Nutten und Sexklubs enthält und den wir an alle Japse und die anderen Idioten verteilen können«, schlug der Zöllner seinem Kollegen vor.

»Das sind Rassenvorurteile!« schrie ein Jüngling in der Reihe der Wartenden. »Begreift ihr das nicht? Es ist durch Gesetz verboten, andere Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder Rasse zu diskriminieren!«

Und während man sich deswegen stritt, gelang es auch dem zweiten Japaner, unkontrolliert mit seinem Koffer durch den Zoll zu kommen. Er war übrigens erstaunlich groß und hatte Hände, die hart wie ein Stück Holz waren.

Die Japaner waren in Indien dabei gewesen, nicht jedoch in Lateinamerika. Heydt wusste, dass sie erstklassig waren, kaltblütig und rücksichtslos und absolut zuverlässig. Auch wenn er einer der zehn gefährlichsten Männer auf der Erde war, so hätte er durchaus keine Lust gehabt, einem dieser beiden während der Ausübung seines Berufes gegenüberzustehen.

Aber mit den beiden Japanern zusammenzuwohnen war langweilig. Sie sagten selten ein Wort, sondern saßen nur da und spielten ein unbegreifliches Spiel mit einem Haufen kleiner Klötzchen. Ihre Gesichter waren so ausdruckslos, dass man niemals feststellen konnte, wer gerade gewann oder verlor oder ob das Spiel zu Ende war oder vielleicht am nächsten Tag fortgesetzt werden würde.

Im Gegensatz zu den beiden anderen war Heydt niemals vorher in Stockholm gewesen, und in den ersten Tagen sah er sich fast den ganzen Tag über in der Stadt um, um sich ein Bild davon zu machen. Er merkte bald, dass die Stadt ebenso verkommen war und von Banden beherrscht wurde wie New York und bestimmte Teile von London. Zuerst dachte er daran, eine Waffe mitzunehmen, aber dann fiel ihm ein, dass er gelernt hatte, niemals Schusswaffen bei sich zu führen, es sei denn in unmittelbarem Zusammenhang mit der Arbeit. Stattdessen mietete er einen Wagen. Bei der Autofirma zeigte er die Papiere vor, die ihn als den britischen Staatsbürger Andrew Black auswiesen.

Eine Woche später bekam er eine große Packkiste von der Güterzentrale zugestellt, die als postlagernd an ihn geschickt worden war. Da sie offensichtlich unverzollt angeliefert wurde, konnte er auf die beiden Kisten, die ihm kurz danach angekündigt wurden, verzichten. Die wurden nach einer gewissen Zeit an den Absender zurückgeschickt.

Bald danach besuchte er ein kleines Büro auf Kungsholmen, wies sich als Vertreter einer holländischen Baufirma aus und kaufte die vollständigen Planzeichnungen für die U-Bahn, das Abwassersystem und die öffentlichen Strom- und Gasleitungen. Von dieser Kontaktadresse wusste er bereits vorher, und der Betreffende war rechtzeitig durch einen Brief über den Besuch informiert worden und hatte, dazu aufgefordert, ein Angebot abzugeben.

Das Ironische daran war, dass derjenige, der das an und für sich nicht geheime Material verkaufte, ein Mitglied des schwedischen Sicherheitsdienstes war. Er arbeitete in einem Büro, das entweder vom Militär oder der Polizei unterhalten wurde, er selbst wusste das nicht genau. Dagegen wusste er, dass er sich unterbezahlt fühlte, und darum verkaufte er klassifiziertes Material. Als guter Schwede lieferte er jedoch prinzipiell nichts an die Russen. ULAG kaufte somit kein geheimes Material und hielt es für das Einfachste, sich an den Sicherheitsdienst zu wenden.

Am 31. Oktober war Reinhard Heydt bereits 17 Tage in Schweden gewesen. Die beiden Japaner spielten immer noch ihr eigentümliches Spiel, unterbrachen es nur, um in die Küche zu gehen und merkwürdige Mahlzeiten zuzubereiten. Die Zutaten schienen sie in den Läden der Stadt einzukaufen.

Alles Material war bereits zur Stelle.

Bis zum Besuch des Senators waren es noch drei Wochen.

