14

Gunvald Larsson betrachtete seinen neuen Anzug.

War es ein schlechtes Omen, wenn er den an dem großen Tag anzog? Würde er von den Eingeweiden des Senators überschüttet werden oder etwas Ähnlichem? Nicht von der Hand zu weisen. Und gerade weil er so dachte, entschloss er sich, den neuen Anzug am nächsten Donnerstag anzuziehen.

Gunvald Larsson dachte häufig unorthodox.

Er zog seine Alltagskleidung an, eine pelzgefütterte Lederjacke, braune Hosen, feste dänische Halbschuhe mit Rohgummisohle. Blickte in den Spiegel und schüttelte den Kopf. Dann fuhr er zur Arbeit.

Gunvald Larsson hatte keine Lust, älter zu werden. Er war beinahe 50, und immer häufiger fragte er sich, was für einen Sinn sein Leben eigentlich gehabt hatte. Es hatte ihm Spaß gemacht, den größten Teil seines Erbteils schleunigst zu verpulvern. Es hatte ihm bei der Marine einigermaßen gefallen und noch besser in der Handelsflotte, aber warum um Gottes willen war er zur Polizei gegangen? Freiwillig hatte er einen Platz in der Gesellschaft eingenommen, bei dem er oftmals gezwungen war, gegen seine Überzeugung zu handeln.

Die Antwort war einfach. Es war der einzige Beruf, den er an Land mit seiner etwas eigenartigen Ausbildung bekommen konnte, und außerdem hatte er gehofft, dass er hin und wieder etwas Nützliches tun konnte. Aber war ihm das geglückt?

Und warum hatte er nicht geheiratet? Er hatte viele Gelegenheiten gehabt, aber jetzt war es im Großen und Ganzen zu spät.

Es war übrigens wahrhaftig Zeit, sich solche Fragen zu stellen.

Er war am Ziel, parkte den Wagen und fuhr mit dem Fahrstuhl hinauf ins Dezernat für Gewaltverbrechen, wo die Spezialgruppe ihr Hauptquartier hatte. Die Räume waren unansehnlich, die Farbe blätterte von den Wänden, das ganze Haus schien baufällig zu sein und sich unter dem Druck des neuen Polizeihauptquartiers zu ducken, das gigantische Ausmaße hatte und sich direkt vor den Fenstern erhob.

Dieser beinahe atemberaubende Protzbau war fast fertig gestellt. Es wurde behauptet, das Haus sei errichtet worden, um die gesamten Kräfte der Polizei zu zentralisieren, unter anderem im Hinblick auf eventuell bevorstehende Staatsstreiche. Es würde interessant sein, eine Erklärung dafür zu erhalten, warum es gerade auf einer Insel errichtet worden war. Vielleicht weil sie leicht isoliert werden konnte, indem man nur die dorthin führenden Brücken sprengte?

Schon lange bevor er fertig gewesen war, hatte der Hauskoloss die Polizei mit einem hübschen Beispiel zum Rätsel des verschlossenen und verriegelten Raumes überrascht. Die Zellen waren vorfabriziert und wurden von einem Kran fix und fertig an ihre endgültigen Plätze gesetzt. In einer davon hatten Bauarbeiter einen toten Landstreicher gefunden. Man hatte bald herausgefunden, dass der Betreffende an einer Überdosis Heroin gestorben war, aber die Zellentür war verschlossen gewesen, und niemand hatte sich erklären können, wie der Mann da hineingekommen war.

Gunvald Larsson blickte auf die elektrische Wanduhr. Drei Minuten nach acht.

Man schrieb den 14. November, und es war noch genau eine Woche bis zu dem großen Tag.

Das Hauptquartier bestand aus vier Zimmern, was wenig genug war, aber andererseits waren der Polizeimeister und Möller selten da, der Chef der Ordnungspolizei zeigte sich so gut wie nie und Malm und der Rikspolis-Chef überhaupt nicht.

In diesen Räumen pflegte Martin Beck meistens zu arbeiten.

Gunvald Larsson und Einar Rönn waren beinahe immer da, ebenso Benny Skacke und Frederik Melander, der sonst Kriminalinspektor beim Einbruchsdezernat war, jedoch jahrelang Erfahrungen bei der Riksmordkommission und beim Dezernat für Gewaltverbrechen in Stockholm gesammelt hatte.

Melander war ein seltsamer Mann und eine Hilfe, die man keinesfalls unterschätzen durfte. Sein Gedächtnis arbeitete wie ein Computer - nur besser, und indem man ihm alle Angaben zur Kenntnis gab, konnte man sich gegen viele Fehler, Doppelkommandierungen und anderes absichern. Er selbst war ein großer und wortkarger Mann, etwas älter als die anderen. Meistens saß er schweigend da und studierte seine Unterlagen, kratzte in seiner Pfeife, und wenn er nicht an seinem Platz war, so saß er auf der Toilette, eine Tatsache, die jeder zweite Polizist in Stockholm kannte und unerhört komisch fand.

Die, die sich selten im Hauptquartier aufhielten, hatten alle eigene Büros in der Nähe, und besonders der Chef der Ordnungspolizei erledigte einen großen Teil der direkten Organisationsarbeit an seinem Schreibtisch im alten Polizeihaus in Agnegatan. Dann schickte er von allen Papieren Kopien zu Martin Beck hoch.

Im Großen und Ganzen war es kein schlechtes Hauptquartier. Man pflegte einen unkonventionellen Stil, und Gunvald Larsson begnügte ich damit, Rönn zuzunicken, bevor er zu Martin Beck hineinging. Der saß auf seinem Tisch, ließ die Beine baumeln und telefonierte, gleichzeitig blätterte er in einem dicken Stapel von Meldungen.

»Nein«, sagte er. »Ich habe schon mehrmals wiederholt, dass ich mich dazu nicht äußern will…

Eben. Ihr dürft es genauso machen, wie ihr wollt…

Nein. Das habe ich nicht gesagt…

Ja. Ich habe gesagt, ihr dürft es genauso machen, wie ihr wollt. Wir wollen uns dazu überhaupt nicht äußern. Habt ihr verstanden.«

Er sprach jetzt mit einem gewissen Nachdruck.

»Hej.« Er legte auf.

Gunvald Larsson sah ihn fragend an.

»Die Luftwaffe«, sagte Martin Beck.

»Ach du grüne Neune!«

»Ja, das versuchte ich auch zu sagen, nur etwas höflicher. Die wollten wissen, ob wir mehr als eine Staffel Jagdflugzeuge haben wollten.«

»Und was hast du gesagt?«

»Ich habe versehentlich gesagt, dass wir Flugmaschinen überhaupt nicht brauchen.«

»Hast du dich so ausgedrückt?«

»Ja. Der General wurde ziemlich mürrisch. Flugmaschine ist offenbar in hässliches Wort.«

»Da hast du Recht. Das ist so, als ob man eine Decksplanke auf einem Boot als Fußboden bezeichnet.«

»Au, verflucht, ist das so schlimm? Ich werde ihn um Entschuldigung bitten, wenn er wieder anruft.«

Er blickte im Vorbeigehen auf die Datumsanzeige seiner Armbanduhr und stellte fest:

»Deine Freunde von der ULAG scheinen nichts von sich hören zu lassen.«

Die Grenz- und Ausländerkontrolle war in den letzten Wochen erheblich verschärft worden.

Gunvald Larsson riss sich ein borstenartiges Haar aus einem Nasenloch und prüfte es eingehend.

