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Reinhard Heydt stand vor dem Badezimmerspiegel. Er hatte sich gerade rasiert. Jetzt kämmte er die Roteletten. Einen Moment hatte er überlegt, ob er sie vielleicht wegrasieren sollte, hatte sich aber den Gedanken gleich wieder aus dem Ropf geschlagen. Die Idee war früher schon einmal diskutiert worden, in anderem Zusammenhang. Seine Vorgesetzten hatten das vorgeschlagen, ihm beinahe den Befehl erteilt. Er studierte sein Gesicht im Spiegel. Die Sonnenbräune verblich von Tag zu Tag ein wenig mehr. Aber an seinem Aussehen war nichts auszusetzen. Er selbst war stets damit zufrieden gewesen, und niemand anders hatte jemals etwas dagegen einzuwenden gehabt. Das hätte gerade noch gefehlt.
Aus dem Badezimmer ging er in die Küche, wo er vorhin gegessen hatte, dann weiter ins Schlafzimmer und in den großen Raum, der ihm und Levallois vor beinahe einem Monat als Operationszentrale gedient hatte. Jetzt war es darin ziemlich leer.
Da er nicht ausging, wusste er nicht, was in den Zeitungen stand. Aber er bekam recht ausführliche Informationen durch das Radio und aus dem Fernsehen. Trotzdem gab es dunkle Punkte.
Wie um Gottes willen war es diesem Martin Beck gelungen, Raiten zu überwältigen?
Dass jemand Ramikaze überrumpeln und festnehmen konnte, war erklärlich. Ramikaze war zwar ebenso wie die anderen für kritische Situationen trainiert worden und hatte alle Prüfungen bestanden, aber Heydt selbst hatte ihn stets als eines der schwächeren Mitglieder der Gruppe angesehen.
Raiten jedoch?
Raiten hatte Hunderte von Menschen auf die unterschiedlichste Weise getötet. Selbst unbewaffnet war er sehr viel gefährlicher als die Mehrzahl aller Polizisten oder Soldaten mit Schusswaffen. Denn Raiten tötete mit den Händen ebenso leicht, wie normale Menschen ein Ei aufschlagen. Ein Stoß von ihm reichte oftmals aus, um ein Lebenslicht verlöschen zu lassen.
Das Fernsehen und das Radio hatten mit großer Aufmerksamkeit die Festnahme und den Termin vor dem Untersuchungsrichter verfolgt. Man war immer wieder auf diesen Fall zurückgekommen und tat das auch jetzt noch.
Es schien nun klar, dass dieser Olsson allerhöchstens der Planer und Administrator war. Der, der wirklich gefährlich war, musste also der häufig erwähnte Polizeibeamte Martin Beck sein. Offenbar war er es auch, der Heydt bei dem Attentat im Vormonat hereingelegt hatte. Solche Polizeibeamten waren selten. Dass es sie in einem Land wie Schweden überhaupt gab, schien unbegreiflich.
Heydt durchmaß mit langen Schritten Zimmer für Zimmer der nicht allzu geräumigen Wohnung. Er war barfuß und trug lediglich ein weißes Unterhemd und kurze weiße Unterhosen. Viel hatte er an Kleidung nicht mit, und da er es sehr genau mit der Reinlichkeit nahm, wusch er seine Unterwäsche jeden Abend im Badezimmer aus.
Reinhard Heydt hatte zwei Probleme, die sofort gelöst werden mussten, aber er hatte sich immer noch nicht entschlossen. Schon vor längerer Zeit hatte er festgelegt, dass dieser Tag, Donnerstag, der 19. Dezember, seine letzte Chance war, sich zu entscheiden.
Die eine Frage betraf den Fluchtweg aus dem Land. Er wusste genau, wann er sich auf den Weg machen wollte. Dagegen zögerte er immer noch bei der Frage nach dem Reiseweg. Aber heute wollte er sich entscheiden. Wahrscheinlich würde es über Oslo und Ropenhagen gehen, wie er es sich von Anfang an vorgestellt hatte, aber die anderen Möglichkeiten waren immer noch offen.
Die zweite Frage war noch heikler; sie hatte sich überhaupt erst gestellt, nachdem Raiten und Ramikaze festgenommen worden waren.
