24

Die Situation war für Martin Beck nicht ganz neu.

Er selbst hinter dem Schreibtisch und auf dem Stuhl vor ihm jemand, der einen Menschen getötet hatte.

Er hatte sich viele Male vorher in dieser Lage befunden, es war ein Teil seines Berufes.

Dagegen kam es höchst selten vor, dass das Verhör schon in weniger als einer Stunde nach der Tat begann, dass er selbst und eine große Zahl von Polizisten Zeugen des Verbrechens gewesen waren, dass der Täter ein achtzehnjähriges Mädchen war und dass die Fragen nach dem Wie, Wo und Wann bereits erledigt waren und nur das Warum übrig blieb.

In den langen Jahren seiner Tätigkeit bei der Polizei hatte er sowohl Opfer als auch Täter aus allen Klassen der Gesellschaff und mit unterschiedlichem Status vor sich gehabt, aber niemals vorher war bei einer Morduntersuchung das Opfer eine so hoch gestellte Persönlichkeit wie der Regierungschef des Landes gewesen.

Außerdem konnte er sich nicht daran erinnern, jemals mit einer Mordwaffe der Art zu tun gehabt zu haben, wie sie jetzt vor ihm auf der Schreibunterlage lag.

Neben dem kleinen, vernickelten Revolver lag ein altes abgegriffenes Munitionskästchen aus hellgrüner Pappe mit abgerundeten Ecken und so gut wie unleserlichem Text auf dem Etikett des Deckels. Darin hatte das Geschoss gelegen, das das Gehirn des Ministerpräsidenten durchbohrt hatte, und das Mädchen hatte den kleinen Karton bereits im Auto auf dem Weg zum Polishus aus ihrer Schultertasche genommen und ihm gegeben.

Gunvald Larsson hatte sich nur kurze Zeit in dem Raum aufgehalten. Er sah ein, dass dies ein Gespräch war, das Martin Beck am besten allein führte, und nachdem sie einen Blick des Einverständnisses gewechselt hatten, hatte er ihn mit Rebecka allein gelassen.

Sie saß nun abwartend genau gegenüber von Martin Beck, kerzengerade, die Hände auf den Knien gefaltet und das noch immer kindlich runde Gesicht bleich und angespannt. Sie schüttelte den Kopf, als er fragte, ob sie etwas zu essen, zu trinken oder zu rauchen haben wollte.

»Ich habe dieser Tage versucht, dich zu erreichen«, begann Martin Beck.

Sie blickte ihn verwundert an. Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Warum?«

»Ich fragte Advokat Braxen nach deiner Adresse, aber er wusste nicht, wo du wohnst. Nach dem Prozess im Frühjahr habe ich mir manchmal überlegt, wie es dir wohl ergangen ist, und ich ahnte, dass es dir nicht gut geht. Dass du vielleicht Hilfe brauchen würdest.«

Rebecka zuckte die Achseln. »Ja. Aber jetzt ist es sowieso zu spät.«

Martin Beck bedauerte beinahe, was er gesagt hatte. Sie hatte Recht. Es war zu spät, und dass er einen halbherzigen Versuch, sie zu erreichen, unternommen hatte, konnte ihr in ihrer derzeitigen Situation kaum ein Trost sein.

»Wo wohnst du jetzt, Rebecka?«, wollte er wissen.

»In der letzten Woche habe ich bei einer Freundin gewohnt. Ihr Mann war einige Wochen verreist, und deshalb durften Camilla und ich dort wohnen, bis er wiederkam.«

»Ist Camilla jetzt dort?«

Sie nickte. »Glauben Sie, dass sie dort bleiben darf?«, fragte sie ängstlich. »Jedenfalls vorläufig? Meine Freundin nimmt sich ihrer gerne eine Weile an.«

»Das wird sicher möglich sein. Willst du dort anrufen?«

»Noch nicht. Nachher, wenn ich darf.«

»Natürlich. Du hast auch das Recht, einen Rechtsanwalt zu Rate zu ziehen. Ich nehme an, dass du Advokat Braxen haben willst?«

Rebecka nickte wieder. »Er ist der einzige, den ich kenne. Und er ist sehr nett zu mir gewesen. Aber ich weiß seine Telefonnummer nicht.«

»Willst du, dass er gleich mal herkommt?«

»Ich weiß nicht. Sie müssen mir sagen, was ich zu tun habe. Ich weiß ja nicht, wie so etwas vor sich geht.«

Martin Beck hob den Hörer ab und bat die Vermittlung, Braket zu suchen.