»Mmm.«

Er ging mit langen Schritten einige Male im Zimmer auf und ab. Schließlich schlug er vor:

»Ich finde, wir sollten uns so verhalten, als ob sie hier wären.«

»Du meinst, dass sie noch nicht gekommen sind?«

»Nein, im Gegenteil. Wenn sie etwas vorhaben, dann sind sie bereits am Platz.«

»Es muss sich ja logischerweise um mehrere Personen handeln. Sollte es denen wirklich geglückt sein, einzureisen, ohne dass wir auch nur einen von ihnen gefasst haben?«

Ziemlich viele Leute waren zur genaueren Kontrolle an den verschiedenen Grenzübergängen festgehalten worden, aber sie schienen einwandfreie Papiere gehabt zu haben.

»Es hört sich komisch an«, begann Gunvald Larsson, »aber …«

Er brach ab, und Martin Beck sagte:

»Eine andere Möglichkeit ist natürlich, dass sie schon gekommen sind, bevor die Grenzkontrollen wirksam wurden.«

»Ja. Das ist durchaus drin.« Er schien ungewöhnlich nachdenklich zu sein.

»Woran denkst du?«, wollte Martin Beck wissen.

»Dass es eine so verdammt gute Gelegenheit für die ULAG ist. Es passt vom Zeitpunkt her. In Europa haben sie bisher noch keine Aktion durchgeführt. Außerdem ist dieser Politiker …«

»Umstritten?«

»Umstritten, ja. In manchen Kreisen ist beinahe ein Kopfgeld auf den ausgesetzt.«

»Tja«, meinte Martin Beck leidenschaftslos, »wenn das so ist, beweist er einen gewissen persönlichen Mut, indem er überhaupt herkommt.«

Um dem Gespräch eine neue Richtung zu geben, fuhr er fort: »Hast du gestern interessante Filme gesehen?«

Gunvald Larsson war beauftragt worden, sich einige Filme von Staatsbesuchen anzusehen, die der Sicherheitsdienst beschafft hatte.

»Habe ich, und dabei ist mir aufgefallen, dass Nixon zusammen mit Tito tatsächlich in einem völlig offenen Wagen durch Belgrad gefahren ist. Und das Gleiche in Dublin. Nixon und De Valera saßen in einem uralten Rolls-Royce mit offenem Verdeck. Nach dem zu urteilen, was auf dem Film zu sehen war, hatten sie nur einen einzigen Sicherheitsmann bei sich. Dagegen schien das halbe Land abgeriegelt gewesen zu sein, als Kissinger in Rom war.«

»Haben sie auch den großen Klassiker gezeigt? Der Papst in Jerusalem?«

»Ja. Den hatte ich leider schon früher mal gesehen.«

Der Besuch des Papstes in Jerusalem war von der jordanischen Sicherheitspolizei organisiert worden, deren Bemühungen zu einem Durcheinander geführt hatten, das in der Weltgeschichte kein Gegenstück hatte. Selbst Stig Malm hätte so etwas nicht fertig bekommen.

Das Telefon klingelte.

»Ja, Beck.«

»Hej«, meldete sich der Chef der Ordnungspolizei. »Hast du die Unterlagen gesehen, die ich dir raufgeschickt habe?«

»Ja. Ich bin gerade dabei, sie durchzusehen.«

»Die kleineren Orte im Land werden an diesen beiden Tagen beinahe ohne Polizeischutz sein.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Ich will nur, dass du dir dessen bewusst bist.«

»Das ist allerdings nicht meine Sache. Frag den Rikspolis-Chef, ob er daran gedacht hat.«

»Okay, ich werde Malm anrufen.«

Rönn trat ein, ihm war die Lesebrille auf die rote Nasenspitze gerutscht. Er hielt ein Stück Papier in der Hand.

»Diese SK-Liste habe ich auf meinem Schreibtisch gefunden.«

»Die soll doch in meinem Briefkorb liegen«, fuhr Gunvald Larsson ihn an. »Leg sie da hinein. Wer hat die denn überhaupt weggenommen?«

»Na, ich jedenfalls nicht«, entgegnete Rönn.

»Was ist denn das für eine Liste?« fragte Martin Beck.

»Leute, die als Reserve hier im Gebäude bleiben«, erklärte Gunvald Larsson. »Solche, die am besten im Tagesraum sitzen und Mensch-ärger-dich-nicht spielen, wenn du verstehst, was ich meine.«

Martin Beck nahm Rönn die Liste aus der Hand und warf einen Blick darauf. Sie wurde von einigen einschlägigen Namen angeführt.

SK-LISTE

Bo Zachrisson

Kenneth Kvastmo

Karl Kristiansson

Victor Paulsson

Aldor Gustavsson

Richard Uliholm

 

Und so weiter.

»Ich verstehe ausgezeichnet. Das mit dem Bereitschaftsdienst scheint mir eine gute Idee zu sein, vor allem für die selbst. Was heißt denn SK-Liste?«

»Sämtlich Knallköppe. Ich möchte mich nicht direkter ausdrücken.«

Sie gingen in den größeren Raum, in dem Rönn und Melander ihre Schreibtische hatten. Hier hatte man eine große Lichtpause des Stadtplanes aufgehängt und den vorgesehenen Weg der Kolonne eingezeichnet.

So wie es immer in derartigen Zentralen zu sein pflegt, war es auch hier ziemlich unruhig.

Pausenlos klingelte das Telefon, und hin und wieder kamen Leute herein und gaben interne Mitteilungen in braunen Mappen ab.

Melander telefonierte gerade. Ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, sagte er: »Ja. Hier kommt er gerade.« Er reichte den Hörer zu Martin Beck.

»Ja. Beck.«

»Fein, dass ich dich erreicht habe«, sagte Stig Malm. »Ja.«

»Gratuliere übrigens zu der beispielhaft eleganten Lösung des Petrus-Mordes.«

Etwas spät. Und übertrieben ausgedrückt.

»Danke. Es waren hauptsächlich Äsa und Benny, die dahinter gekommen sind. Vor allem Äsa.«

»Äsa?«

Malms Namensgedächtnis war nicht das Beste. »Äsa Torell. Von der Kripo in Märsta.«

»Ach so.« Malms Stimme klang ein wenig unsicher. Von weiblichen Polizeibeamten hielt er nicht viel. »War das alles, was du mir sagen wolltest?«

»Nein. Leider nicht.«

»Worum geht es denn?«

»Der Kommandeur der Luftwaffe hat gerade eben den Rikspolis-Chef angerufen.«

Schnell gehandelt, dachte Martin Beck. Laut sagte er: »Ja und?«

»Der General schien …«

»Verärgert zu sein?«

»Ich möchte lieber sagen, er schien enttäuscht zu sein, dass die Polizei so wenig Bereitschaff zur Zusammenarbeit zeigt.«

»Aha.«

Malm räusperte sich geniert. »Bist du erkältet?«

Was für ein mieser Chef, überlegte Martin Beck. Dann fiel ihm ein, dass er sich ja jetzt als Malms Vorgesetzter betrachten konnte. Deshalb fasste er sich kurz:

»Wir haben ziemlich viel zu tun. Was willst du?«

»Ja, weißt du, wir meinen, dass unsere Verbindungen zum Militär sowohl anfällig als auch wichtig sind. Daher ist es zu empfehlen, wenn Gespräche mit den Offizieren in einem Geiste der Verständigung geführt werden. Wie du verstehen wirst, bin nicht ich es, der hier spricht.«