Reinhard Heydt fuhr zu dem internationalen Flugplatz Arlanda hinaus, sah sich uninteressiert um und fuhr wieder zurück in die Stadt. Über den Weg, den der berüchtigte Amerikaner nehmen würde, konnte es eigentlich keinen Zweifel geben.

Als Heydt das königliche Schloss erreichte, bog er ab und parkte auf Slottsbacken. Dann nahm er seinen Stadtplan in die Hand und ging, wie jeder x-beliebige Tourist es getan hätte, Logärdstrappan hinunter, blieb stehen und sah sich lange um.

Dies war ein guter Platz, das war mal sicher. Für welche Methode er sich auch immer entscheiden würde. Aber er hatte sich bereits mehr oder weniger für eine Bombe entschieden. Das Risiko lag natürlich darin, dass der König mit draufgehen würde. Keiner hatte bisher von einem König gesprochen, und irgendwie konnte er sich mit dem Gedanken nicht befreunden. Es war doch etwas Besonderes mit einem König. So einer verdiente doch etwas mehr Aufmerksamkeit, als dass er einfach so gratis mitbefördert wurde. Noch dazu bei einer so wichtigen Reise. Heydt lachte vor sich hin und schüttelte den Kopf. Er hatte sich festgelegt. Sollten gekrönte Häupter rollen, so verdienten sie es, für sich allein zu fallen. Sozusagen. Er blickte wieder auf das Schloss und überlegte, was das doch für ein ziemlich massiver und hässlicher Steinhaufen war. Nachdem er die Straße überquert hatte, ließ er das Auto stehen, um einen kurzen Spaziergang durch Gamla Stan, die Altstadt, zu machen. Dies war der einzige Teil von Stockholm, der ihm gefiel. Aber, dachte er, wie konnten die Menschen so wohnen, in diesem fürchterlichen Klima?

Reinhard Heydt lief umher, bis er auf Stortorget kam. Er prüfte die Brunkebergspumpe und ging dann in östlicher Richtung Köpmangatan hinauf. Plötzlich trat direkt vor ihm eine Frau aus einem Durchgang und begann in die gleiche Richtung wie er zu gehen.

Skandinavische Frauen sollten groß und blond sein, dachte er. Seine dänische Mutter zum Beispiel war das gewesen.

Diese hier war auffallend klein, nur 1,55. Außerdem hatte sie ziemlich breite Schultern, glattes, helles Haar und trug rote Gummistiefel, Jeans und einen schwarzen Dufflecoat. Die Hände hatte sie tief in den Taschen vergraben. Sie ging mit gesenktem Kopf und festen Schritten, ebenso schnell wie er.

Als er nur wenige Schritte hinter ihr weiterging, wandte sie plötzlich den Kopf um, so als ob sie sich verfolgt fühlte, und sah ihn an. Die blinzelnden Augen waren ebenso blau wie seine eigenen. Sie betrachtete ihn forschend unter dem glatten, blonden Pony hervor, dann blickte sie auf den Stadtplan, den er immer noch zusammengefaltet unter dem rechten Arm geklemmt trug, und trat einen Schritt zur Seite, um ihn vorbeigehen zu lassen.

Als er ins Auto stieg, sah er sie wieder; sie ging mit langen Schritten in Richtung Skeppsbron. Einmal schien sie einen Blick in seine Richtung zu werfen, schnell und beobachtend. Aus irgendeinem Grund fiel ihm seine dänische Mutter wieder ein, die noch lebte und in der Nähe von Pietermaritzburg wohnte. Wenn dieser Job abgeschlossen war, würde er hinreisen und sie besuchen.

Am gleichen Tag rief er den Funkspezialisten der Gruppe an, ein Franzose, der sich seit längerer Zeit in Kopenhagen bereitgehalten hatte. Er wies ihn an, spätestens am 14. November nach Stockholm zu kommen, und erklärte ihm, dass die Methode in der Hauptsache die gleiche sein würde wie beim letzten Mal.

Am Montag der folgenden Woche hatte Reinhard Heydt seine schweigenden, ständig spielenden japanischen Kollegen so satt, dass er sich entschloss, nach einer Frau Ausschau zu halten. Dies war an und für sich ein Abweichen vom üblichen Muster, denn früher hatte er sich, solange er eine Aktion vorbereitete, niemals mit Frauen befasst.