Sollte er Beck liquidieren?
Was würde das für Vorteile bringen?
Reinhard Heydt war Realist, und Worte wie Rache oder Vergeltung waren ihm völlig fremd. All sein Handeln wurde von praktischen Überlegungen diktiert. Gefühle wie Erniedrigung, Erregung oder Angst kannte er nicht.
Im Trainingslager hatte er gelernt, eigene Beschlüsse zu fassen, sie genau abzuwägen und ohne Zögern in die Tat umzusetzen.
Er hatte auch gelernt, dass mindestens die Hälfte der Arbeit aus sorgfältiger Planung bestand.
Immer noch ohne einen Beschluss gefasst zu haben, holte er den ersten Teil des Telefonbuches aus dem Regal im Flur. Setzte sich aufs Bett und blätterte, bis er die richtige Seite gefunden hatte. So leicht war das. Er las:
Beck, Martin, Krim. Kommissar, Köpmangatan 8,22 80 43.
Dann holte er die Rolle mit den Blaupausen des Stadtplanes aus dem Fach im Schrank.
Er hatte ein gutes Gedächtnis und wusste ungefähr, wo Röpmangatan lag, ganz in der Nähe des königlichen Schlosses, und er erinnerte sich auch daran, dass er ebendiese Straße vor anderthalb Monaten entlanggegangen war. Der Stadtplan hatte einen sehr kleinen Maßstab, und er fand sofort das richtige Haus. Es lag an einer Art Durchgang, nicht direkt an der Straße, und die Bauten, die das Haus umgaben, sahen viel versprechend aus.
Er breitete die betreffende Blaupause auf dem Fußboden aus. Dann beugte er sich hinunter und nahm das Gewehr, das unter dem Bett lag, heraus. Ebenso wie alles andere Material der ULAG, war die Waffe erstklassig. Sie war in England hergestellt und hatte ein Nachtzielfernrohr, das einem guten Schützen die Möglichkeit gab, unter praktisch allen Lichtverhältnissen zum Schuss zu kommen.
Heydt holte den Diplomatenkoffer aus dem Schrank, zerlegte die Waffe und packte sie ein. Dann setzte er sich aufs Bett und dachte nach.
Wenn er Martin Beck ausschaltete, waren gleichzeitig zwei Dinge damit erreicht. Zum einen würde er der Polizei einen ihrer besten und gefährlichsten Männer nehmen und zum anderen ihre Aufmerksamkeit auf Stockholm richten.
Allerdings gab es auch einige Nachteile: Erstens konnte man mit einem riesigen umfassenden Polizeiaufgebot rechnen und zweitens mit noch gründlicheren Kontrollen und Sperren an allen Grenzübergängen. Beides setzte aber voraus, dass die Liquidierung Becks beinahe sofort entdeckt wurde.
Wenn Kriminalkommissar Martin Beck überhaupt umgebracht werden sollte, so musste das in seiner Wohnung geschehen. In einem frühzeitigen Stadium seiner Planung hatte Heydt sich darüber informiert, dass Beck von seiner Frau geschieden war und allein lebte.
Es war eine schwere Entscheidung.
Heydt blickte auf seine Armbanduhr. Noch hatte er einige Stunden Zeit, ehe der endgültige Entschluss in den beiden Fragen gefasst werden musste.
Dann fragte er sich, ob die Polizei wirklich so nachlässig war, dass sie das Auto immer noch nicht gefunden hatte. Unmittelbar nachdem Levallois mit der schlimmen Nachricht von dem Bild und der Personenbeschreibung gekommen war, hatte Heydt ihn angewiesen, den grünen Opel nach Göteborg zu fahren und am Liegeplatz der London-Schiffe im Skandiahafen abzustellen. Dann hatte der Franzose auftragsgemäß und völlig legal einen beigefarbenen VW, zugelassen und fahrbereit, gekauft. Dieses wenig Aufsehen erregende Fahrzeug stand seit einiger Zeit in der Nähe der Huvudsta-Allee geparkt.