Martin Beck lachte leise und fragte: »Wer ist es denn, verdammt noch mal? Irgendein Telefongeist?«

»Martin«, bat Malm flehentlich. »Du weißt, in welcher Lage ich mich befinde. Es ist nicht leicht…«

»Okay. Ist sonst noch was?«

»Im Augenblick nicht.«

»Na dann. Hej.«

»Hej.«

Im Laufe des Gesprächs war auch Benny Skacke ins Zimmer getreten. Er blickte Martin Beck fragend an, und der erklärte:

»Bürochef Malm. Eine interessante Persönlichkeit, mit der du im Laufe deiner Karriere noch häufig zusammenstoßen wirst.«

Gunvald Larsson stand drüben am Stadtplan. Ohne den Kopf zu wenden, mahnte er:

»Übertreib nicht. Malm ist nur ein dämlicher Bürokrat. Die gesamte Verwaltung ist von diesen Typen durchsetzt.«

Das Telefon klingelte wieder. Melander hob ab. Diesmal war es Möller, der über seinen Kampf berichten wollte, den er gegen die, wie er sie nannte, subversiven Kräfte in der Gesellschaft führte. Einfacher ausgedrückt: die Kommunisten.

Sie ließen Melander das Gespräch führen. Für solche Dinge eignete er sich am besten. Antwortete kurz und geduldig, drückte sich stets klar aus und wurde nie laut. Wenn das Gespräch beendet war, hatte der Anrufer keinerlei Gehör gefunden, trotzdem war sein Anliegen freundlich angehört worden, und er konnte sich nicht beklagen.

Die anderen studierten den Weg der Kolonne.

Das Programm für den Besuch des missliebigen Senators war sehr einfach.

Sein Spezialflugzeug, das sicher zehnmal am Tag von ausgewählten Mechanikern überprüft wurde, sollte um 13 Uhr in Stockholm-Arlanda landen. Ein Repräsentant der Regierung würde ihn am Flugzeug begrüßen. Sie würden zum VIP-Raum gehen. Die Regierung hatte eine Ehrenkompanie des Militärs abgelehnt. Stattdessen sollten der Repräsentant der Regierung und der Gast aus den USA in das kugelsichere Auto steigen, um zum Reichstagshaus am Sergels Torg gebracht zu werden. Später am Tag sollten der Senator oder, genauer gesagt, vier Offiziere von einem amerikanischen Zerstörer, der zufällig in Oslo lag, einen Kranz zu Ehren des alten Königs niederlegen.

Über diese Ehrung des toten Monarchen hatte es viel Gerede gegeben. Es hatte damit begonnen, dass man den Senator nach speziellen Wünschen gefragt hatte. Der hatte daraufhin geantwortet, dass er gern ein Lager der Lappen, in dem diese immer noch so wie vor 500 Jahren lebten, besichtigen würde. Dieser Wunsch brachte die Regierungsmitglieder, die für die Einladung des Senators verantwortlich waren, in einige Verlegenheit, denn damit bewies er eine beinahe erhabene Ahnungslosigkeit über Schweden im allgemeinen und die Lappen im besonderen. Man war schließlich gezwungen gewesen, mitzuteilen, dass es so etwas nicht gab, und fragte vorsichtig an, ob der Senator sich nicht das Kriegsschiff Wasa aus dem 17. Jahrhundert ansehen wolle. Die Antwort war jedoch negativ, der Senator war an alten Schiffen nicht interessiert und wollte stattdessen den kürzlich verstorbenen König ehren, denn der wurde nicht nur von dem Senator, sondern auch von großen Teilen des amerikanischen Volkes als der vornehmste Schwede der Gegenwart angesehen.

Keiner war über diesen Wunsch sehr beglückt. Mehrere Minister waren leicht schockiert über den Ausbruch ungehemmten Royalismus, der in Zusammenhang mit dem Tod des alten und dem Ausrufen des neuen Königs festzustellen war. Sie meinten, dass das des Guten zu viel sei, und ließen auf diplomatischem Wege zuerst erstaunt anfragen, was der Senator eigentlich mit »kürzlich« meine (seit dem Ableben von Gustav VI. Adolf war mehr als ein volles Jahr vergangen), und dann mit Nachdruck zu verstehen geben, dass die Regierung nicht daran interessiert sei, an der wachsenden Verehrung verstorbener Könige mitzuwirken. Aber der Senator hatte sich unbeugsam gezeigt. Er hatte sich darauf versteift, einen Kranz niederzulegen, damit war die Sache entschieden.

Die Botschaff der USA gab die Bestellung für einen Kranz auf, der so groß war, dass zwei Blumengeschäfte in die Arbeit eingeschaltet werden mussten. Der Senator hatte den Umfang und die Blumen, die der Kranz enthalten sollte, selbst bestimmt. Die vier Marineoffiziere trafen bereits am 12. November in Stockholm ein und waren zum Glück kräftig gebaute Männer. Keiner von ihnen maß weniger als 1,90 Meter ohne Schuhe. Das zeugte von weiser Voraussicht, denn es war unwahrscheinlich, dass Seeleute kleineren Formats überhaupt in der Lage gewesen wären, das Blumenmeer auch nur von der Stelle zu rücken.

Nach dieser Zeremonie, der beizuwohnen der Regierungschef nach vielem Hin und Her zugesagt hatte, würde das Ehrengeleit mit dem Senator zum Reichstagshaus fahren.

Im Laufe des Nachmittags sollte der Gast eine Reihe von Ministern zu informellen politischen Gesprächen treffen.

Am Abend lud die Regierung zu einem Festessen in Stallmästaregärden ein, wo auch die Führer der Oppositionsparteien mit ihren Frauen Gelegenheit hatten, sich mit dem Mann, der einmal beinahe Präsident der Vereinigten Staaten geworden wäre, zu unterhalten.

Die politische Richtung des Senators war eine solche, dass der Führer der Linken in Schweden, das heißt der Vorsitzende der kommunistischen Partei, es tatsächlich abgelehnt hatte, mit einem solchen Mann gemeinsam zu dinieren.

Nach dem Essen sollte der Senator sich für die Nacht in die Gästewohnung der Botschaft zurückziehen.

Das Programm für den Freitag war vergleichsweise einfach.

Der König lud zum Lunch aufs Schloss. Wie das genau vonstatten gehen sollte, hatte die Hofverwaltung noch nicht mitgeteilt; vorläufig hieß es nur, dass der König heraustreten und den Gast in Logärden treffen sollte, danach würden sie gemeinsam das Schlossgebäude betreten.

Direkt nach dem Lunch sollte der Senator mit einem oder mehreren Regierungsmitgliedern nach Arlanda fahren, sich verabschieden und in die USA zurückfliegen. Schluss, aus.

Dabei gab es nichts besonders Kompliziertes oder Merkwürdiges.

Eigentlich war es völlig absurd, dass so viele Polizisten aller Dienstgrade damit beschäftigt sein sollten, eine einzige Person zu schützen.

Sie standen jetzt vor der Karte.

Alle zusammen außer Melander, der immer noch telefonierte.

Rönn kicherte plötzlich ohne sichtbaren Anlass, und Gunvald Larsson fragte: »Was ist los, Einar?« Und Skacke: »Spinnst du?«

Worauf Gunvald Larsson diesen so feindselig anstarrte, dass Skacke errötete und lange Zeit gar nichts sagte.