»Er hat mir geholfen, einen Brief zu schreiben.«

»Ja. Ich habe die Kopie vorgestern in seinem Büro gesehen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen einzuwenden.«

»Wogegen einzuwenden?«

»Dass ich deinen Brief gelesen habe.«

»Nein, wieso sollte ich. Dann wissen Sie auch, was die geantwortet haben?« Sie blickte Martin Beck finster an.

»Ja«, bestätigte er. »Nicht sehr aufmunternd oder hilfreich. Was hast du getan, nachdem du die Antwort erhalten hast?«

Rebecka zog die Schultern hoch und blickte auf ihre Hände. Sie saß eine Weile schweigend da, bevor sie antwortete:

»Nichts. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte ja geglaubt, dass er, der der höchste Chef des Landes war, etwas unternehmen könnte, aber als es ihm gleichgültig zu sein schien …«

Sie machte eine kleine hoffnungslose Geste mit den Händen und fuhr fort, beinahe flüsternd:

»Jetzt spielt das keine Rolle mehr. Nichts spielt mehr eine Rolle.«

Sie sah so klein und einsam und erschöpft aus, wie sie da saß, dass Martin Beck beinahe aufgestanden wäre und ihr über das glatte Haar gestrichen hätte oder sie in den Arm genommen und getröstet hätte. Stattdessen fragte er:

»Wo hast du den ganzen Herbst über gewohnt? Bevor du zu deiner Freundin gezogen bist?«

»Mal hier und mal dort. Eine Zeit lang waren wir in einem Sommerhaus draußen in Waxholm. Ein Freund hat uns da wohnen lassen, während seine Eltern im Ausland waren. Dann, als sie nach Hause kamen, durfte er uns nicht mehr da bleiben lassen, und da zog er zu seiner Freundin und überließ uns sein Zimmer. Aber nach einigen Tagen begann seine Vermieterin zu nörgeln, und da mussten wir wieder ausziehen. Ja, und danach haben wir bei verschiedenen Freunden gewohnt.«

»Hast du nicht daran gedacht, dich an die Sozialbehörde zu wenden? Die hätten dir vielleicht eine Wohnung besorgt.«

Rebecka schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich nicht. Die hätten mir nur das Jugendamt auf den Hals geschickt, und dann hätte man mir Camilla weggenommen. Ich glaube nicht, dass man sich auf irgendeine Behörde in diesem Land verlassen kann. Die kümmern sich nicht um die gewöhnlichen Leute, die weder reich noch bekannt sind, und was die unter helfen verstehen, nenne ich jedenfalls nicht Hilfe. Die legen einen nur rein.«

Sie hörte sich bitter an, und Martin Beck wusste, dass es keinen Zweck hatte, ihr zu widersprechen.

Außerdem hatte er keinen Grund dazu. Im Großen und Ganzen hatte sie Recht.

Er begnügte sich damit, »mmm« zu sagen.

Das Telefon klingelte. Die Vermittlung teilte mit, dass Advokat Braxen in seinem Büro und beim Gericht nicht anzutreffen war. Eine Nummer seiner Wohnung war im Telefonregister nicht verzeichnet.

Martin Beck vermutete, dass Braket seine Wohnung im gleichen Haus wie sein Kontor hatte und sich mit einem Anschluss begnügte. Er bat die Dame in der Vermittlung, weiter nach Braxen zu suchen.

»Das spielt doch keine so große Rolle, ob Sie ihn finden«, meinte Rebecka, als Martin Beck den Hörer aufgelegt hatte. »Diesmal kann er mir sowieso nicht helfen.«

»O doch. Du darfst den Mut nicht verlieren, Rebecka. Auf jeden Fall musst du einen Verteidiger haben, und Braxen ist ein guter Rechtsanwalt. Der Beste, den du bekommen kannst.

Aber bis auf weiteres musst du mit mir vorlieb nehmen. Glaubst du, dass du erzählen kannst, was geschehen ist?«

»Sie wissen doch, was geschehen ist.«

»Ja, ich meine eher das, was vorher geschehen ist. Du hast dir doch dies alles eine Zeit lang überlegt.«

»Ihn zu töten, meinen Sie?«

»Ja.«

Rebecka saß eine Weile schweigend da und blickte auf den Fußboden. Dann hob sie den Kopf und sah ihn so verzweifelt an, dass Martin Beck erwartete, sie würde jeden Moment zu weinen anfangen.