Er dachte einige Sekunden darüber nach und kam zu dem Schluss, dass es sich dabei nicht um eine Falle handeln konnte. Dann begann er wieder seine einsame Wanderung durch die Räume, mit langen Schritten, gleitend und so gut wie völlig lautlos.
Eigentlich war es merkwürdig, dass ein so großer Mann sich so leise bewegen konnte. Auf der Badezimmerwaage hatte er kürzlich festgestellt, dass ihm nur noch wenige 100 Gramm bis zur 100-Rilo-Marke fehlten.
Aber Raiten hatte 120 gewogen und nicht eine Unze überflüssiges Fett am Rörper gehabt.
Am Morgen des gleichen Tages hatte Martin Beck Benny Skacke auf den Weg nach Malmö geschickt. Skacke wollte mit dem Wagen fahren, um Rilometergeld zu verdienen, aber Martin Beck fühlte sich auf langen Autofahrten nicht wohl und hatte sich entschlossen, den letzten Nachtzug zu nehmen. Das war ein klein wenig egoistisch von ihm, denn wenn auch das Weihnachtsfest flöten ging, so hatte er auf diese Weise wenigstens einen halben Abend mit Rhea. Wenn sie zu ihm kam. Das wusste er nie genau.
Rönn und Melander waren mit der Bahn nach Heisingborg gefahren, mit so düsteren Mienen, wie er es nie zuvor bei ihnen beobachtet hatte.
Gunvald Larsson, der gern mit dem Wagen fuhr, hatte sich sehr zeitig mit seinem komischen ostdeutschen Luxuswagen vom Typ Eisenacher Motorenwerke auf den Weg zur norwegischen Grenze gemacht. Die Marke war tatsächlich EMW, aber beinahe alle Leute glaubten, es handele sich um einen Schreibfehler und müsse BMW heißen.
Wenn Rönn und Melander stinksauer gewesen waren, so schienen im Gegensatz zu ihnen Gunvald Larsson sehr erwartungsvoll und Skacke direkt fröhlich losgefahren zu sein. Benny Skacke war stets auf der Jagd nach Erfolgen, und hier schien etwas Derartiges in Reichweite zu sein.
Martin Beck konnte Rhea nicht erreichen, hinterließ aber eine kurze Nachricht in der Telefonzentrale der Sozialverwaltung. Dann wollte er nach Hause gehen, aber bevor er noch seinen Mantel angezogen hatte, klingelte das Telefon. Unschlüssig zwischen Pflichtgefühl und mehr menschlichen Regungen ging er zum Schreibtisch zurück und hob den Hörer ab.
»Beck.«
»Hammargren«, meldete sich jemand im Dialekt der Göteborger.
Der Name sagte Martin Beck überhaupt nichts, aber höchstwahrscheinlich war der Mann von der Polizei. »Ja, was gibt’s?«
»Wir haben den Wagen gefunden, nach dem ihr sucht. Einen grünen Opel Rekord mit falschem Rennzeichen.«
»Wo denn?«
»Im Skandiahafen hier in Göteborg. Wo die Saga anlegt, Lloyds Schiff nach London. Der hat da sicher einige Wochen gestanden, bis jemand reagiert hat.«
»Und?«
»Tja, es gibt keine Fingerabdrücke. Wahrscheinlich abgewischt. Alle Papiere im Handschuhfach.«
Martin Beck kam sich ziemlich trübselig vor, aber seine Stimme klang wie gewöhnlich, als er fragte:
»Ist das alles?«
»Nicht ganz. Wir haben die Besatzung der Saga befragt, angefangen bei Einar Norrman, dem Rapitän, und sind dann weiter zu den Dienstgraden gegangen. Danach haben wir uns den Intendenten, Harkild, vorgenommen und sind das ganze Bedienungspersonal, besonders die Stewards und Reilner und Kabinenkellner, durchgegangen. Aber keiner konnte sich an diesen Typ, diesen Heydt, erinnern.«
»Intendent? Heißt das nicht mehr Purser?«
»Na ja, dies ist ja nun nicht die Suecia oder die Britannia. Heutzutage heißt der Purser Intendent, und den Steward im Speisesaal nennt man Ober. Bald sagt man wohl Wand statt Schott und links statt Backbord. Dann …«
»Ja?«
»Ich wollte sagen, bald kann man ja auf die Schiffsreise pfeifen und lieber fliegen. Einar Norrman sagte übrigens, dass er im letzten halben Jahr nicht mal mehr die Mütze aufgehabt hätte. Bald werden die Schiffsführer wohl aus Mangel an frischer Luft abkratzen.«
Martin Beck teilte die Meinung des Göteborger Kollegen, aber jetzt galt es, das Gespräch wieder auf den Kernpunkt zurückzuführen.