»Ich habe mir gerade vorgestellt«, sagte Rönn, »dass der Kerl Lappen sehen wollte. Er könnte ja zu mir nach Hause kommen und sich Unda ansehen. Aber natürlich nur ansehen.«

Unda war Rönns Frau, sie stammte aus einer Lappenfamilie, war klein und hatte pechschwarzes, glattes Haar und nussbraune Augen. Sie hatten einen Sohn, Mats, der gerade zehn geworden war.

Der Junge war blauäugig und hatte helles Haar, genau wie Rönn, dagegen hatte er von der Mutter das Temperament geerbt, was dazu führte, dass Rönn den ruhenden Pol in der Familie darstellte, in der beinahe jede Kleinigkeit zu dramatischem lauten Wortwechsel und gewaltigen Zänkereien führen konnte.

Melander beendete auch dieses Telefonat, stand auf und trat zu den anderen.

»Mmm. Ich hätte jetzt auch alles Material gelesen, was es über diese Sabotagegruppe gibt.«

»Und wo würdest du eine Sprengladung einbauen?« fragte Martin Beck.

Melander steckte seine Pfeife an und entgegnete mit stoischer Miene: »Wo würdet ihr denn diese eventuelle Bombe deponieren?«

Fünf Finger erhoben sich zum Stadtplan und zeigten auf die gleiche Stelle.

Alle kamen sich ein wenig albern vor. Schließlich sagte Gunvald Larsson:

»Wenn fünf Leute wie wir zu genau dem gleichen Ergebnis kommen, dann muss das verdammt falsch sein.«

Martin Beck trat einige Schritte zur Seite, stützte sich mit dem Ellbogen auf einen Aktenschrank an der Wand und ordnete an:

»Frederik, Benny, Einar und Gunvald. In zehn Minuten will ich von euch eine schriftliche Begründung haben. Und jeder soll sie für sich allein schreiben. Ich werde ebenfalls eine verfassen. Aber ganz kurz, bitte.«

Er ging in sein Zimmer. Das Telefon klingelte. Er ließ es klingeln, spannte einen Bogen in die Schreibmaschine und tippte mit den Zeigefingern.

Wenn die ULAG ein Attentat durchführen will, dann spricht alles dafür, dass sie eine Bombe mit Fernzündung verwendet. Bei der Art von Sicherheitsmaßnahmen, die wir zur Zeit entwickeln, schätze ich, dass sie es mit einer Bombe in der Gasleitung versuchen werden. Dagegen können wir uns am schwersten schützen, und außerdem ist auf diese Weise eine ausreichende Sprengwirkung zu erzielen. Voraussichtlicher Ort des Attentats: Der Platz, wo die Zubringerstraße zum Flughafen in Stockholm einmündet. Begründung: Die Kolonne kann nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten, die vor allem bei der Umdisponierung der Polizeikräfte liegen, auf einen anderen Weg umgeleitet werden. Dieser Platz ist von unzähligen unterirdischen Gängen und Korridoren unterzogen, die teils zu dem im Bau befindlichen internen Kommunikationssystem der U-Bahn gehören, teils aber auch aus dem verwickelten System von Abwasserleitungen bestehen. Man kann sie durch eine Reihe von Zugängen von den Straßen her erreichen oder andere Einstiege benutzen, wenn man das unterirdische Verbindungsnetz der Stadt kennt. Wir müssen auch damit rechnen, dass alternative Sprengladungen angebracht werden und deren logische Platzierung herauszufinden versuchen.

Martin Beck.

Skacke trat mit seinem Gutachten bereits ein, als Martin Beck noch nicht fertig war. Dann folgten Melander und Gunvald Larsson.

Rönn kam als Letzter. Die Schreibarbeit hatte ihn beinahe 20 Minuten gekostet. Er war kein Mann der Feder.

Alle kamen mit den gleichen Gesichtspunkten, aber Rönns Studie war die lesenswerteste. Er schrieb:

Der unterirdische Bombenleger, auch wenn er eine ferngezündete Detonation auslösen will, muss die Bombe in eine Gasleitung stecken, wo eine solche vorhanden ist. Da, wo ich hingezeigt habe, gibt es mehrere (fünf), und wenn er die Bombe da irgendwo hineinstopfen will, muss er sich entweder wie eine Wühlmaus selbst einen Gang graben oder die unterirdischen Gänge benutzen, die es bereits gibt. Dort, wo ich hingezeigt habe, gibt es viele solcher vorhandenen Gänge, und wenn dann die Bombe selbst so klein ist, wie Gunvald sagt, so ist es unmöglich, etwas dagegen zu tun, wenn wir nicht schon jetzt einen Haufen unterirdische Polizisten hinkommandieren und mit denen ein unterirdisches Polizeikommando schaffen wollen, aber die haben keine Erfahrung und können nichts Vernünftiges tun. Einar Rönn, Erster Polizeiassistent.

PS. Aber wir wissen ja nicht, ob es unter der Erde bereits Bombenattentatsterroristen gibt, wenn es sie abergibt, können weder überirdische noch unterirdische Polizisten sie hindern, aber sie können darüber hinaus in der Kloake schwimmen, und dann brauchen wir zusätzlich ein Kloakenkommando von Froschmännern, ja.

Der Verfasser grinste verlegen, während Martin Beck vorlas. Der lächelte jedoch nicht, sondern legte das Dokument zuoberst auf den Stapel.

Rönn überlegte gut, schrieb aber etwas eigenartig. Vielleicht war das der Grund, weshalb er noch nicht zum Kriminalinspektor befördert worden war.

Manchmal ließen böswillige Leute seine schriftlichen Arbeiten herumgehen und die ernteten höhnisches Gelächter.

Sicherlich schrieben Polizeibeamte Berichte, die der reine Unsinn waren, aber Rönn war doch ein erfahrener Detektiv und sollte es besser können, sagte man.

Martin Beck ging hinüber zum Schrank, lehnte sich auf die altbekannte Art dagegen, trank ein Glas Wasser, kratzte sich am Haaransatz und sagte:

»Benny, sorg dafür, dass uns keine Telefongespräche durchgestellt werden, und sag Bescheid, dass wir keine Besucher empfangen.«

Skacke nickte, gab aber zu bedenken: »Überlegt mal, wenn nun der Rikspolis-Chef oder Malm kommt.«

»Malm werfen wir hinaus«, entschied Gunvald Larsson, »und was den anderen betrifft, so kann er sich solange damit beschäftigen, Patiencen zu legen. In meiner Schreibtischschublade liegt ein Kartenspiel. Das ist eigentlich Einars, der es von Äke Stenström geerbt hat.«

»Okay. Zuerst will Gunvald etwas sagen«, eröffnete Martin Beck die Besprechung.

»Das betrifft die Bombentechnik der ULAG«, begann Gunvald Larsson. »Unmittelbar nach dem Attentat vom 5. Juni begann das Bombenkommando der Polizei zusammen mit Experten des Militärs in den Gasleitungen der Stadt nach anderen Sprengladungen zu suchen. Schließlich fand man zwei Ladungen. Aber die waren so klein und gut versteckt und so geschickt angebracht, dass man die eine erst nach drei Monaten fand und die zweite erst in der vorigen Woche. Obwohl beide unter dem für den nächsten Tag geplanten Weg der Kolonne lagen. Man musste sich teilweise Meter für Meter herangraben. Die Bomben waren ein deutlich verbesserter Typ der Sprengladungen, die die Plastiksprengstoffexperten damals in Algerien benutzt haben. Der Funkzündungsmechanismus war von höchstem technischen Standard.«

Er schwieg.