»Jim ist tot«, sagte sie tonlos.

»Wie …«

Martin Beck brach ab, als Rebecka sich hinunter nach ihrer Tasche beugte, die auf dem Fußboden neben ihrem Stuhl stand, und darin zu suchen begann. Er nahm sein Taschentuch, das sauber, aber ein wenig zerknüllt war, aus der Jackentasche und reichte es ihr über den Tisch. Sie blickte mit tränenlosen Augen zu ihm auf und schüttelte den Kopf. Er steckte das Taschentuch wieder ein und wartete, bis sie gefunden hatte, was sie in ihrer Schultertasche suchte.

»Er hat sich das Leben genommen.« Sie legte das Luftpostkuvert mit den blauweißroten Kanten vor ihn auf den Tisch. »Sie können den Brief von seiner Mutter lesen.«

Martin Beck nahm das raschelnde Luftpostpapier aus dem Umschlag. Der Brief war mit Maschine geschrieben und bestand aus einem einzigen Bogen. Der Ton war trocken und sachlich, in dem nüchternen Text gab es nichts, was darauf hindeutete, dass Jims Mutter mit Rebecka Mitleid hatte oder auch nur um ihren Sohn trauerte. Überhaupt drückte der Brief keinerlei Gefühle aus und wirkte daher ziemlich grausam.

Jim war am 22. Oktober im Gefängnis gestorben, schrieb sie. Er hatte sich aus einer Decke ein Seil geflochten und sich an der obersten Pritsche in seiner Zelle erhängt. Soweit sie wusste, hatte er keine Erklärung, Entschuldigung oder eine Nachricht anderer Art hinterlassen, weder für seine Eltern noch für Rebecka oder sonst jemand anderen. Sie wollte Rebecka unterrichten, da sie wüsste, dass sie sich Sorgen um Jim gemacht habe und ein Kind hätte, dessen Vater Jim eventuell sein konnte. Rebecka konnte nun aufhören, darauf zu warten, dass Jim von sich hören lassen würde. Frau Cosgrave schloss den Brief damit, dass die Art und Weise, wie Jim gestorben war - offenbar nicht sein Tod, sondern die Art und Weise - seinem Vater sehr zu schaffen gemacht habe und seinen bereits schlechten Gesundheitszustand weiter verschlechtert habe. Unterzeichnet: Grae W. Cosgrave.

Martin Beck faltete den Brief zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag. Der war am 11. November abgestempelt worden.

»Wann hast du den bekommen?«

»Gestern Morgen. Die einzige Adresse, die sie hatte, war die meiner Freunde, bei denen ich im Sommer gewohnt habe, und es dauerte ein paar Tage, bis die mich erreicht haben.«

»Das ist kein besonders freundlicher Brief.«

»Nein.«

Rebecka saß stumm da und blickte auf den Brief, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag.

»Ich habe nicht geglaubt, dass Jims Mutter so eine war«, sagte sie schließlich. »So hart. Jim hat viel von seinen Eltern erzählt, und es schien, als ob er sie sehr gern hatte. Den Vater vielleicht am meisten.«

Sie zuckte wieder die Achseln und fügte hinzu:

»Obwohl Eltern ihre Kinder ja nicht notwendigerweise lieben.«

Martin Beck verstand, dass sie auf ihre eigenen Eltern anspielte, fühlte sich aber persönlich getroffen. Er hatte selbst einen Sohn, Rolf, der demnächst 20 wurde, und der Kontakt zu ihm war stets schlecht gewesen. Erst nach der Scheidung oder vielleicht sogar erst, nachdem er Rhea getroffen hatte, die ihn gelehrt hatte, ehrlich zu sein, nicht nur anderen gegenüber, sondern auch vor sich selbst, hatte er sich einzugestehen gewagt, dass er Rolf eigentlich nicht mochte. Jetzt sah er Rebeckas bitteres, gestrafftes Gesicht und überlegte, was sein Mangel an tieferen Gefühlen für seinen Sohn wohl für das Gefühlsleben des Jungen selber bedeutete.

Er versuchte, den Gedanken an Rolf zu verdrängen, und fragte Rebecka:

»Hast du dich in dem Augenblick entschieden? Als du den Brief bekommen hast?«

Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. Aber Martin Beck ahnte, dass ihr Zögern eher darauf zurückzuführen war, dass sie aufrichtig sein wollte, als auf Unsicherheit. Soweit glaubte er, sie zu kennen.