»Und was ist mit Heydt?«
»Nichts. Ich glaube nicht, dass er an Bord war. So wie der aussieht, müsste sich jemand an ihn erinnert haben. Aber das Auto stand da draußen auf Hisingen.«
»Und die technische Untersuchung?«
»Auch da nichts. Absolut nichts.«
»Okay, vielen Dank, dass du angerufen hast. Hej.«
Martin Beck massierte energisch seinen Haaransatz. Hier gab es mehrere Möglichkeiten. Das Auto konnte eine falsche Spur sein. Aber eher noch deutete es darauf hin, dass Heydt das Land mit einem kleineren und nicht so ins Auge fallenden Schiff, wie es die Saga war, verlassen hatte. Göteborg hat einen großen Hafen; täglich verlassen ihn viele Schiffe. Ein Teil davon nimmt Passagiere mit und hat die Genehmigung dafür. Mindestens ebenso viele, besonders unter den kleineren Booten, befördern Reisende, die unerkannt bleiben wollen und die Mittel haben, um dafür zu bezahlen.
Was bedeutete diese Information?
Es war gut möglich, dass Heydt das Land bereits vor mehreren Wochen verlassen hatte und längst außer Reichweite war.
Er blickte auf die Uhr. Es war noch zu früh, er konnte die ausgeschickten Mitarbeiter nicht erreichen. Vielleicht war es auch falsch, sie zurückzurufen. Das grüne Auto konnte eine absichtlich gelegte falsche Spur sein. Es war bedauerlich, dass der Mann in Göteborg nicht wusste, ob der Wagen sich schon vor dem Attentat dort befunden hatte. Dann hätte er gewusst, wie er entscheiden sollte.
Jetzt war alles zusammen nur ein großes Fragezeichen.
Martin Beck knallte die Tür des von ihm vorübergehend benutzten Büros zu und ging nach Hause. Trotz allem war es das Beste, sich an das Schema zu halten.
Der Zug sollte erst kurz vor Mitternacht vom Stockholmer Hauptbahnhof abgehen. Er hatte immer noch Zeit genug.
Der Dachfirst war von einer Eisschicht überzogen, obwohl es nicht besonders kalt war.
Reinhard Heydt lag ohne sich zu rühren auf dem Teerpappendach, und seine Rörperwärme reichte aus, um das Eis unter seinem Rörper und rund um ihn herum schnell wegschmelzen zu lassen.
Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover, eine schwarze Wollmütze, die er weit über die Ohren und in die Stirn gezogen hatte, schwarze Manchesterhosen, schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe mit Rohgummisohlen, die er selbst mit schwarzer Schuhcreme überzogen hatte. Außerdem hatte er dünne schwarze Handschuhe an.
Das Gewehr hatte einen schwarzen Lauf und einen dunkelbraunen Schaft; das einzige also, das ihn möglicherweise verraten konnte, war ein Reflex im Zielfernrohr, doch die Linse war getönt und extra gegen Lichtreflexe präpariert.
Sinn dieser Maßnahmen war selbstverständlich, dass er nicht gesehen werden wollte, und obwohl er sich selbst dessen nicht ganz sicher war, so würde eine Person mit normalem Sehvermögen ihn tatsächlich nicht einmal auf zwei Meter Entfernung entdeckt haben, vorausgesetzt, dass eine solche Person entgegen jeder Vermutung sich plötzlich auf dem Dach zeigen würde.
Er war ohne Schwierigkeiten hierher gekommen, durch eine Dachluke. Sein VW stand auf Slottsbacken geparkt, auf dem Weg von dort hierher hatte er einen hellen Regenmantel angehabt. Der lag nun zusammen mit dem Diplomatenkoffer in einer Ecke des unordentlichen und schmutzigen Dachbodens unter ihm.