Martin Beck nahm das Wort:

»So viel darüber. Nun wollen wir etwas anderes besprechen, und das ist ein Detail, das ganz bestimmt unter uns bleiben muss. Nur wir fünf dürfen eine Ahnung davon haben. Sonst niemand. Das heißt, bis jetzt gibt es nur eine Ausnahme, aber dazu kommen wir später.«

Das Gespräch dauerte beinahe zwei Stunden. Alle hatten etwas beizutragen.

Martin Beck war danach sehr zufrieden. Dies hier war, unabhängig davon, welche persönliche Auffassung der eine oder andere von den übrigen Kollegen der Gruppe hatte, eine gute Mannschaft. Gewiss musste er ziemlich off erklären, was er meinte, was ihn wie gewöhnlich an das Fehlen Kollbergs erinnerte.

Skacke prüfte, wer in der Zwischenzeit angerufen hatte. Das war eine lange Liste.

Der Rikspolis-Chef, der Polizeimeister von Stockholm, der Oberbefehlshaber, der Chef der Armee, der Adjutant des Königs, der Rundfunkchef, Bürochef Malm, der Justizminister, der Vorsitzende von Moderata Samlingspartiet - der rechtsbürgerlichen Partei -, der Chef der Ordnungspolizei, zehn verschiedene Zeitungen, der Botschafter der USA, der Polizeimeister von Märsta, der Sekretär des Regierungschefs, der Chef der regulären Wachmannschaft im Reichstagsgebäude, Lennart Kollberg, Äsa Toreil, der Oberste Staatsanwalt und Rhea Nielsen sowie elf unbekannte Mitbürger.

Martin Beck blickte bekümmert auf die Liste und seufzte tief.

Natürlich würde es so oder so Ärger geben, vielleicht viel Ärger.

Er ging mit dem Zeigefinger die lange Liste der Namen durch und wählte Rheas Nummer. »Hej«, sagte sie fröhlich, »störe ich?«

»Du störst mich nie.«

»Kommst du heute Abend nach Hause?«

»Ja. Aber wahrscheinlich ziemlich spät.«

»Wie spät?«

»Zehn, elf so ungefähr.«

»Was hast du heute gegessen?«, fragte sie inquisitorisch. Martin Beck antwortete nicht.

»Gar nichts? Denk dran, was wir darüber gesagt haben, dass man stets die Wahrheit sprechen muss.«

»Du hast Recht, wie so häufig.«

»Komm doch dann lieber zu mir. Wenn du eine Möglichkeit siehst, ruf eine halbe Stunde vorher an. Ich will nicht, dass du vor Hunger stirbst, noch bevor euer Prolet da landet.«

»Okay, ich umarme dich.«

»Ich dich auch.«

Dann teilten sie die Telefonate unter sich auf, einige waren schnell erledigt, andere waren langwierig und kompliziert.

Gunvald Larsson sprach mit Malm und fragte: »Was willst du?«

»Beck scheint versucht zu haben, uns die Verantwortung dafür in die Schuhe zu schieben, dass eine große Menge von Polizisten aus den Provinzstädten hierher kommandiert werden muss. Der Chef der Ordnungspolizei hat deswegen etwa vor einer Stunde hier angerufen.«

»Na und?«

»Wir hier in der Reichspolizeileitung wollen nur darauf hinweisen, dass ihr keinen Grund habt, euch in irgendwelche nebensächlichen Verbrechen einzumischen, die noch gar nicht begangen worden sind.«

»Haben wir das getan?«

»Die Frage der Verantwortung wird vom Chef als wichtig erachtet. Wenn woanders Verbrechen begangen werden, dann ist das nicht unsere Schuld. Die Reichspolizeileitung hat nichts mit der Sache zu tun.«

»Immerhin erstaunlich. Wenn ich zur Reichspolizeileitung gehörte, würde ich doch dafür sorgen, dass vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden. Was habt ihr da oben eigentlich vor? Was glaubt ihr denn, womit ihr euch beschäftigt?«

»Die Verantwortung liegt nicht bei uns, sondern bei der Regierung.«

»Okay, dann rufe ich den Minister an.«

»Was?«

»Du hast ganz genau gehört, was ich sagte. Auf Wiedersehen.«

Gunvald Larsson hatte niemals vorher mit einem Regierungsmitglied seines Landes gesprochen. Er hatte übrigens auch niemals Lust dazu gehabt, aber jetzt wählte er mit einem gewissen Behagen die Nummer des Justizministeriums.

Er wurde sofort verbunden und hatte den Minister selbst in der Leitung.

»Guten Tag«, begann er. »Ich heiße Larsson und bin Polizeibeamter. Ich bin mit Fragen des Schutzes beim bevorstehenden Besuch des Senators betraut.«

»Guten Tag. Ich habe schon von Ihnen reden gehört.«

»Es verhält sich jetzt so, dass eine meiner Ansicht nach unerfreuliche und sinnlose Diskussion darüber geführt wird, wessen Fehler es ist, dass es am nächsten Donnerstag und Freitag zum Beispiel in Enköping oder Norrtälje keine Bullen geben wird.«

»Und?«

»Ich möchte diese Frage beantwortet wissen, damit ich nicht dasitzen und mich mit allen möglichen Idioten darüber streiten muss.«

»Ach so. Die Verantwortung trägt natürlich die Regierung insgesamt. Weder kann man noch sollte man bestimmte Personen, zum Beispiel diejenigen, die die Einladung an den Betreffenden vorgeschlagen und durchgedrückt haben, herausstellen. Ich werde persönlich die Reichspolizeileitung darauf aufmerksam machen, dass sie alles in ihrer Macht Stehende unternehmen muss, um die vorbeugende Verbrechensbekämpfung in Bezirken mit starkem Personalmangel zu stärken.«

»Ausgezeichnet. Mehr wollte ich nicht hören. Auf Wiedersehen.«

»Einen Augenblick«, beeilte sich der Justizminister, »ich hatte selbst angerufen, um zu erfahren, wie die Lage an der Sicherheitsfront beurteilt werden kann.«

»Wir beurteilen sie als gut. Arbeiten nach einem festgelegten, aber flexiblen Plan.«

»Ausgezeichnet.«

Er wirkte ja richtig vernünftig, dachte Gunvald Larsson. Aber dem Justizminister ging auch der Ruf voraus, eine leuchtende Ausnahme zwischen den Karrierepolitikern zu sein, die Schweden auf dem langen und offenbar unausweichlichen Weg nach unten steuerten.

So verlief der Tag mit vielen, überwiegend sinnlosen Telefonaten. Pausenlos kamen und gingen Aktenboten.

Gegen 22 Uhr wurde Gunvald Larsson eine Mappe gebracht, deren Inhalt ihn veranlasste, beinahe eine halbe Stunde lang mit in die Hände gestütztem Kopf dazusitzen.

Sowohl Skacke als auch Beck waren noch da, aber sie wollten bald nach Hause gehen, und Gunvald Larsson wollte ihnen den Abend nicht verderben. Daher entschloss er sich, erst am nächsten Morgen über den Inhalt der Mappe zu berichten.

Dann überlegte er es sich doch anders und gab sie ohne Kommentar an Martin Beck, der sie ebenso ungerührt in seinen Aktenkoffer legte.