Die große Zahl der Prostituierten in Stockholm deprimierte ihn, besonders die Menge der Mädchen zwischen 14 und 17, die offenbar praktisch alles taten, um an Rauschgift heranzukommen oder, genauer gesagt, an Geld für einen Schuss, wie man zu sagen schien.

Nachdem er den verzweifelten Verkehr rund um den so genannten »schrägen Platz« eine Weile beobachtet hatte, wie auch die, gelinde gesagt, wenig zweckmäßigen Methoden der Polizei, mit denen man dem Markt Einhalt zu gebieten versuchte, gab er es auf und ging in die Bar von einem der besten Hotels der Stadt.

Reinhard Heydt trank niemals Alkohol, aber hin und wieder genehmigte er sich ein Glas Tomatensaft mit Tabasco. Während er an seinem Drink nippte, überlegte er, was er haben wollte. Am liebsten eine ziemlich große aschblonde Frau, die 25 Jahre alt war. Er selbst war 30, aber dies mit den 25 war eine fixe Idee von ihm. Was er sich absolut nicht vorstellen konnte, war eine Dame, die irgendwie professionell war oder die in einem festen Etablissement arbeitete. Er glaubte nicht mehr so fest daran, dass alle schwedischen Mädchen hübsch waren, das schien nur eine der vielen Lügen zu sein, die das Regime aus Gründen der Propaganda verbreitete.

Während er bei seinem zweiten Glas gespritztem Tomatensaft saß, trat eine Frau ein und setzte sich an das andere Ende der Bar. Sie schien Apfelsinensaft zu trinken mit einer roten Beere drin und einer Apfelsinenscheibe über dem Rand des Glases.

Sie blickten einander mehrere Male an und ließen gegenseitiges Interesse erkennen.

Er fragte den Barkeeper, ob er sie zum nächsten Drink einladen dürfte, und die Antwort war ein Ja. Bald danach wurde der Hocker neben ihr frei. Er warf einen fragenden Blick darauf, und sie nickte wieder.

Nachdem er sich zu ihr gesetzt hatte, erzählte er ihr, dass er dänischer Ingenieur sei und Reinhard Jörgensen heiße. Es war immer das Einfachste, wenn man sich soweit wie möglich an die Wahrheit hielt, und seine Mutter hatte mit Mädchennamen Jörgensen geheißen. Sie sagte, dass sie Ruth Salomonsson hieße. Er fragte sofort nach ihrem Alter, und sie antwortete, dass sie 25 sei. Fast alles stimmte: Ihr Haar war nicht blond, sondern aschblond, und ihre Augen waren blau. Sie war groß, schlank und hatte eine gute Figur.

Sein nächster Zug bestand darin, sie ins Kino einzuladen. Das schien sie wenig einfallsreich zu finden, und so schlug er ein gemeinsames Essen vor.

Sie antwortete lächelnd, dass sie schon gegessen habe, aber nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn er sie an einem anderen Tag zum Essen einladen würde.

Es dauerte ungefähr 15 Minuten, bis er begriff, dass sie sich aus dem gleichen Grunde wie er in der Bar aufhielt.

Dann blieb ihm eigentlich nur noch, hinauszugehen und den Portier zu bitten, ein Taxi zu bestellen.

Wie das bei Frauen, die ins Restaurant gehen, häufig der Fall ist, so hatte auch Ruth Salomonsson eine Freundin bei sich.

Es zeigte sich, dass diese an einem anderen Tisch der Bar saß und sich mit einem Mann unterhielt, und während sie auf das Taxi warteten, wechselte Reinhard Heydt einige höfliche Worte mit der Freundin.

Er hatte eine gute Wahl getroffen und verlebte einen außerordentlich geglückten Abend. Erst einige Stunden später stellte er in einer Pause die Frage:

»Was bist du eigentlich von Beruf?«

Er hatte ihr einiges über seine Geschäfte und Reisen hierhin und dorthin erzählt. Sie steckte sich eine Zigarette an seiner brennenden an, blies eine Rauchwolke und antwortete:

»Polizistin.«

»Polizistin? Du bist bei der Polizei?«

»Genau. Polizeiassistentin heißt das.«

»Ist das eine interessante Arbeit?«

»Normalerweise ist es nicht besonders aufregend. Ich arbeite in einer Dienststelle, die sich Ermittlungsdezernat nennt.«

Er schwieg. Wunderte sich eigentlich vor allem, aber irgendwie wurde sie in seinen Augen dadurch noch interessanter.

