5. KAPITEL
Als Isobel aus dem Bad kam, glaubte sie zunächst, das Opfer einer optischen Täuschung zu sein. Stand Leandros wirklich vor dem Bett und packte ihren Koffer? “Warum bist du noch hier?”, fragte sie schroff und vergewisserte sich, dass der Gürtel ihres Morgenmantels verschlossen war. Leandros war zwar angezogen, aber das bedeutete nicht …
“Weil ich ohne dich nicht gehe”, erwiderte er bestimmt und richtete sich auf.
“Habe ich mich denn nicht deutlich genug …?”
“Doch”, fiel er ihr ins Wort. Erst als er sich zu ihr umdrehte, stellte sie fest, dass er ihr Kleid in den Händen hielt. Es war das Einzige, das sie aus London mitgebracht hatte – und das Einzige, das sie all die Jahre aufgehoben hatte.
“Ich habe es auf Anhieb wiedererkannt”, teilte er ihr mit, während er langsam auf sie zukam. “Es freut mich, dass du es in Ehren gehalten hast – sicher weil du so die Erinnerung an mich direkt auf der Haut tragen konntest.”
Zu ihrer Beschämung entsprach es der Wahrheit. Das wollte sie Leandros jedoch lieber nicht gestehen. “Es passt mir und ist einigermaßen bequem”, erwiderte sie deshalb. “Aber wenn du es wiederhaben willst, musst du es nur …”
“Allerdings will ich das”, unterbrach er sie erneut. “Und zwar zusammen mit der Frau, der ich es damals geschenkt habe.”
“Leider muss ich dich enttäuschen.” Unwillkürlich wich Isobel einen Schritt zurück. “Das Kleid kannst du gern mitnehmen, aber auf meine Gesellschaft wirst du verzichten müssen.”
“Deine Augen verraten mir etwas anderes”, sagte Leandros leise und stellte sich so dicht vor sie, dass sie seinen Atem im Gesicht spürte. “Du sehnst dich danach, dass ich dir den Morgenmantel ausziehe und wir dort weitermachen, wo wir eben aufgehört haben.”
“Wenn du glaubst, mich einschüchtern …”
“Niemand will dich einschüchtern”, widersprach er. “Im Gegenteil. Ich versuche, besonders rücksichtsvoll zu sein. Schließlich weiß ich, wie viel dir daran liegt, deinen Dickkopf durchzusetzen. Andererseits habe ich nicht vergessen, dass du dir mit deiner Sturheit oft selbst im Weg stehst. Deshalb bin ich sogar bereit, dich notfalls mit sanfter Gewalt nach Hause zu bringen.”
Sie musste sich eingestehen, dass er Recht hatte. Trotzdem durfte er nicht so mit ihr reden. “In deine Villa verschleppen, wolltest du sagen”, erwiderte sie deshalb sarkastisch. “Mein Zuhause ist es jedenfalls nicht.”
“Dann wird es das ab sofort”, erwiderte er wütend. “Wenn wir erst in unserem Ehebett liegen, wirst du es schon einsehen”, fügte er schonungslos hinzu, ehe er ihr achtlos das Kleid aushändigte und zurück zum Bett ging.
Ihr Frust wich einer unbändigen Wut. “Wenn Diantha auch da ist, können wir es uns ja zu dritt nett machen”, sagte sie scharf. “Oder soll ich Clive anrufen, damit die Orgie stattfinden kann, von der du vorhin …?”
Als Leandros sich umdrehte und sie zornig ansah, verstummte sie.
“Wehe, du nimmst diese beiden Namen noch einmal in den Mund”, drohte er ihr unverhohlen. “Noch sind wir miteinander verheiratet, Isobel, und kein Grieche lässt sich von seiner Frau auf der Nase herumtanzen. Also zieh dich jetzt bitte an. Ich möchte diesen ungastlichen Ort so schnell wie möglich verlassen – und zwar gemeinsam mit dir.”
“Kannst du mir einen guten Grund nennen, warum ich dich begleiten sollte?”, fragte Isobel trotzig.
“Einen sehr guten sogar”, lautete seine entwaffnende Antwort. “Du kannst von mir genauso wenig lassen wie ich von dir. Und wenn du dir das endlich eingestehst, können wir vielleicht aufhören, uns gegenseitig zu zerfleischen. Eine letzte Chance sollten wir unserer Ehe jedenfalls geben. Oder denkst du anders darüber?”
Natürlich nicht, hätte sie am liebsten erwidert. Das auszusprechen erschien ihr allerdings zu kühn. “Also schön”, erwiderte sie deshalb ausweichend und tröstete sich mit der Gewissheit, dass es zunächst nur für eine Nacht wäre.