»Ja«, sagte sie schließlich. »Da habe ich mich entschlossen.«

»Woher hast du den Revolver?«

»Den habe ich die ganze Zeit gehabt. Ich habe ihn vor zwei Jahren bekommen, als die Tante meiner Mutter starb. Sie mochte mich, und ich war ziemlich oft bei ihr, als ich klein war, und als sie dann starb, bekam ich aus ihrem Erbe viele Dinge, mit denen ich bei ihr gespielt hatte. Unter anderem den Revolver. Aber ich hatte bis gestern nicht daran gedacht, dass ich den besaß, und konnte mich auch gar nicht mehr daran erinnern, dass es dazu Kugeln gab. Ich bin ja so off umgezogen, da hat der die ganze Zeit eingepackt im Koffer gelegen.«

»Hast du früher mal damit geschossen?«

»Nein. Niemals. Eigentlich war ich gar nicht so sicher, ob er funktionierte. Der ist ziemlich alt, nehme ich an.«

»Ja«, bestätigte Martin Beck, »der ist sicher mindestens 80 Jahre alt.«

Martin Beck hatte kein großes Interesse an Waffen und wusste darüber nicht mehr, als für seinen Beruf notwendig war. Wenn Kollberg da gewesen wäre, hätte er erzählen können, dass die Waffe eine Harrington and Richardson 32. single action, Modell 1885 war. Er hätte auch die Munition als mantellose Bleikugel in einer Messingpatrone mit kurzer Treibladung der Marke Remington, hergestellt 1905, klassifizieren können.

»Wie hast du es geschafft, nicht entdeckt zu werden? Die Polizei hat doch ganz Riddarholmen abgesperrt und alle Leute kontrolliert, die dorthin wollten.«

»Ich wusste ja, dass der Ministerpräsident in der Es… Esko. Ich weiß nicht mehr, wie das heißt, fahren wollte.«

»Eskorte. Eine Prozession oder wie in diesem Fall eine Kolonne von Autos.«

»Ja. Zusammen mit dem Amerikaner. Da habe ich in der Zeitung nachgelesen, wo die hinwollten und was sie tun wollten, und fand, dass die Kirche sich am besten eignen würde. Gestern Abend bin ich hingegangen und habe mich die ganze Nacht und den Tag über da versteckt, bis sie kamen. Es war nicht schwer, sich zu verstecken, und ich hatte Schwedenmilch bei mir, falls ich hungrig oder durstig wurde. Es kamen Leute in die Kirche, vielleicht Polizisten, aber die haben mich nicht gesehen.«

Das Knallkopfkommando, dachte Martin Beck. Natürlich haben die sie nicht gesehen.

»Ist das alles, was du in beinahe 24 Stunden zu dir genommen hast?«, fragte er. »Willst du wirklich nichts zu essen haben?«

»Nein, danke. Ich bin nicht hungrig. Ich brauche nicht so viel zu essen. Die meisten Leute in diesem Land essen viel zu viel. Ich habe übrigens Sesamsalz und Datteln in meiner Tasche, falls ich hungrig werde.«

»Gut. Du musst selbst sagen, wenn du etwas haben willst.«

»Danke«, sagte Rebecka höflich.

»Ich nehme an, dass du in den letzten 24 Stunden kaum geschlafen hast.«

»Nein. Nicht viel. Ich habe in der Kirche ein bisschen geschlafen. Nicht lange, höchstens eine Stunde. Es war ziemlich kalt.«

»Wir brauchen heute nicht mehr lange weiterzumachen. Können ja morgen das Gespräch fortsetzen, wenn du ausgeruht bist. Wenn du willst, kannst du nachher etwas einnehmen, damit du besser schläfst.«

»Ich nehme niemals Tabletten ein.«

»Die Zeit muss dir lang geworden sein in all den Stunden dort in der Kirche. Was hast du getan, während du gewartet hast?«

»Ich dachte nach. Hauptsächlich über Jim. Es ist so schwer zu begreifen, dass er tot ist. Aber irgendwie wusste ich, dass er eine Zeit im Gefängnis niemals durchstehen würde. Er wurde nicht damit fertig, eingesperrt zu sein.«

Sie machte eine Pause und fuhr dann mit Nachdruck fort:

»Das ist eine unmenschliche, fürchterliche und erniedrigende Strafe. Wie können sich Menschen hinstellen und bestimmen, dass andere eingesperrt werden? Alle müssten ein Recht auf ihr eigenes Leben und ihre Freiheit haben.«