Martin Beck kam an diesem Abend erst 20 nach 11 in das Haus in Tulegatan.

Der Arbeitstag hatte mit einem sehr ausgedehnten Gespräch mit dem Chef der Ordnungspolizei geendet. Was sie zu besprechen hatten, war wichtig und erforderte Konzentration. Wie sollte die unheimliche Menge von uniformierten Polizisten eingesetzt werden? Wo sollten sie untergebracht und wie beköstigt und hin und her transportiert werden? Wo sollten sie sich zu welchen Zeiten befinden?

Wie sollte man mit den Demonstranten verfahren?

Der Chef der Ordnungspolizei war ein guter Verwaltungsbeamter. Noch besser war seine vorurteilslose Einstellung zu bestimmten so genannten kritischen Fragen.

Eine davon war das Problem der Demonstranten. Vieles deutete daraufhin, dass Eric Möller in dieser Frage demnächst vorstellig werden würde und dass er bereit war, sich persönlich an die höchsten Stellen innerhalb der Bürokratie zu wenden, um seinen Vorstellungen Gehör zu verschaffen.

Darum war Martin Beck daran gelegen, in dieser Frage eine klare Linie zu haben. Er wollte eine fertige Lösung vorweisen, die den Verdrehungen der Sicherheitspolizei entgegengehalten werden konnte.

Seine persönliche Meinung war, dass es nichts dagegen einzuwenden gab, wenn der wenig willkommene Gast Gelegenheit bekam, sowohl zu sehen als auch zu hören, dass es viele Menschen gab, die ausgesprochen schlecht von ihm dachten und seinen Besuch als eine Beleidigung empfanden.

Viel zu viele Dinge, an denen dieser Mann maßgeblich beteiligt war, waren unvergessen oder immer noch aktuell. Der Krieg in Vietnam, das Eingreifen in Kambodscha, der Völkermord in Chile, um nur einige Beispiele zu nennen.

Der Chef der Sicherheitspolizei war mit diesen Überlegungen einverstanden.

Manch andere waren es überhaupt nicht, zum Beispiel Stig Malm, der der Ansicht war, dass die Polizeikordons und die Straßenabsperrungen so weit vom Weg der Kolonne entfernt angelegt werden sollten, dass der Senator nicht einen einzigen Demonstranten oder ein Spruchband oder ein Plakat zu sehen bekam.

Eric Möllers letzter Bericht über die Tendenz deutete darauf hin, dass die Demonstrationen einen großen Umfang annehmen würden und dass Leute von nah und fern kommen würden, um zu zeigen, was sie dachten. Das meinten seine Spione erfahren zu haben.

Wahrscheinlich war das richtig. Es war falsch, in die alte Gewohnheit zu verfallen und alles, was die Sicherheitspolizei tat, entweder als verkehrt oder als absichtliche Schikane den Linken gegenüber abzutun.

Für Martin Beck und den Chef der Ordnungspolizei kam es darauf an, die Polizei so einzusetzen, dass die Demonstranten ihre Ansichten kundtun durften, militantere Gruppen aber nicht die Polizeisperre durchbrachen und die Kolonne behinderten, geschweige denn die Wege verbarrikadieren konnten. Der Chef der Ordnungspolizei meinte, mit dieser Aufgabe fertig werden zu können. Nach einigem Zögern stimmte er auch der nächsten Forderung zu: dass die uniformierte Polizei streng darauf hingewiesen wurde, keine Gewalt anzuwenden, wenn nicht offensichtlich zwingende Gründe vorlagen. Einzelne Polizisten, die gegen diese Regel verstießen, sollten disziplinarisch bestraft und in gröberen Fällen vor Gericht gestellt werden.

Martin Beck kämpfte eine Weile, um den Ausdruck »vor Gericht gestellt« gegen »entlassen« auszuwechseln, musste aber schließlich nachgeben.

Er öffnete die Haustür mit seinem eigenen Schlüssel. Dann ging er zwei Treppen hoch und klingelte an der Tür. Die war verschlossen. Er klingelte ein verabredetes Signal und wartete.

Sie hatte einen Schlüssel zu seiner Wohnung, er jedoch keinen zu ihrer.

Martin Beck konnte nicht einsehen, dass er den brauchte, denn er hatte dort kaum etwas zu suchen, wenn sie nicht da war. Und wenn sie zu Hause war, war die Tür meistens unverschlossen.

Nach einer halben Minute oder so kam sie barfuß angelaufen und öffnete.

Sie sah unwahrscheinlich munter aus und hatte lediglich einen weichen, flauschigen graublauen Pullover an, der ihr bis über die Hälfte der Oberschenkel reichte.

»Verdammt«, begrüßte sie ihn, »du hast mir zu wenig Zeit gelassen. Ich habe eine Sache im Ofen, die noch eine halbe Stunde braucht.«

Er hatte sie nicht anrufen können, bevor die Besprechung mit dem Chef der Ordnungspolizei beendet war, das heißt bis vor zehn Minuten. Danach hatte er einen Streifenwagen angehalten und sich mitnehmen lassen, denn der Taxiservice war wie so oft zusammengebrochen.

»Herrgott, wie müde du aussiehst. Begreifst du denn nicht, dass du was essen musst?«

Sie blickte ihn an von oben bis unten und fuhr fort:

»Wollen wir baden? Ich glaube, du hast es nötig.«

Rhea hatte vor einem Jahr im Kellergeschoss eine Sauna für die Mieter einbauen lassen. Wenn sie die privat benutzen wollte, hängte sie ganz einfach einen Zettel an die Kellertür.

Martin Beck zog sich um und nahm einen alten Bademantel, den er im Schlafzimmerschrank hängen hatte, während sie schon runterging und die Sauna anstellte. Das war eine ausgezeichnete Anlage, trocken und sehr heiß.

Die meisten Leute sitzen schweigend in einer Sauna, aber nicht Rhea. Sie fragte:

»Na, wie läuft denn dein komischer Job?«

»Gut, glaube ich, aber …«

»Aber, was?«

»Das lässt sich nicht so leicht sagen. Ich habe ja nie vorher so was gemacht.«

»Überleg mal, dieses Schwein überhaupt einzuladen. Die Sozialdemokraten haben wirklich keinerlei Scham mehr im Leib.«

»Er scheint nicht sehr populär zu sein.«

»Populär? Es ist verdammt noch mal schade darum, dass du ihn ungeschoren wieder abreisen lässt.«

»Meinst du?«

»Nicht ernsthaft. Gewalt ist selten eine glückliche Lösung. Manchmal natürlich.«

»Wann denn?«

»Die Befreiungskriege, die jahrelang gedauert haben. Vietnam zum Beispiel. Was sollen die Menschen denn machen? Die müssen losschlagen. Und jetzt haben sie gesiegt. Dauert es noch eine Woche? Bis er kommt, meine ich.«

»Nicht mal mehr so lange. Nächsten Donnerstag.«

»Kommt das im Radio oder Fernsehen?«

»Sowohl als auch.«

»Ich fahre rüber nach Köpmangatan und seh mir das an.«

»Willst du nicht demonstrieren?«

»Vielleicht«, sagte sie mürrisch. »Ich sollte es tun. Man fängt vielleicht an, zu alt für Demonstrationen zu werden. Vor einigen Jahren war das noch anders.«

»Hast du von einer Sache gehört, die ULAG heißt?«

»Ich habe darüber in der Zeitung gelesen. Es scheint unklar, was die für Absichten haben. Glaubst du, dass sie hier was unternehmen?«

»Die Möglichkeit besteht.«

»Die scheinen gefährlich zu sein.«

»Sehr sogar.«

»Hast du jetzt genug?«

Das Thermometer stand beinahe auf 100 Grad. Sie goss 2 Kellen Wasser über die Steine, und eine kaum auszuhaltende, aber trotzdem angenehme Hitze sank von der Decke nieder.