Er hatte einen ausgezeichneten Platz gewählt, von dem aus er alle Fenster von Martin Becks Wohnung überblicken konnte, da sie sämtlich nach Osten hinaus gingen.
Noch war es allerdings still und dunkel in der Wohnung.
Das Gewehr war für gezielte Schüsse in der Dunkelheit konstruiert, und sogar jetzt konnte er, obwohl alle Lampen gelöscht waren, Einzelheiten in den Zimmern erkennen. Hinter ihm bildete der ohrenbetäubende Lärm des Verkehrs auf Skeppsbron eine perfekte Geräuschkulisse. Das englische Gewehr war vergleichsweise leise, und ein einziger Schuss würde unfehlbar in dem Missklang von Motoren, Vollbremsungen und knallenden Fehlzündungen untergehen.
Der Abstand zu den vier Fenstern betrug nicht mehr als 50 oder 60 Meter, und selbst wenn die Entfernung zehnmal so weit gewesen wäre, hätte er einen gezielten Schuss abgeben können.
Heydt lag nicht völlig regungslos. Er bewegte ein wenig die Finger und die Beine, damit sie nicht steif wurden. All das hatte er vor langer Zeit gelernt, beinahe still zu liegen, dabei aber mit den Muskeln ein wenig Gymnastik zu treiben, sodass sie ihn nicht im entscheidenden Augenblick im Stich ließen.
Hin und wieder kontrollierte er das Zielfernrohr, das wirklich ein technisches Wunderwerk war.
Er hatte etwa 50 Minuten auf dem Dach gewartet, als plötzlich das Licht im Fahrstuhlschacht anging und kurz danach in den hinteren vier Fenstern.
Reinhard Heydt presste den Rolben an die Schulter und führte den Zeigefinger an den Abzugsbügel.
Ließ ihn den Abzug streicheln. Er kannte seine Waffe und wusste genau, wo der Druckpunkt lag.
Sein Plan war einfach. Er lief darauf hinaus, sofort zu handeln, diesen Martin Beck zu erschießen, sobald er sich zeigte, und dann schnell, aber ohne Hast von seinem Platz zu verschwinden.
Eine Gestalt ging am ersten Fenster vorbei, danach am zweiten und blieb vor dem dritten stehen.
Wie alle guten Scharfschützen entspannte sich Heydt, fühlte, wie sein Körper sich mit einer behaglichen, beruhigenden Wärme füllte und das Gewehr irgendwie ein Teil seiner Selbst wurde.
Der rechte Zeigefinger ruhte ohne zu zittern am Abzug. Seine physische und psychische Selbstbeherrschung war vollkommen.
Da stand ein Mensch mit dem Rücken zum dritten Fenster. Aber es war die falsche Person. Dies war eine Frau.
Sie war klein und hatte breite Schultern.
Blondes glattes Haar und einen kurzen Hals.
Sie trug einen gestrickten Pullover in fröhlichen Farben, einen knielangen Tweedrock und wahrscheinlich Strumpfhosen.
Plötzlich drehte sie sich um und blickte hinaus zum Himmel hinauf.
Reinhard Heydt hatte sie wiedererkannt, schon bevor er den glatten, blonden Pony und die forschenden hellblauen Augen sah.
Seit er sie das vorige Mal gesehen hatte, waren mehr als anderthalb Monate vergangen.
Damals hatte sie einen schwarzen Dufflecoat, ausgeblichene Blue Jeans und rote Gummistiefel angehabt.
Er konnte sich auch ganz genau daran erinnern, wo er sie gesehen hatte. Zuerst hier draußen in Röpmangatan, dann in einer Gasse, deren Namen er vergessen hatte, und gleich danach auf Slottsbacken.
Er hatte keine Ahnung, wer sie war, aber er erkannte sie sofort wieder, und wenn er einen Sinn dafür gehabt hätte, würde er sich gewundert haben, sie hier zu sehen. Stattdessen betrachtete er ihr Haar durch das Zielfernrohr und überlegte, dass sie die Haare doch wohl nicht gefärbt hatte, wie er es das erste Mal geglaubt hatte.