Zum Anziehen ging sie vorsichtshalber ins Bad. Als sie zurückkam, erwartete Leandros sie bereits ungeduldig an der geöffneten Zimmertür. “Ich muss noch zu Ende packen”, erinnerte sie ihn.
“Wir lassen das Gepäck nachkommen”, erklärte er. “Wie ich diesen Laden kenne, fällt jeden Moment wieder der Strom …”
Ehe er den Satz beenden konnte, bewahrheitete sich seine Befürchtung. Das Licht erlosch, und der Kühlschrank hörte auf zu summen.
“Das hat mir gerade noch gefehlt”, schimpfte Leandros, als er sie über den dunklen Korridor führte.
Im Treppenhaus war es so düster, dass Isobel erleichtert die Hand nahm, die er ihr reichte. Trotzdem stolperte sie mehrmals, bis sie schließlich eine Stufe verfehlte und das Gleichgewicht verlor. Sicher wäre sie gestürzt, wenn er sie nicht im letzten Moment aufgefangen hätte. So dankbar sie ihm dafür war, so wenig war sie damit einverstanden, dass er nicht gewillt schien, sie wieder loszulassen. Stattdessen drängte er sie gegen die Wand und schnitt ihr jede Fluchtmöglichkeit ab.
“Weißt du eigentlich, wie leid ich es bin, mit dir zu kämpfen?”, sagte er mit einer Ernsthaftigkeit, die ihr neu war. “Ich will alles mit dir teilen, Isobel – mein Leben, mein Haus und mein Bett”, gestand er. “Ich will, dass es zwischen uns wieder so wird wie damals, als wir uns kennen gelernt haben. Ich will jeden Tag aufs Neue erleben, wie unendlich glücklich du darüber bist, meine Frau zu sein. Und wenn du dir dasselbe wünschst, musst du es mir jetzt sagen.”
Sein fast flehender Blick ließ keinen Zweifel daran, dass jedes seiner Worte tief empfunden war. Etwas anderes als die Wahrheit zu sagen, kam Isobel deshalb gar nicht in den Sinn. Glücklicherweise entsprach diese dem, was Leandros hören wollte.
“Ja”, erwiderte sie leise. “Ich wünsche es mir.”
Als es endlich heraus war, fiel ihr eine zentnerschwere Last von den Schultern. Trotzdem hatte die Situation einen bitteren Beigeschmack. Denn solange die entscheidenden drei Worte nicht gesprochen waren, blieben selbst solche Schwüre bloße Lippenbekenntnisse.
Leandros schien ihre Gedanken erraten zu haben, und einen Moment glaubte Isobel, dass er sich überwinden und ihr seine Liebe gestehen würde.
Was er schließlich auch tat – jedoch anders als erwartet. Unvermittelt beugte er sich herunter und presste die Lippen auf ihre, um ihr in dem düsteren und zugigen Treppenhaus einen Kuss zu geben, in dem sich außer seinem körperlichem Verlangen auch ehrliche Gefühle ausdrückten.
Etwas Vergleichbares hatte sie nie zuvor erlebt, und die Aufrichtigkeit, mit der Leandros ihr zu verstehen gab, was er für sie empfand, prägte sich Isobel für alle Zeiten ein. Und da sie den Kuss genauso innig erwiderte, war sie sich sicher, dass er ihre stumme Botschaft ebenfalls erhört hatte.
Erst als Schritte zu hören waren, lösten sie sich schweren Herzens voneinander und setzten ihren Weg schweigend fort. In ihrem tiefsten Innern wusste Isobel jedoch, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Natürlich ging sie damit ein erhebliches Risiko ein, aber sie hatte diese Chance zu lange herbeigesehnt, um sich davon abschrecken zu lassen.
Der rote Ferrari stand direkt vor dem Ausgang, und Leandros hielt Isobel die Beifahrertür auf. Es war nicht leicht, sich in den engen Sitz zu zwängen, und als sie die Beine anwinkelte, rutschte zwangsläufig ihr Kleid hoch. Als er um das Auto herum gegangen war und auf dem Fahrersitz Platz nahm, musste er allerdings zu seinem Bedauern feststellen, dass sie es inzwischen wieder glatt gestrichen hatte und ihm der Anblick ihrer wundervollen Beine versagt blieb.
Nach dem Vorfall im Treppenhaus war das Knistern, das in der Luft lag, dennoch förmlich greifbar. So kostete es ihn erhebliche Mühe, sich auf den dichten Berufsverkehr zu konzentrieren.