Sie gingen und duschten. Dann rieben sie sich gegenseitig ab.

Als sie in die Wohnung zurückkamen, verbreitete sich dort ein viel versprechender Duft aus der Küche.

»Sieht so aus, als ob es fertig ist. Schaffst du es noch, den Tisch zu decken?«

Viel mehr schaffte er tatsächlich nicht.

Mit Ausnahme des Essens natürlich.

Was sie gekocht hatte, war sehr gut, und er aß so viel wie schon lange nicht mehr.

Dann saß er mit seinem Weinglas in der Hand eine Weile schweigend da.

Sie sah ihn an und stellte fest:

»Du scheinst völlig fertig zu sein. Geh und leg dich hin.«

Martin Beck war tatsächlich fertig. Dieser Tag mit ununterbrochenen Telefongesprächen und Konferenzen hatte ihn beinahe geschafft.

Aber aus irgendeinem Grund wollte er sich noch nicht gleich hinlegen. Er fühlte sich in dieser Küche mit den Knoblauchzöpfen und den Büscheln Wermut und Thymian sowie den Ebereschensträußen wohl. Nach einer Weile sagte er:

»Rhea?«

»Ja.«

»Findest du, dass es falsch war, diese Aufgabe zu übernehmen?«

Sie überlegte, bevor sie antwortete.

»Die Antwort verlangt eingehend analysiert zu werden.«

»Dann tu das«, forderte er sie gähnend auf.

»So wie ich das sehe, ist es ein zum Himmel schreiender Skandal, dass die Regierung diesen reaktionären Kerl überhaupt eingeladen hat. Die USA waren lange Zeit hindurch das Frieden bedrohendste Land in der Welt, nicht das einzige allerdings, wir haben ja Staaten wie Israel zum Beispiel. Aber das größte und gefährlichste. Hier in Schweden hat ein vorgeblich sozialistisches Regime mehrere Jahrzehnte lang eine Neutralität proklamiert, die durch und durch falsch ist. Die ganze Zeit hindurch, schon lange vor dem so genannten Kalten Krieg, ist unsere Außenpolitik von Leuten mit negativer Einstellung zum Sozialismus und positiver zum westlichen Kapitalismus geformt worden. Jener Dag Hammarskjöld, von dem alle eine Zeit lang so viel gesprochen haben, war zum Beispiel so ein Mann. Seine zentrale Aufgabe im Außenministerium war es, die Grundlagen für die politische Stellung des Landes auszuarbeiten. Er scheint davon ausgegangen zu sein, dass Schwedens natürlicher Feind das sozialistische Russland und unser logischer Bündnispartner demzufolge die USA sei. Da die sozialdemokratische Regierung im Grund eigene und kapitalistische Interessen verfolgt, es ihr jedoch gelungen ist, dem Volk vorzumachen, dass sie eine Art Sozialismus repräsentiert, hat sie während ihrer ganzen Zeit den wirklichen Sozialismus bekämpft. Sie hat den schwedischen Geheimdienst in den Dienst der Amerikaner gestellt. Sie arbeitete zum Beispiel gegen die Vietnambewegung bis zu dem Augenblick, da sie einsah, dass sie die Bevölkerung nicht länger hinters Licht führen konnte. In diesem Punkt. Wenn du zum Beispiel an die Catalina-Affäre zurückdenkst, verstehst du, was ich meine.«

Die Catalina-Affäre gehörte zu den geheimsten dunklen Geschäften des Regimes. Schwedische Flugzeuge hatten für Rechnung der Amerikaner über sowjetischem Seegebiet spioniert. Die Russen hatten zwei davon abgeschossen, und die Regierung hatte mit den niederträchtigsten Methoden eine antikommunistische Stimmung im Land geschaffen, die sehr nahe daran war, ihr eigentliches Ziel zu erreichen, nämlich den Eintritt Schwedens in den großen antisozialistischen Pakt, die NATO, zu provozieren.

Rhea Nielsen vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, dass Martin Beck immer noch wach war. Dann fuhr sie fort:

»Dieser Tage hast du mit mir über die Weserübung gesprochen. Ich bin kein Schachexperte und verstehe mich auch nicht auf verwickelte Flottenoperationen und Seeschlachten. Aber ich bin nicht so dumm, dass ich nicht einsehe, welch gute Arbeit der deutsche Marinestab geleistet hat. Wie hieß der Großadmiral noch mal?«

»Raeder.«

»Genau. Ich habe seine Memoiren gelesen, die du mir im letzten Jahr gegeben hast. Er scheint ein Mensch mit vielen Qualitäten gewesen zu sein, zum Beispiel persönlichem Mut. Aber …«

»Aber was?«

»Du vergisst in Zusammenhang mit der Weserübung eine Sache. Die Franzosen und Polen haben Narvik tatsächlich genommen und die Erzverladeanlagen zerstört, nachdem die Engländer die deutsche Flotte in Klump geschossen hatten.«

»Das Zerstörergeschwader. Denen fehlte der Treibstoff.«

»Ja, ja«, sagte sie irritiert. »Entscheidend ist, dass der deutsche General, Dietl hieß er doch, in einer militärisch hoffnungslosen Lage war. Er musste sich in die Berge zurückziehen und bat Hitler um die Genehmigung zur Kapitulation. Aber die schwedischen Eisenbahnen brachten ihm im Transitverkehr Verstärkungen und Material, und so konnte er sich halten. Das ist auch ein schönes Exempel schwedischer Neutralitätspolitik. Die schwedische Regierung wusste, dass Hitler niemals plante, Schweden anzugreifen, da er das Land als freundschaftlich gesinnt einstufte. Trotz alledem gab es in der Regierung, beim Militär und bei der Polizei übrigens auch Leute, die sehr aktiv daran arbeiteten, Schweden in den Krieg auf deutscher Seite miteinzubeziehen, mit dem Sozialistenschreck als Begründung. Dann, als die Russen die Nazis bei Stalingrad besiegten und es offenbar wurde, dass Hitler den Krieg verlieren würde, richteten sich Schwedens Sympathien sofort auf die USA. Und so ist es seitdem geblieben. Die schwedische Sozialdemokratie hat im Laufe der Jahrzehnte die Massen mit falscher Propaganda betrogen. Tatsächlich repräsentiert sie kapitalistische Interessen und steht einer Clique von Bossen vor, von denen erwartet wird, dass sie den größten Teil der Arbeiter kontrollieren. Das ist ein Verbrechen am Volk, tatsächlich gegen jeden Einzelnen, der hier lebt. Jetzt hat man auch die Polizei als Ganzes an diesem Verbrechen beteiligt. Ja, ich weiß, du und deine Riksmordkommission, ihr macht euch nicht der üblichen Brutalität der Polizei schuldig und nehmt nicht an den politischen Verfolgungsjagden teil. Aber ich verstehe deinen Freund, der aufgehört hat, nur zu gut.«

»Kollberg.«

»Er ist übrigens ein netter Mann. Ich mag seine Frau ebenfalls, ich finde es gut, dass er eine richtige Sache getan hat. Er sah ein, dass die Polizei sich als Organisation damit befasst, hauptsächlich zwei Kategorien zu terrorisieren, die Sozialisten und solche, die von der Klassengesellschaft ausgestoßen worden sind. Er handelte entsprechend seinem Gewissen und seiner Überzeugung.«

»Ich finde, dass er sich falsch verhalten hat. Wenn alle guten Polizisten ausscheiden würden, weil sie die Schuld anderer auf sich nehmen, blieben nur die Holzköpfe und der Abschaum übrig. Darüber haben wir übrigens schon früher gesprochen.«

»Du und ich haben über fast alles schon mal gesprochen. Hast du daran mal gedacht?«

Er nickte.