»Es muss Gesetze in einer Gesellschaft geben. Und die Gesetze, die es gibt, müssen wir befolgen.«

»Ja, vielleicht. Aber die Leute, die die Gesetze erfinden, sind die so viel klüger und besser als die anderen? Das glaube ich jedenfalls nicht. Jim ist reingelegt worden. Er hatte nichts Böses getan. Absolut nichts. Und trotzdem musste er bestraft werden. Die hätten ihn genauso gut gleich zum Tode verurteilen können.«

»Jim wurde nach den Gesetzen seines Landes verurteilt…«

»Sie haben ihn schon hier verurteilt«, unterbrach Rebecka und beugte sich auf ihrem Stuhl vor. »Indem sie ihn anlogen und behaupteten, er würde heimreisen können und würde nicht bestraff, damit war sein Urteil bereits gesprochen. Sagen Sie nicht, dass das nicht stimmt, ich glaube Ihnen doch nicht.«

Martin Beck hatte auch nicht vor, etwas dazu zu sagen. Rebecka sank zurück gegen die Stuhllehne und strich eine Strähne zurück, die nach vorn über die Wange gefallen war. Er wartete darauf, dass sie weitersprechen würde, gerade jetzt wollte er ihre Überlegungen nicht durch Fragen oder altkluge Kommentare unterbrechen.

Nach einer Weile sprach sie weiter:

»Ich habe vorhin gesagt, dass ich mich entschlossen habe, den Regierungschef zu töten, nachdem ich von Jims Tod erfahren hatte. Das stimmt sicherlich, aber eigentlich habe ich schon früher daran gedacht. Ich bin jetzt nicht ganz sicher.«

»Aber du hast doch gesagt, dass du dich erst vorgestern daran erinnertest, dass du einen Revolver hast?«

Rebecka zog die Stirn kraus. »Das stimmt. Daran habe ich erst vorgestern gedacht.«

»Wenn du dir schon früher vorgenommen hättest, ihn umzubringen, wäre dir sicher auch der Revolver eingefallen.«

Sie nickte.

»Ja, vielleicht. Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass mir jetzt, wo Jim tot ist, alles egal ist. Es spielt keine Rolle mehr, was aus mir wird. Der einzige Mensch, der mir etwas bedeutet, ist Camilla. Ich liebe sie, aber ich habe ja keine Möglichkeit, ihr etwas anderes als Liebe zu geben. Muss sie in dieser Gesellschaff aufwachsen und darin leben, dann ist es vielleicht am besten für sie, wenn sie lernt, wie es darin zugeht. Das kann ich ihr niemals beibringen. Ich habe versucht, es so zu sehen, dass sie glücklicher wird, wenn sie sich anpassen kann und nach den Regeln, Gesetzen und Auffassungen lebt, die in diesem Land gelten. Im Übrigen habe ich mir niemals eingebildet, dass man ein Kind besitzt, nur weil man es geboren hat. Im besten Fall wird sie stark genug und kann ihr Leben nach eigenen Wünschen einrichten, wenn sie älter wird.«

Rebecka warf Martin Beck einen trotzigen Blick zu und fügte hinzu:

»Sie glauben natürlich, dass ich naiv und verantwortungslos handele, aber ich habe wirklich sehr genau darüber nachgedacht.«

»Das nehme ich dir voll und ganz ab«, widersprach Martin Beck. »Ich finde keineswegs, dass du naiv oder verantwortungslos bist. Im Gegenteil. Du scheinst ein stärkeres Verantwortungsbewusstsein zu haben als die meisten anderen in deinem Alter. Außerdem bist du ehrlich, und das kommt auch nicht sehr häufig vor.«