»Ich habe das absichtlich nicht gleich erzählt«, erklärte sie. »Manche Menschen reagieren komisch, wenn man erwähnt, dass man bei der Polizei ist.«

»Ach was«, sagte Reinhard Heydt und zog sie zu sich heran.

Er kam nicht vor sieben Uhr am nächsten Morgen zu seinen Japanern zurück.

Die betrachteten ihn misstrauisch. Dann gingen sie wieder und legten sich hin.

Er duschte, legte sich ebenfalls hin und verbrachte den Tag mit einem guten Buch. Was er als gutes Buch ansah, war in diesem Fall Ruges Seekriegsgeschichte. Er las sie auf die gleiche Weise, wie Schachenthusiasten ihre Fachlektüre durcharbeiten, und pflegte den gleichen Abschnitt und die Kombinationen ein ums andere Mal genau zu überprüfen.

Heute nahm er sich die Weserübung, den Angriff der deutschen Flotte auf Dänemark und Norwegen im Jahr 1940, vor. Dieses Kapitel war eins, das ihm mit am besten gefiel, und er kannte es bis in die kleinste Einzelheit.

Trotzdem staunte er jedes Mal wieder von neuem. Da schickt jemand eine Hand voll Schiffe zu fremden Häfen und Zielen und über eine See, in der der Feind sowohl in der Luft als auch zu Wasser überlegen ist. Und dann, ruck, zuck!, hat alles geklappt, trotz der unerhörten zahlenmäßigen Unterlegenheit, und der Feldzug ist gewonnen. Die Schönheit des unorthodoxen Perfektionismus.

Von Martin Beck konnte man sagen, dass auch er sein Exemplar des Rüge hin und wieder aus dem Bücherregal nahm.

Er und Reinhard Heydt besaßen beide ein Exemplar der gleichen Ausgabe, und es mag sonderbar klingen, dass sie am Montag, dem 11. November 1974, also genau 10 Tage vor dem feierlichen Besuch, beide auf ihren Betten lagen und den gleichen Text lasen.

Martin Beck war ebenfalls von der Weserübung fasziniert, aber nur jetzt, so lange danach, und eigentlich auch nur heimlich, ohne es zugeben zu wollen.

Er konnte sich daran erinnern, wie es damals in Wirklichkeit gewesen war, im April vor 34 Jahren, und damals war es sehr schwer gewesen, sich von etwas faszinieren zu lassen, denn alles wurde von dem Stampfen der verdammten braunen Bataillone übertönt.

Wie hatte Martin Becks Leben im Frühjahr 1940 ausgesehen? Er war gerade 17 geworden, und seine Lungen waren nicht in Ordnung. Er half, so gut er konnte, in dem kleinen Fuhrunternehmen seines Vaters. Das hatte in Klara gelegen, mitten in der Stadt, sein Vater hatte es im Frühjahr 1939 zusammen mit einem Kompagnon gegründet.

Was war dann geschehen? Er selbst war 1944 zur Polizei gegangen, um dem Militärdienst zu entgehen, im gleichen Jahr war das Fuhrunternehmen wegen der schwierigen Zeiten aufgelöst worden, und fünf Jahre später war der Vater gestorben. Nun waren alle tot, das Gebäude des Fuhrunternehmens war abgerissen worden, und der Stadtteil, in dem es gelegen hatte, existierte nicht mehr.

Natürlich lebte er selbst noch. Er war Kriminalkommissar und 52 Jahre alt.

Und Weserübung war Geschichte.

Man musste das klar und deutlich sehen.

Denn es gibt keine gute oder schlechte Geschichte.

1940? Auf dem Bauernhof in der Nähe von Pietermaritzburg war Reinhard Heydt noch nicht einmal eine Hoffnung in den blauen Augen seiner dänischen Mutter.