Isobel wagte es kaum, Leandros anzusehen, der am Steuer seines Ferrari saß und die unbändige Kraft des Motors mühelos beherrschte. Seine eigene Kraft im Zaum zu halten, fiel ihm merklich schwerer, und sie bedauerte fast, dass sie ihren Aufbruch nicht verschoben hatten.
Einen Moment war sie versucht, ihm an Ort und Stelle jene Bitte zu erfüllen, die sie noch vor wenigen Stunden entrüstet abgelehnt hatte. Um keinen Verkehrsunfall zu provozieren, versagte sie sich und ihm dieses Vergnügen.
Als er in die Hauptstraße einbog, blendete die tief stehende Sonne sie so sehr, dass Isobel den Arm hob, um die Sonnenblende herunterzuklappen. Ehe sie dazu kam, nahm Leandros ihre Hand. Als er die Innenfläche küsste, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Die Berührung seiner Lippen erregte sie mehr, als sie sich eingestehen mochte. Selbst wenn er sie auf seinen Schoß gezogen und in sie eingedrungen wäre, hätte ihr Körper nicht heftiger reagieren können.
Der Zufall wollte es, dass in diesem Moment vor ihnen eine Ampel auf Rot sprang. Noch bevor der Wagen zum Stillstand gekommen war, sah Leandros sie an und betrachtete schweigend ihr Gesicht, ehe er den Blick tiefer gleiten ließ. Unwillkürlich sah Isobel an sich hinab. Das Kleid war zwar nicht sonderlich lang, aber bei weitem nicht so gewagt wie die Miniröcke, die sie vor drei Jahren getragen und für die sie sich manch missbilligenden Blick von ihm eingehandelt hatte.
Jetzt sagten seine Augen etwas völlig anderes, und so hatte es auch gänzlich andere Gründe, dass sie sich wie damals nackt fühlte. “Sieh mich nicht so an”, sagte sie verlegen. Damit er nicht merkte, was sie empfand, presste sie die Beine zusammen.
“Warum nicht?” Sein Tonfall wie sein Gesichtsausdruck machten unmissverständlich klar, dass Leandros genau wusste, wie es um sie stand.
Weil ich für nichts garantieren kann, wenn du nicht damit aufhörst, wollte sie erwidern, als unvermittelt der Motor aufheulte. Die Ampel war auf Grün gesprungen, und Leandros musste sich wieder aufs Fahren konzentrieren.
Zunächst wusste Isobel nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert war. Schließlich beschloss sie, es Leandros nachzutun und stur geradeaus zu sehen. Was leichter gesagt als getan war, wenn sie nur die Hand ausstrecken und ihn zu berühren brauchte, um eine Lawine auszulösen, die nichts und niemand aufhalten könnte.
Nach qualvollen Minuten der Untätigkeit erreichten sie die Vororte, wo die Bebauung weniger dicht und die Straße steiler wurde. Endlich geriet auch der Saronische Golf, der in der Nachmittagssonne funkelte, in ihr Blickfeld.
Je weiter sie den Lykavittos hinauffuhren, desto prächtiger wurden die Gärten, in denen die Villen der Superreichen standen. Auf halber Höhe stand das Haus von Leandros’ Mutter, und vor einer scharfen Kehre lag die Einfahrt zum Anwesen seines Onkels Theron Herakleides. Seit dem Tod seines Sohnes und dessen Frau teilte er die riesige Villa mit seiner Enkelin Eve.
Eve war wohl der einzige Mensch, der sie so akzeptiert hatte, wie sie war – was sicher daran lag, dass sie genauso alt war und britisches Blut in ihren Adern floss, denn ihre Mutter war Engländerin gewesen.
“Eve ist inzwischen verheiratet.” Leandros hatte ihre Gedanken offenbar erneut erraten.
“Das ist nicht dein Ernst”, erwiderte Isobel überrascht. Dass sich Therons ebenso verwöhnte wie eigensinnige Enkelin gebunden haben sollte, schien ihr ziemlich abwegig. “Wer ist denn der bedauernswerte Kerl, der den Wildfang bändigen muss?”
“Ein Engländer namens Ethan Hayes”, teilte Leandros ihr mit. “Theron war über ihre Wahl ganz und gar nicht begeistert, wie du dir sicher vorstellen kannst.”
Das konnte sie, denn Theron hatte mehrfach versucht, seine bildschöne Enkelin mit einem Sprössling der vielen einflussreichen griechischen Familien zu verkuppeln, zu denen er private wie geschäftliche Kontakte unterhielt. Doch Eve hatte sich von jeher mit beeindruckender Hartnäckigkeit geweigert, die Erwartungen zu erfüllen, die an sie gestellt wurden. Insofern war sie ihr nicht nur eine Freundin gewesen, sondern in mancher Hinsicht auch ein Vorbild.