»Nein«, bestätigte Rebecka, »alle lügen. Es ist grauenhaft, in einer Welt zu leben, in der sich alle gegenseitig anlügen. Aber alle glauben ja, lügen zu müssen, um in diesem Leben durchzukommen, und wenn diejenigen, die am meisten zu sagen haben und anderen Anweisungen geben können, was sie zu tun haben, am allermeisten lügen, dann muss es wohl so werden. Wie kann ein Mensch, der ein Schurke und Betrüger ist, ganz oben sitzen und über ein ganzes Land bestimmen? Denn das war er. Ein gemeiner Betrüger. Nicht dass ich glaube, dass der, der jetzt an seine Stelle tritt, auch nur einen Deut besser wird, so dumm bin ich nicht, aber ich wollte all denen, die da sitzen und regieren und bestimmen, zeigen, dass sie die Leute nicht pausenlos betrügen können. Ich glaube, dass viele Menschen ganz genau wissen, dass sie belogen und betrogen werden, aber die meisten sind zu bequem oder zu ängstlich, um etwas zu sagen. Es hilft übrigens nicht, sich zu beklagen oder zu protestieren, diejenigen, die die Macht haben, interessiert das gar nicht. Die kümmern sich um nichts anderes als um ihre eigene Karriere, und wie es den normalen Mitbürgern geht, ist ihnen völlig egal. Darum habe ich ihn erschossen. Damit sie vielleicht Angst bekommen und begreifen, dass das Volk nicht so gleichgültig dahinvegetiert, wie sie glauben. Denen ist es doch scheißegal, ob die Menschen Hilfe brauchen, und sie pfeifen darauf, wenn man sich beklagt und Stunk macht, wenn einem nicht geholfen wird, aber ihr eigenes Leben, da scheißen sie jedenfalls nicht drauf. Aber ich …«

Das Telefon klingelte und unterbrach sie. Martin Beck bedauerte, dass er nicht Anweisung gegeben hatte, ungestört zu bleiben. Es kam sicher nicht häufig vor, dass Rebecka so gesprächig war. Als er sie damals gesehen hatte, war sie eher schüchtern und still gewesen.

Er nahm den Hörer ab. Die Vermittlung teilte mit, dass sie immer noch nach Advokat Braxen suchten, bis jetzt ohne positives Ergebnis.

Martin Beck legte auf, und im gleichen Augenblick klopfte es an der Tür, und Hedobald Braxen trat ins Zimmer.

»Guten Tag«, begrüßte er Martin Beck flüchtig und ging direkt auf Rebecka zu.

»Da bist du ja, Roberta. Ich habe im Radio gehört, dass der Premierminister erschossen worden ist, und aus der Beschreibung des so genannten Täters entnahm ich, wer das sein konnte, und habe mich beeilt, herzukommen.«

»Guten Tag«, sagte Rebecka.

»Wir haben schon nach Ihnen gesucht«, erklärte Martin Beck.

»Ich war bei einem Klienten. Ein hochinteressanter Mann übrigens. Unerhört belesen und zu Hause in verschiedenen faszinierenden Fachgebieten. Sein Vater war übrigens seinerzeit ein hervorragender Experte für flämische Webkunst. Dort habe ich die Nachrichten im Radio gehört.«

Braxen trug einen langen grüngelb gesprenkelten Mantel, der straff über seinem imposanten Bauch saß. Jetzt schälte er sich aus dem guten Stück und warf es auf einen Stuhl. Er legte seine Aktentasche auf den Schreibtisch und bemerkte den Revolver.

»Mmm. Nicht schlecht. Mit so einem Ding etwas zu treffen ist nicht leicht. Ich erinnere mich, ich glaube, es war kurz vor Kriegsausbruch, da ging es um eine ähnliche Waffe in einem Fall zwischen Zwillingsbrüdern. Seid ihr hier fertig, dann können Roberta und ich.

»Rebecka«, verbesserte Martin Beck.

»Natürlich. Kann ich mich ein wenig mit Rebecka unterhalten?«

Braket wühlte in seiner Aktentasche und zog ein altes Zigarrenetui aus Messing hervor. Er öffnete es und nahm einen zerkauten Zigarrenstummel heraus.

Martin Beck sah ein, dass er Rebecka zuliebe die beiden am besten eine Weile allein ließ. Die zahlreichen Gedankenverbindungen und Abweichungen vom Thema würden weniger werden, wenn Braket nur Rebecka als Zuhörerin hatte. Außerdem musste er selbst verschiedene Formulare ausfüllen und Berichte und Protokolle mit Angaben über Rebecka aufsetzen, und einen großen Teil davon konnte er zunächst ohne ihre Mitwirkung schaffen.

Er stand von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch auf und sagte:

»Bitte sehr. Ich komme nachher wieder.«

Während er auf die Tür zuging, hörte er, wie Braket begann:

»Ja, kleine Rebecka, das ist nun allerdings eine böse Geschichte, aber wir werden es schon hinbiegen. Kopf hoch. Ich erinnere mich an ein Mädchen in deinem Alter, in Kristianstad, Frühjahr 1946, übrigens im gleichen Jahr, als …«

Martin Beck schloss die Tür hinter sich und seufzte.