»Aber du hast eine konkrete Frage gestellt, und nun will ich antworten. Ich wollte nur vorher ein wenig die Begriffe erklären. Ja, Liebling, ich glaube, du hast einen Fehler gemacht. Was wäre geschehen, wenn du abgelehnt hättest?«

»Ich hätte einen direkten Befehl erhalten.«

»Und wenn du den verweigert hättest?«

Martin Beck zuckte die Achseln. Er war sehr müde, aber das Gespräch interessierte ihn.

»Vielleicht wäre ich vom Dienst suspendiert worden. Aber das ist, ehrlich gesagt, nicht sehr wahrscheinlich. Dagegen hätte eben ein anderer den Job übernommen.«

»Wer?«

»Vermutlich Stig Malm, der Bürochef. Mein so genannter Chef und nächster Vorgesetzter.«

»Und der hätte es schlechter als du gemacht? Ja, das hätte er sicher. Aber rein spontan und ohne es besonders begründen zu können, finde ich trotzdem, dass du hättest ablehnen sollen. Rein gefühlsmäßig. Gefühle kann man schwer analysieren. Wahrscheinlich empfinde ich so: Unsere Regierung, die behauptet, das Volk zu vertreten, lädt einen berüchtigten Reaktionär ein, der sogar hätte Präsident werden können. Wäre er das geworden, hätten wir jetzt wahrscheinlich einen 3. Weltkrieg. Trotz alledem soll er wie ein geehrter Gast empfangen werden. Unsere Ministerrunde mit dem Regierungschef an der Spitze soll sich mit ihm zusammensetzen und höflich über Depression und Ölpreise sprechen und ihm versichern, dass das alte gute neutrale Schweden immer noch das gleiche feste Bollwerk gegen den Kommunismus ist. Er wird zu einem scheißvornehmen Diner eingeladen und darf die so genannte Opposition treffen, die die gleichen kapitalistischen Interessen wie die Regierung vertritt, nur ein wenig offener formuliert. Dann soll er mit unserem eingeschneiten Marionettenkönig zu Mittag essen. Und die ganze Zeit hindurch soll er so verdammt sorgfältig beschützt werden, dass er vermutlich nicht einen einzigen Demonstranten sieht und nicht einmal andeutungsweise zu hören bekommt, dass es einen Widerstand gibt, sofern die Sicherheitspolizei oder die CIA ihm gegenüber nichts davon erwähnt. Als einziges wird er bemerken, dass Calle Hermansson, der Führer der Kommunisten, nicht zum Galaessen erscheint.«

»Da irrst du dich. Alle Demonstranten sollen auf Sichtweite an ihn herangelassen werden.«

»Wenn die Regierung nicht bange wird und dir in den Rücken fällt, ja. Was willst du denn machen, wenn der Regierungschef plötzlich anruft und befiehlt, dass alle Demonstranten ins Räsundastadion transportiert und dort festgehalten werden sollen?«

»Dann trete ich ganz sicher zurück.«

Sie sah ihn lange an. Sass da, das Kinn auf die heraufgezogenen Knie gestützt und die Hände um die Knöchel gefaltet. Ihr Haar war nach dem Saunabad und der Dusche zerzaust und ihre unregelmäßigen Züge nachdenklich.

Er dachte, wie schön sie doch ist.

Schließlich sagte sie:

»Du bist prima, Martin. Aber du hast einen fürchterlichen Beruf. Was sind das für Menschen, die du wegen Mordes oder anderer Verbrechen festnimmst? Wie kürzlich erst? Ein aus der Bahn geworfener Arbeiter, der versuchte, gegen ein kapitalistisches Schwein zurückzuschlagen, das sein Leben zerstört hatte? Was bekommt der für eine Strafe?«

»Zwölf Jahre, schätzungsweise.«

»Zwölf Jahre, ja, das war ihm die Sache vielleicht wert.«

Sie sah nicht sehr froh aus. Dann wechselte sie das Thema, abrupt, wie es ihre Art war.

»Die Kinder sind bei Sara, eine Treppe höher. Du kannst also schlafen, ohne dass sie auf deinem Bauch herumhüpfen. Dagegen werde ich vielleicht auf dich treten, wenn ich mich hinlege.«

Es geschah nicht selten, dass sie erst zu Bett -ging, wenn er bereits eingeschlafen war. Und nun begann sie wieder von etwas anderem:

»Ich hoffe, dir ist bewusst, dass dieser hoch geehrte Gast Tausende von Menschenleben auf dem Gewissen hat. Er war einer der Aktivsten hinter den strategischen Bombardements auf Nordvietnam. Und er war bereits beim Koreakrieg dabei und unterstützte McArthur, als der Atombomben auf China werfen lassen wollte.«

Martin Beck nickte. »Ich weiß.«

Dann gähnte er.

»Geh jetzt und leg dich hin«, forderte sie ihn mit Nachdruck auf. »Du bekommst Frühstück, wenn du aufwachst. Wann soll ich dich wecken?«

»Um sieben.«

»Okay.«

Martin Beck ging und legte sich hin und schlief beinahe sofort ein.

Rhea räumte noch eine Weile in der Küche auf. Dann ging sie ins Schlafzimmer und küsste ihn auf die Stirn. Er reagierte überhaupt nicht.

Es war warm in der Wohnung, deshalb zog sie den Pullover aus, kuschelte sich in ihren Lieblingssessel und las eine Weile. Sie hatte Schwierigkeiten mit dem Schlafen und war häufig bis in die frühen Morgenstunden hinein wach. Schlaflosigkeit ist ein irritierendes Übel, das oft zu labilem Temperament und unberechenbaren Launen führt. Früher hatte sie versucht, die Schwierigkeiten mit Rotwein zu beheben, aber jetzt machte sie aus der Not eine Tugend und las viele langweilige Kompendien und Ähnliches in den Nächten.

Rhea Nielsen war neugierig, meistens auf eine sehr offenherzige Weise. Als sie einen Aufsatz über Personenuntersuchungen, den sie selbst einige Jahre vorher geschrieben hatte, durchgelesen hatte, fiel ihr Blick auf Martin Becks Aktentasche.

Ohne lange zu überlegen, öffnete sie die und begann, die Unterlagen zu studieren, sorgfältig und interessiert. Zum Schluss schlug sie die Mappe auf, die Martin Beck, kurz bevor er ging, von Gunvald Larsson bekommen hatte.

Sie untersuchte den Inhalt lange, mit gespannter Aufmerksamkeit und nicht ohne eine gewisse Verwunderung.

Endlich legte sie alles wieder in die Tasche und ging zu Bett.

Sie trat auf Martin Beck, aber er schlief so fest, dass er nicht aufwachte.

Dann schmiegte sie sich eng an ihn mit dem Gesicht gegen seines.