Ein Mann trat in das Blickfeld. Es war ein ziemlich großer Kerl mit breiter Stirn, gerader Nase, dünnem, breitem Mund und kräftiger Kinnpartie.
Heydt erkannte ihn sofort, er hatte ihn im Fernsehen gesehen. Dies war sein Feind Martin Beck, der Mann, der offenbar zuerst das Attentat in ein klägliches Fiasko verwandelt, dann Raiten, den physisch gefährlichsten aller ULAG-Agenten, außer Gefecht gesetzt hatte, und der nun aus dem Weg geräumt werden musste, um Heydts eigenen Rückzug aus dem Lande zu erleichtern.
Der Mann nahm die Frau in seine Arme, drehte sich herum und zog sie zu sich heran.
Er sah nicht besonders gefährlich aus, stellte Heydt fest und hob den Lauf des Gewehrs ein wenig, sodass das Fadenkreuz des Nachtzielfernrohres genau zwischen den Augen des Polizeibeamten lag.
Es wäre nicht schwierig gewesen, ihn in diesem Augenblick zu töten, aber dann musste er auch die Frau umbringen, und das musste sehr schnell gehen. Alles kam darauf an, wie schnell sie reagieren würde. Er hatte nicht viel von ihr gesehen, aber irgendetwas sagte ihm, dass sie reaktionsschnell war. Und wenn sie schnell genug war, würde es ihr gelingen, in Deckung zu gehen und Alarm zu schlagen, und von diesem Moment an würde seine Lage da oben auf dem Dach nicht sehr beneidenswert sein. Wenn genügend Polizisten in der Nähe waren, würde er durch die Dunkelheit und seine isolierte Position nicht mehr geschützt sein. Im Gegenteil, er würde sich in einer Todesfalle befinden, ohne Fluchtmöglichkeiten oder Rückzugswege.
Reinhard Heydt analysierte die Situation klar und schnell. Dann entschied er, dass er immer noch genügend Zeit hatte, und dass er abwarten und beobachten konnte, was weiter geschah.
Rhea Nielsen stellte sich auf die Zehenspitzen und biss Martin Beck spielerisch in die Wange.
»Ich habe zur Zeit feste Arbeitszeiten«, sagte sie. »Und Vorgesetzte. Es sieht vielleicht ein bisschen sonderbar aus, wenn ich eine dreiviertel Stunde vor Büroschluss von einem Polizisten abgeholt werde.«
»Die besonderen Umstände rechtfertigen das. Und außerdem hatte ich keine Lust, allein nach Hause zu gehen.«
»Was für Umstände?«
»Ich muss heute Abend verreisen.«
»Wohin?«
»Nach Malmö. Eigentlich hätte ich schon unterwegs sein müssen.«
»Und warum bist du das nicht?«
»Ich dachte, ich müsste erst noch eine Sache erledigen.«
»Was erledigen? Wo denn? Im Bett?«
»Zum Beispiel.«
Sie zogen sich vom Fenster zurück. Sie fingerte an einem seiner Schiffsmodelle, blinzelte ihn ahnungsvoll an und fragte: »Wie lange bleibst du weg?«
»Weiß ich nicht genau. Es kann vier bis fünf Tage dauern.«
»Über Heiligabend also? Verdammt, ich habe es noch nicht mal geschafft, ein Weihnachtsgeschenk für dich zu kaufen.«
»Ich für dich auch nicht. Aber wahrscheinlich bin ich Heiligabend wieder zu Hause.«
»Wahrscheinlich? Sehe ich übrigens nicht gut aus heute?
Rock, Bluse, Netzstrumpfhosen, richtige Schuhe, angeberischer BH und ebensolch ein Schlüpfer.« Martin Beck lachte.