Es konnte kein Zufall sein, dass es ihr ausgerechnet in jenem Moment einfiel, in dem sie in die Auffahrt zu Leandros’ Villa einbogen. Obwohl sie wesentlich kleiner und bescheidener als sein Elternhaus war, konnte sie den Reichtum ihres Besitzers nicht verbergen.
Leandros hatte sie gleich nach der Hochzeit gekauft – und damit seine Mutter Thea vor den Kopf gestoßen. Sie war ein Familienmensch, und dass ihr ältester Sohn auszog, hatte für sie den Bruch mit sämtlichen Traditionen bedeutet, die ihr heilig waren. Die Schuldige hatte sie schnell in ihrer Schwiegertochter ausgemacht, denn wer außer der schamlosen Engländerin sollte Leandros sonst veranlasst haben, seine Familie im Stich zu lassen?
Probleme hatte es also vom ersten Tag an genug gegeben, und im Lauf der Zeit waren sie nicht weniger geworden. Warum, zum Teufel, bin ich dann hier?, fragte sich Isobel, als der Ferrari vor dem Eingang zur Villa hielt und Leandros den Motor abstellte.
Ein Zuhause war der elegante, zweistöckige Bau für sie nie gewesen – eher ein Ort, an dem Leandros und sie sich in immer kürzeren Abständen streiten konnten, ohne dass seine Familie jedes Wort mithörte. Umso abwegiger war die Hoffnung, dass sich hier eine Ehe retten ließ, die vor drei Jahren gescheitert war – und das aus gutem Grund.
Leandros hatte den Motor längst abgestellt, aber noch konnte er sich nicht entschließen auszusteigen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, Isobel hierher zu bringen, dachte er, als er ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck sah. Zu viele und vor allem zu schlechte Erinnerungen waren mit dem Haus verbunden, das er einst in der Absicht gekauft hatte, ihnen ein Zuhause zu schaffen. Das war es allerdings nie gewesen.
Nach seiner Rückkehr aus London hatte er sich Hals über Kopf in seine Arbeit gestürzt und nicht gemerkt, wie sehr er Isobel vernachlässigte. Irgendwann begann sie, eigene Wege zu gehen. Stundenlang streifte sie mit ihrem Fotoapparat durch die Stadt.
Da sie eine Frühaufsteherin war, musste er immer öfter allein frühstücken, und wenn er mitten in der Nacht aus dem Büro kam, schlief sie meistens schon tief und fest. Wenn er sich dann zu ihr ins Bett legte, weckte er sie manchmal – sei es aus Versehen, sei es mit bestimmten Hintergedanken. Doch die waren ihm zunehmend vergangen, weil sie ihm jedes Mal eine fürchterliche Szene gemacht hatte.
Sie war schon immer sehr dickköpfig gewesen. Er hingegen war blind gewesen, weil er nicht gemerkt hatte, dass sie vor allem eines war: einsam.
Nun hatte ihnen das Schicksal die Chance für einen Neuanfang beschert, und er war fest entschlossen, sie zu nutzen. Mit diesem hoffnungsvollen Gedanken stieg Leandros aus und ging ums Auto herum, um Isobel die Beifahrertür zu öffnen.
Als sie aufstand, kam er erneut in den Genuss des Anblicks ihrer faszinierenden Beine, bis sie schließlich vor ihm stand und ihr Kleid glatt strich. Da erst fiel ihm auf, wie sehr es dem glich, das Diantha an Bord seiner Yacht getragen hatte – und zwar an jenem Tag, an dem er beschlossen hatte, sich von Isobel scheiden zu lassen.
Obwohl seither kaum zwei Wochen vergangen waren, schien ihm mittlerweile nichts abwegiger, als sich von dieser unvergleichlich schönen und begehrenswerten Frau jemals zu trennen. Der Gedanke lag nahe, ein Zeichen zu setzen und Isobel über die Schwelle zu tragen. Doch ehe Leandros sich dazu entschließen konnte, bemerkte er ein Auto, das im Schatten einer Palme abgestellt war.
Isobel hatte es offenbar noch nicht gesehen, und damit es dabei blieb, zog er sie an sich und küsste sie auf die Stirn. Ihm war klar, dass er dadurch nur wenig Zeit gewann. Aber jede Sekunde war kostbar, weil er sich dringend eine Antwort auf die Frage überlegen musste, die sie ihm stellen würde – falls sie ihn überhaupt zu Wort kommen lassen würde.
Es gab keine Antwort, gestand er sich ernüchtert ein, als er Isobel schließlich ins Haus führte. Jedenfalls keine, die sie überzeugen würde.