»Was grinst du? Über meine Weiblichkeit?«
»Dabei kommt es wohl kaum auf die Rleidung an.«
»Du bist lieb«, sagte sie plötzlich. »Findest du?«
»Ja, tatsächlich. Wenn ich jetzt deine Gedanken richtig lese, dann müssen wir sofort zum Bett stürzen und uns ausziehen.«
»Du liest meine Gedanken immer richtig.«
Sie schüttelte die Schuhe ab, die jeder in eine andere Richtung flogen. Dann bemerkte sie nüchtern:
»In solchen Fällen ist es am sichersten, wenn man vorher den Rühlschrank und den Vorratsschrank kontrolliert. Damit es nicht hinterher einen Hungeraufstand gibt.«
Sie ging in die Rüche und blieb dort eine Weile. Martin Beck ging ans Fenster und blickte hinaus. Es war wirklich sternklar, ein meteorologisches Wunderwerk um diese Jahreszeit.
»Wo kommt der Hummer her?«, rief sie.
»Aus Hötorgshallen.«
»Mit dem kann man viele schöne Sachen machen. Wie lange haben wir Zeit?«
»Das hängt davon ab, wie lange du in der Rüche herummurkst. Im Übrigen haben wir Zeit genug. Mehrere Stunden.«
»Die Sache ist klar. Ich komme. Hast du Wein?«
»Ja.«
»Gut.«
Rhea Nielsen zog sich auf dem Weg von der Rüche ins Schlafzimmer aus. Sie begann damit, den Pullover auf den Fußboden der Rüche zu werfen.
»Der kratzt«, erklärte sie.
Als sie am Bett ankam, hatte sie nur noch den angeberischen BH an.
»Willst du mir den ausziehen?«, forderte sie ihn mit parodistischer Koketterie auf.
»Das ist eine seltene Gelegenheit, denn sonst benutze ich nie einen BH. Nur heute mal.«
Sie zogen die Springrollos nicht herunter, denn normalerweise gab es keine Möglichkeiten, in die Fenster zu sehen.
Von seinem Platz auf dem Dach aus konnte Reinhard Heydt das Bett nicht sehen, aber er beobachtete, wie das Licht im Schlafzimmer gedämpft wurde, und war durchaus fähig, sich auszurechnen, was da drinnen vor sich ging.
Nach einer Weile wurde das Licht wieder angemacht, die Frau kam ans Fenster. Sie war nackt.
Durch das Zielfernrohr blickte er leidenschaftslos auf ihre linke Brust. Das Fadenkreuz lag auf ihrer großen, hellbraunen Brustwarze. Die Vergrößerung durch das Nachtglas war so stark, dass die Brustwarze das ganze Blickfeld ausfüllte. Er sah sogar, dass ihr ein etwa 20 Millimeter langes, blondes Haar direkt über der Brustwarze herauswuchs.
Er dachte, das sollte sie wegnehmen. Dann senkte er die Mündung des Gewehrs ein klein wenig. Das Fadenkreuz lag auf einem Punkt direkt unter ihrer linken Brust. Dem Herzen.
Reinhard Heydt zog den Abzug einen halben Millimeter zu sich heran und fühlte, wie er genau am Druckpunkt ruhte.
Wenn er den Abzug noch einen weiteren Viertelmillimeter durchzog, würde der Schuss losgehen, und das Geschoss traf sie genau ins Herz.
Mit der superschnellen Munition, die er benutzte, würde sie nach hinten quer durch das Zimmer geschleudert und tot sein, noch bevor ihr Rücken gegen die gegenüberliegende Wand krachte. Unabhängig davon, in welchem Teil der Herzgegend der Einschuss lag.
Rhea Nielsen stand immer noch am Fenster.
»Was für ein Sternenhimmel! Warum musst du nach Malmö? Ist es immer noch dieser hoffnungslose Rerl mit den Roteletten? Heydt?«
»Genau der.«
»Weißt du, was ich glaube, was er in diesem Augenblick tut? Sitzt auf Bali und angelt Goldfische mit einem Hula-Hula-Mädchen auf den Rnien. Romm, wir machen den Hummer zurecht.«
50 Meter davon entfernt überlegte Reinhard Heydt, dass das Ganze uninteressant und sinnlos war. Er ließ sich durch die Dachluke zurückgleiten, nahm das Gewehr auseinander und stopfte es in den Diplomatenkoffer. Dann zog er sich seinen hellen Mantel an und ging.
Während er ohne Hast durch Bollhusgränd schlenderte, entschloss er sich, wie und wann er das Land verlassen wollte.